Klima, Kriege, Weltuntergang — es geht heiß her um die Themen, die uns bewegen. An allen Fronten werden Schlachten ausgefochten: in der Politik, auf der Straße, am Küchentisch. In Kampfesstimmung stehen wir einander gegenüber und schießen mit scharfem Geschütz. Wie Kanonenkugeln fliegen uns unsere Worte um die Ohren. Jeder fordert sein Recht ein, sich über die Meinung des anderen aufregen zu dürfen.
Währenddessen reiben sich diejenigen die Hände, die die Geschicke dieser Welt lenken. Wenn zwei sich streiten, kann der Dritte unbehelligt seine Geschäfte durchdrücken. Es liegt in seinem Interesse, Verwirrung zu stiften, Tatsachen und Worte zu verdrehen und Fake und Wahrheit so geschickt miteinander zu verweben, dass keiner mehr weiß, was stimmt und wo links und rechts liegen. So wird möglich, dass Präsidenten, die den Friedensnobelpreis bekommen, Kriege führen und dass Friedensaktivisten und Umweltschützer bedroht, verfolgt und ermordet werden.
Immer tiefer werden die Gräben ausgehoben, die uns voneinander trennen. Wir werfen uns gegenseitig Verschwörungstheorien vor und beschimpfen uns abwechselnd als Klimaleugner, Impfgegner, Chemtrail-Seher, Esoteriker, Antidemokraten, Antisemiten oder Nazis. So gibt es über die globalen Probleme keinen Konsens. Jeder braut sein eigenes Süppchen, überzeugt davon, über die richtigen Zutaten zu verfügen.
Ich sehe was, was du nicht siehst
In einem Schöpfungsmythos des Sufismus heißt es, die Wahrheit sei wie ein in unzählige Teile zerbrochener Spiegel. Jeder Mensch hält eine Scherbe davon in der Hand. Das macht aktuell über siebeneinhalb Milliarden Scherben Wahrheit. Denn jeder nimmt sich selbst und seine Umwelt auf eine Weise wahr, die ihn von allen anderen unterscheidet. Jeder von uns sieht anders, hört anders, fühlt anders, denkt anders, glaubt anders.
Diese Verschiedenartigkeit macht unseren Reichtum aus. Jeder von uns ist besonders. So sind wir gleichzeitig einzigartig und miteinander vereint. Anstatt uns gegenseitig unsere Ansichten vor die Füße zu pfeffern, könnten wir also unsere Wahrheit nehmen, so wie ein Kind einen kostbaren Käfer in die Hand nimmt, den es gefunden hat. Anstatt darauf zu schlagen und das Kostbare zu plätten, könnten wir die Wahrheit des anderen betrachten wie ein possierliches Tierchen: Ach, so siehst du das?
Das würde voraussetzen, dass wir uns die Mühe machen, unsere eigene Wahrheit zu erforschen. Nicht die, die man uns vorgibt, die der Partei, der Medien, der Werbekampagnen, der Freunde, der Familie. Nicht die, die man im Clan oder im Club schon immer hat, sondern unsere ganz eigene, persönliche Wahrheit, wie es sie kein zweites Mal gibt. Dabei ist es ganz unwichtig, wie diese Wahrheit gestern war oder morgen sein wird. Entscheidend ist allein, wie sie jetzt, in diesem Moment ist, in dem wir uns damit beschäftigen.
Eigene Wahrheitsfindung
Meine Wahrheitsscherbe hat keine scharfen Kanten. Sie fühlt sich rund an. An ihr ist nichts widersprüchlich, nur komplementär. Alles fügt sich in ihr zusammen wie ein harmonierendes Mosaik. Meine Wahrheit schließt nichts aus und alles ein. In ihr ist nichts Spaltendes, Trennendes, Auseinanderreißendes. Wenn ich sie in die Sonne halte, dann fließt das Licht ungehindert durch sie hindurch. Sie ist wie ein klarer Kristall, der sich aus unzähligen Facetten zusammensetzt.
Ich finde meine Wahrheit nicht im Lärm des Alltags, im Stress der Anforderungen, im Ringen nach Bestätigung oder in stumpfer Ablenkung. Sie bleibt mir verschlossen, wenn ich in mir verkantet bin, stur und dicht. Wenn ich auf meinen Prinzipien herumreite und mich an alte Überzeugungen klammere — dann kann ich sie nicht sehen. Meine Wahrheit ist kein betonschwerer Klumpen aus Argumenten und Statements. Sie ist leicht wie eine Feder und schwingt in feinen und subtilen Tönen.
Meine Wahrheit offenbart sich mir, wenn ich in den Spiegel schaue.
Wen sehe ich da? Wie sieht diese Person aus? Wie verhält sie sich? Hat sie entspannte Züge? Strahlt aus ihr die Suche nach Frieden und Liebe? Oder ist sie verkniffen, frustriert, wütend? Ich für mich weiß: Wenn mir in meinem Spiegel jemand Dunkles, Verhärtetes entgegenstarrt, dann bin ich fern von meiner Wahrheit. Ich kann sie nur dann sehen, wenn ich mich entspanne und öffne.
Erst wenn ich bei mir bin und meine Bedürfnisse und Wünsche respektiere, wenn mein Denken, meine Worte und mein Handeln im Einklang sind, wenn ich ganz ehrlich bin, wenn ich mich nicht in Beschäftigungen verliere, die mir nicht entsprechen, wenn ich meinen Verstand mit meinem Herzen verbinde, dann zeigt sich mir meine ganz eigene Wahrheit. Dann kann ich hinausgehen in den Sturm der gegensätzlichen Informationen.
Den Fehdehandschuh umkrempeln
Mit meiner Scherbe in der Hand frage ich mich, was eine Information mit mir macht. Ist sie darauf angelegt, mich in Angst zu versetzen? Unterstützt sie das Trennende, Spaltende, Diabolische? Sind einseitige finanzielle Interessen daran geknüpft? Nützt sie allen oder begünstigt sie einige wenige? Ist es so, dann weiß ich für mich, dass sich eine Lüge in ihr versteckt, auch wenn sie noch so laut daherkommt und sich noch so glänzend präsentiert.
Das ist für mich der Moment auszusteigen. Ich gehe in die entgegengesetzte Richtung. Dort wo Angst, Hetze und Profit sind, da ist meine Wahrheit nicht. Meine Wahrheit ist leise, verbindend und poetisch. Sie jagt nicht nach Einfluss und materiellem Gewinn. Sie will nicht Recht haben, überzeugen oder manipulieren. Sie will nur von mir gelebt werden und damit vielleicht andere inspirieren.
Wenn ich mutig bin, nehme ich den Fehdehandschuh vor meinen Füßen auf. Nicht, um ihn dem anderen um die Ohren zu schlagen und mit meinen lanzenscharfen Argumenten zu vernichten, sondern um den Handschuh umzukrempeln. So kommt das Innere nach außen und das Äußere nach innen. Und dann kann es sein, dass sich mir etwas ganz anderes offenbart als das, was ich bisher glaubte und verteidigte. Ich brauche dann nur noch den Mut, das mir und anderen einzugestehen.