Das Leben ist eine Linie. So wird es uns präsentiert. Wir werden geboren, zurechtgezogen, amüsieren uns, treten in die Arbeitswelt ein, gründen eine Familie oder zwei, bekommen, wenn wir Glück haben, Rente und sterben, wenn wir Pech haben, in einer Alterseinrichtung, in der uns niemand besuchen darf. Nach A folgt B folgt C. So haben wir es gelernt. Hierauf können wir uns verlassen. Hier wird uns nicht plötzlich ein X oder ein U dazwischenfunken, wenn es nicht an der Reihe ist.
Auch in unserer biologischen Entwicklung geht es linear zu. Obwohl beim genaueren Hinsehen die Linie verschlungen ist und bisher niemand die Lücken unserer Evolutionsgeschichte füllen konnte, sieht es auf unseren Lehrtafeln so aus, als würden wir uns in regelmäßigen Abständen ordentlich aufrichten: Australopithecus, Homo habilis, Homo erectus, Homo sapiens. Entsprechend glauben wir auch an den Fortschritt. Früher waren wir Affen: primitiv, schmutzig, ungeschickt, blutrünstig, abergläubisch, dumm. Heute sind wir Menschen: zivilisiert, sauber, vernünftig, intelligent. Nur das mit dem friedlichen Zusammenleben klappt noch nicht so gut. Doch unser Fortschritt wird schon bringen, was wir brauchen. Die Maschine wird es richten. Darauf wollen wir uns verlassen.
Immer weiter geht es geradeaus, immer höher hinaus. Immer breiter werden die Autobahnen. Abfahrten gibt es nur an bestimmten Punkten und Raststätten, dort, wo multinationale Unternehmen etwas zu verkaufen haben. Wehe dem, der den Verkehr behindert! Wollen wir denn den Fortschritt bremsen und Arbeitsplätze gefährden? Immer schneller geht es auf das Ziel zu: Wohlstand! Vergnügen! Sicherheit! Immer weiter rasen wir in unseren Blasen durch den Informationsdschungel, dorthin, wo es am grellsten blinkt und am lautesten verkündet.
Quadratisch. Praktisch. Nicht gut.
Während das Gestrüpp der Gesetze, Bestimmungen, Dekrete und Verordnungen immer verworrener und undurchdringlicher wird und in unseren Köpfen immer mehr Chaos entsteht, geht der Trend in Richtung Einfalt. Nicht nur in unserem „zweiten Gehirn“, unserem Darm, quillt buchstäblich ein grauer Einheitsbrei, der uns immer empfindlicher für Krankheiten macht. Auch in unserem ersten Hirn ist die bunte Vielfalt längst durch farblose Einheitsmeinung ersetzt worden.
In allen Lebensbereichen treiben wir es auf die Spitze: der größte Star, der beste Fußballer, der seriöseste Wissenschaftler, der einzige Virologe. Wo wir auch hinblicken: Allerorten huldigen wir der geraden Linie und dem rechten Winkel. Das spiegelt sich auch in unseren Gebäuden wider. Zwar gibt es seit der Wende zum 20. Jahrhundert verschiedene Ansätze für eine organische Architektur, die sich um Harmonie zwischen Konstruktion und Landschaft bemüht. Doch wenn wir uns ein wenig umschauen, dann sehen wir nur wenige natürliche Formen und geschwungene Linien.
Bei den Bauten, die wir seit dem letzten Krieg aus dem Boden stampfen, herrscht überwiegend militärische Ordnung.
Die Landschaften aus Stahl, Beton, Blech und Plastik hinterlassen in mir ein schales Gefühl von Tristesse, Leere und Verwunderung: Wie kommt es, dass wir es nicht hinbekommen, mit den Mitteln, die uns heute zur Verfügung stehen, ästhetisch und fantasievoll bauen? Oder findet irgendjemand die Einkaufskomplexe, Supermärkte, Industrieanlagen, Hochhäuser, Wohnburgen, Schul- und Bürogebäude schön?
Der Kult des Hässlichen
Wie ist es möglich, dass die Menschen, die wir im Gegensatz zu uns als unterentwickelt erachten, es fertiggebrachten, Pyramiden zu bauen, die bis heute halten, während unsere Bauten — abgesehen von den Kriegsbunkern — schon nach ein paar Jahrzehnten anfangen auseinanderzufallen? Wie kommt es, dass die römischen Aquädukte ohne Mörtel heute noch stehen, die romanischen Kirchen, die gotischen Kathedralen, die Burgen und Schlösser und Fachwerkhäuser, die wir so gerne besichtigten, als wir noch reisen konnten? Warum bekommen wir es nicht hin, Erhabenes und Poetisches zu bauen, an dem sich die Menschen auch in ein paar Jahrhunderten noch erfreuen?
Warum schaffen es einfache Leute, aus eigener Initiative und mit wenigen Mitteln Paläste zu bauen, die uns zum Träumen bringen wie etwa der französische Postbote Ferdinand Cheval vor mehr als einem Jahrhundert mit seinem „Palais idéal“ (1)? Warum ist so wenig Leben in dem, was die Allgemeinheit heute fabriziert, so wenig Fantasie, so wenig Persönlichkeit, so wenig Schönheit? Bauen wir absichtlich so banal und so hässlich? Ist es gewollt, dass wir das Einzigartige und Besondere vergessen, damit wir, anstatt unsere eigene Vorstellungskraft zu bemühen, am laufenden Band Produziertes konsumieren?
Gefangener Zeitgeist
Wir müssen mit der Zeit gehen. Das sagte man mir, als ich in einem Anfall von Orientierungslosigkeit nach dem Abitur, weil ich mich für Architektur interessierte, eine Ausbildung zur Bauzeichnerin machte. Natürlich: Auch in der heutigen Zeit entstehen großartige Gebäude — doch warum so selten? Am Geld liegt es nicht. Die Architekten des katalanischen Modernisme um Antoni Gaudi zum Beispiel hatten oft nur wenig Mittel zur Verfügung und benutzten auch aus diesem Grunde die preislich günstigere Keramik für die wunderschönen Mosaike, für die wir nach Barcelona pilgern. Auch das Buch „Lehmarchitektur heute“ von Dominique Gauzin-Müller, das ich übersetzen durfte, zeigt, wie viele Möglichkeiten es gibt, für wenig Geld fantasievoll, ästhetisch und umweltfreundlich zu bauen.
Warum also ist unsere Welt so eckig? Die Erde ist doch rund. Warum dominiert die scharfe Kante, der kalte Stahlbeton, der raue Asphalt? In der Natur herrschen doch weiche, geschwungene Formen vor. Warum gibt es so wenig schöne Farben? Warum ist auch unsere Kunst so sinnentleert und banal geworden? Wo ist das Hohe, Würdevolle, Edle? Ist seine Ausrottung der Fortschritt, auf den wir so stolz sind und den wir mit Zähnen und Klauen verteidigen, wenn ihn jemand infrage stellt?
Zwischen Kontrolle und Fantasie
Unsere Vorfahren und die wenigen matriarchal orientierten Naturvölker, die es heute noch gibt, bauen rund: Iglus, Tipis, Rundhütten, ... In der Struktur des Kreises gibt es eine Mitte. Alle können nicht nur diese Mitte sehen. Alle können alle sehen. Niemand kann sich verstecken. Nur schwer kann sich hier die Lüge halten. Auch Überheblichkeit, Aggressivität und Gewalt können sich in der Form des Kreises schnell auflösen. Wir sehen einander an und sagen uns, was los ist. Niemand steht hinter oder über uns. Wir sind auf Augenhöhe miteinander verbunden. Auch Manipulation, Propaganda und Zensur sind in dieser Struktur schwierig, so wie alles, was uns auseinanderbringt.
Während uns die runden Formen an die Harmonie und die Schönheit des Lebendigen erinnern, an das Gleichgewicht, in das alles natürlicherweise immer wieder zurückfällt, wenn wir es nicht daran hindern, machen eckige Formen die Begegnung schwer.
In der Form eckiger Pyramiden herrscht Intransparenz. Die Unteren sehen nicht, was die Oberen machen. Nur wer an der Spitze steht, sieht alles. So fördert der rechte Winkel die hierarchische Ordnung, die Überwachung, den Gleichschritt. In einer kreisförmig konstruierten Gesellschaftsform sind totalitäre und faschistische Systeme nicht möglich. Die geschwungene Linie entzieht sich der Kontrolle. Kein Wunder, dass wir sie in unserer Welt so wenig finden.
Vorbild Hundertwasser
Eigentlich ist es ganz einfach: Wir müssen nur einen Stift in die Hand nehmen und Kurven zeichnen, um eine andere Welt zu schaffen. Leicht und weich gleitet die Hand über die Oberfläche — nichts hakt, alles fließt: Wellen entstehen, Spiralen, Ovale. Lianen schwingen sich von Bäumen, Blumen erblühen, Schnecken ziehen gemächlich ihrer Wege. Stress löst sich auf, gute Laune kommt hoch. Noch besser funktioniert es, wenn wir die alten Buntstifte hervorkramen oder die Tusche und Farbe in unsere Landschaft bringen. Dann vergessen wir glatt für einen Moment, wie grau unsere Welt geworden ist, wie hart und freudlos.
Machen wir weiter. Pflegen wir die runden und weichen Formen in unserem Leben. Lösen wir die militärischen Ordnungen auf, beleben wir die toten Ecken und steifen Geraden. Leben ist Schwingung, kein zackiger Marsch! Bauen wir Hobbithäuser! Bemalen wir unsere Wände, Türen und Fassaden! Es war ein Leser, der mich an die „Nacktrede“ des österreichischen Künstlers Friedensreich Hundertwasser (1928 bis 2000) erinnerte, den berühmten Gegner der geraden Linie, die zum Untergang der Menschheit führe (2).
Von kalter KZ-Architektur spricht er, von Konformität, Wohnboxen und schachtelartigen Räumen, Straßen, in denen alles gleich aussieht, und Dingen, die alle gleich sind. Ganz einfach sei es, dies aufzulösen: „Man braucht diese Architektur ja nicht zu benutzen, man braucht da nicht hineinzugehen. Man ruft an und sagt, in dieses Haus gehe ich nicht hinein, der Herr soll herauskommen, und wir treffen uns lieber in einem barocken Pavillon oder unter einem Baum.“
Der Künstler fordert uns auf, Unikate zu schaffen, eine natur- und menschengerechte Architektur. Hundertwassers Engagement galt der Wiederherstellung der natürlichen Kreisläufe, dem Schutz des Wassers und dem Übergang in eine abfallfreie Gesellschaft. Seine Bauten zeugen von seinem Einsatz für Vielfalt anstelle von Monotonie, für Romantik, für das Organische und für unreglementierte Unregelmäßigkeiten, für Spontanvegetation und für ein Leben in Harmonie mit der Natur. Hiervon zeugen seine Entwürfe und Realisierungen für Spiralhäuser, Terrassenhäuser, Hochwiesenhäuser, grüne, unsichtbare und unhörbare Autobahnen und begrünte Tankstellen.
An die Pinsel!
Doch bevor wir unsere Stadtbilder mit einer neuen Architektur nachhaltig verändern, können wir selbst zur Tat schreiten. Jetzt. „Ich garantiere Ihnen, ich kann das Stadtbild von München in binnen fünf Stunden verwandeln, aber so, dass man es nicht wiedererkennt“, so versprach es Hundertwasser.
„Es braucht nur jeder Mensch mit Bewusstsein sich aus dem Fenster zu beugen und irgendetwas zu tun, irgendetwas. Es braucht nur ein Mann mit einem fünfzehn Meter langen Hut durch so eine hässliche Gasse zu gehen, und sofort wird die Architektur für die Zeit verändert, die er braucht, um durch diese Gasse zu gehen. Es braucht nur ein umgestaltetes Auto — mit einem Aufbau oder einer schönen Fahne — durch diese Serienfabrikate zu fahren, und, so lange das Auto hindurchfährt, ist die Architektur verändert. Das ist der Beweis dafür. Ein einziger Mensch kann eine Architektur durch seine alleinige Anwesenheit verändern. Umso mehr wird das Stadtbild verändert, wenn das jeder tut.“
Ans Werk also! Wo der Karneval in diesem Jahr ausgefallen ist, nehmen wir uns das ganze Jahr über Narrenfreiheit. Es muss kein fünfzehn Meter langer Hut sein. Es reichen rote Nasen und vielleicht ein T-Shirt aus dem Rubikon-Shop (3) oder von der Aktion des Philosophen Gunnar Kaiser: „Ich mach da nicht mit!“ (4).
So ausgestattet zeigen wir Präsenz und bringen Farbe und Form in unsere Welt. Modellieren wir. Nehmen wir ein Stück Ton in die Hand und spüren wir unsere schöpferische Kraft. Bemalen wir, was uns in die Finger kommt. Machen wir es einfach. Zeigen wir: Hier wohnt ein Mensch. Hier ist ein anderes Leben möglich.
Hier können Sie das Buch bestellen: als Taschenbuch oder E-Book.
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.facteurcheval.com/
(2) https://hundertwasser.com/
(3) https://harlekinshop.com/pages/rubikonmagazin
(4) https://gunnarkaiser.com/