Wir Menschen sind komplexe und verletzliche Wesen. Bei Babys sehen wir das noch und begegnen ihnen liebevoll und zärtlich, bei Erwachsenen jedoch vergessen wir es schnell und verhalten uns oft kalt und rational, häufig ebenso uns selbst gegenüber. Wie viel Schmerz und Verletzungen kann ein Mensch in sich tragen, ohne es zu merken?
Wir brauchen Beziehungen, um uns in dieser oft harten, unterkühlten Welt sicherer zu fühlen. Was macht eine Beziehung aus, die uns ein Gefühl der Geborgenheit schenkt? Fühlen sich nicht viele von uns sogar inmitten ihrer Liebsten oft einsam? Kennen nicht viele Menschen nur allzu gut das Phänomen der Schutzpanzer, die wir uns im Laufe der Jahre zugelegt haben? Und wie ratlos fühlen sich ebenso viele von uns gerade jetzt, wo die Meinungen zu den Maßnahmen der Regierungen weit auseinanderdriften und Freundschaften und Familien entzweien?
Im Rubikon-Interview mit Friederike de Bruin erklärt die Bindungstherapeutin Brigitte Hannig, dass es die Bindung ist, die eine stärkende, unterstützende Beziehung ausmacht. Und dass eine Bindung zwischen zwei Menschen erst entstehen kann, wenn zuvor jeder sich selbst wahrnimmt und so auch mit sich selbst verbunden ist. Genau dies scheint bei vielen Menschen aber nicht mehr möglich zu sein.
Wer nimmt sich in der modernen, hektischen Konsumgesellschaft schon die Zeit, sich selbst zu fühlen, seine eigenen Gefühle und Ängste wahrzunehmen? Seit der Corona-„Pandemie“ vielleicht mehr Menschen als zuvor? Immerhin spricht inzwischen auch der Historiker und Friedensforscher Dr. Daniele Ganser in seinen Vorträgen neben Kriegslügen und Achtsamkeit ebenfalls über die Ängste, die durch das aktuelle Weltgeschehen ausgelöst werden und mit denen jeder von uns in irgendeiner Weise konfrontiert ist:
- die Angst vor dem Virus,
- die Angst vor Armut,
- die Angst vor der Diktatur.
Brigitte Hannig ist Bindungspädagogin, Autorin und Herausgeberin der „Bindungspädagogischen Impulse“ und in eigener Beratungspraxis tätig. Als Bindungstherapeutin wendete sie das Wissen um diese Ängste in ihrer therapeutischen Arbeit an und stieß bei ihren Gesprächen mit Betroffenen auf zwei weitere wesentliche Ängste:
- die Angst vor Ausgrenzung,
- die Angst vor Täuschung.
Auch diese letzten beiden Ängste fühlen sich für die menschliche Psyche katastrophal und lebensbedrohlich an. Alle diese Ängste lassen das bisher Vertraute auf einmal verschwinden und das zerbrechliche Wesen im Inneren des Menschen nackt und schutzlos in einer kalten, unbekannten Welt dastehen, in der es auf nichts mehr vertrauen kann. Aus Angst wird Angriff — das erklärt die Aggressivität vieler Mitmenschen, wenn sie mit einer Meinung konfrontiert werden, die ihrem Weltbild widerspricht.
Friederike de Bruin fragt die Bindungsspezialistin, wie wir in Konfliktsituationen am besten mit den Gefühlen und der Aggressivität anderer umgehen können. Die überraschende und erfreuliche Botschaft von Brigitte Hannig lautet: Wer sich darauf einlässt, hat gerade in der aktuellen Gesellschaftskrise ungeheure Entwicklungsmöglichkeiten.
Am Ende sitzen wir alle im selben Boot: Wir haben Angst. Die Frage ist: Wie wollen wir damit umgehen? So tun, als gäbe es sie nicht, oder herausfinden, wovor genau wir selbst Angst haben, anstatt uns über andere zu mokieren oder zu entrüsten, die dasselbe tun?
Durchbrechen wir den Teufelskreis aus gegenseitigen Vorwürfen und Anschuldigungen und kultivieren wir endlich wirkliche Bindungen, die keine Manipulation oder Herrschaftstechnik so schnell brechen kann.
Im Rubikon-Interview führt Brigitte Hannig aus, wie uns das gelingen kann. Statt einer Revolution ist es vielleicht an der Zeit für eine Evolution? Für eine Entwicklung von entfremdeten Individuen hin zu einer wirklich miteinander verbundenen Menschheitsfamilie, wie auch Daniele Ganser sie in seinen Vorträgen und Büchern beschreibt.
„Wir Menschen sind Bindungswesen. Unsere Bindungserfahrungen prägen vom ersten bis zum letzten Tag in allen Phasen des Lebens unser Denken, unser Fühlen, unser Handeln, unser Sein. Nur in Bindung können wir unser Potenzial entfalten“ (1).
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Quellen und Anmerkungen: