Deutschland geht es schlechter. Das sieht nun wirklich jeder , nur nicht unsere Kanzlerin und die Abgeordneten mit ihren hohen Diäten.
Allgemeinplatz ist dennoch, dass Deutschland eins der besten Sozialsysteme der Welt habe und hier niemand hungern müsse. Wer etwas anderes behauptet, macht sich verdächtig, das Leid in anderen Ländern zu verharmlosen. „Wir jammern auf hohem Niveau“, heißt es dann oder: „Woanders gibt es schließlich überhaupt kein Sozialsystem!“.
Auch einem Jens Spahn leuchtet deshalb die Logik ein, dass Etwas schließlich besser als gar nichts sei. Und insofern wäre Hartz IV auch eine Antwort auf Armut und nicht deren Ursache. Wer sich heute mit Hartz IV arm fühlt, der ist eben nur relativ arm und im Vergleich zu Indien oder Afrika noch immer steinreich.
Auch für den fleißigen Steuerzahler, der oft noch mickriger abgespeist wird als ein Hartz-IV-Bezieher und sein hart erarbeitetes Geld in den Steuerrachen fließen sieht, ist die Forderung nach höheren Hartz-IV-Regelsätzen einfach undankbar und maßlos. Er muss den ganzen Spaß schließlich irgendwie erwirtschaften und kann überhaupt nicht verstehen, warum es nicht möglich sein soll, sich in Hartz IV ein wenig zu bescheiden. Schließlich gibt es die Miete und den Strom noch gratis oben drauf, die Fahrscheine werden subventioniert und wenn man nur will, kann man sich laut selbsternannter Ernährungsexperten auch ausgewogen verköstigen. Pellkartoffeln mit Quark seien schließlich auch vor 50 Jahren schon gesund gewesen (1).
Hartz-IV: mehr Gift als Gabe
Auf den ersten Blick könnte man Hartz IV tatsächlich für eine Sozialleistung halten. Geblendet von der sozialstaatlichen Historie gehen wir jedoch fälschlich davon aus, dass auch Hartz IV noch ein System darstellt, welches in Not Geratene unterstützen soll, und dass die faktisch gezahlten Gelder an die Betroffenen – wenn auch vielleicht etwas zu gering – so doch immerhin eine nicht unbedeutende Hilfe seien.
Von außen unbemerkt, wird der milden Gabe jedoch ein bitteres Gift hinzugemischt. Denn Hartz IV dient nicht etwa dem Wohl des Betroffenen, vielmehr hat dieser dem Gesamtwohl der Wirtschaft zu dienen und bekommt diese Pflicht auch unmissverständlich zu spüren.
War der Ursprunggedanke der Sozialhilfe, die Menschen vor kapitalistischer Ausbeutung zu schützen, ihnen den Rücken für gewerkschaftliches Engagement und den Arbeiterkampf zu stärken, intendiert Hartz IV nun genau das Gegenteil: Ungeachtet des beruflichen Werdegangs, gesteckter Ziele oder vorhandener Potentiale wird von den Betroffenen erwartet, alles zu tun und alles in Kauf zu nehmen, um sich wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Somit ist Hartz IV keine Hilfe für Bedürftige, sondern ein gnadenloser Umschlagplatz von Menschen in einen Niedriglohn- und Leiharbeitsmarkt zugunsten der Wirtschaft.
So erörterte ein Gutachten des Finanzministeriums unverhohlen die Auffassung der Ökonomen: „Wenn die Arbeitslosen massiv auf den Arbeitsmarkt drängen würden, müssten die Löhne so weit sinken, dass sie auch für Geringqualifizierte ein Markt räumendes Niveau erreichten.“ Weitere Spielräume sah das Bundeswirtschaftsministerium darin, „darüber hinausgehende Anreize zur Arbeitsaufnahme (Hinzuverdienstmöglichkeiten) für überflüssig zu erklären.
Das dürfte umso eher gelten, je drastischer die Sanktionen bei Nichtannahme derartiger Arbeitsgelegenheiten ausfallen. Wenn der Arbeitslose in diesem Fall nur noch eine Wohnstelle und Lebensmittelgutscheine erhält, bleibt ihm wohl keine Wahl. Praktisch werden dann alle arbeitsfähigen ALG II-Empfänger auch zur Arbeitsaufnahme bereit sein“ (2).
Das Mittel der Wahl für das hehre Ziel der Arbeitsbereitschaft ist der Entzug der Sozialleistung bei Renitenz. Sanktionen, welche entgegen der landläufigen Meinung nicht nur den kompletten Regelsatz, sondern auch jede Sozialversicherung, Krankenkasse sowie Strom-, Heiz- und Wohnkosten umfassen können.
Nicht umsonst heißt es im obigen Zitat „Wohnstelle“ und nicht etwa „Wohnung“ und ganz offen in einer Kooperationsvereinbarung zwischen Jobcenter und Bezirksamt:
„ALG II Empfangenden, bei denen durch eine eintretende Sanktionierung die Kosten der Unterkunft betroffen sein werden (bzw. als letzte Stufe sogar vollständig versagt werden sollen), sollen vor Eintritt der Sanktion ein Beratungsangebot der sozialen Wohnhilfe erhalten. (…) Ziel ist, den drohenden Verlust der Wohnung (…) durch ein verstärktes sozialpädagogisches Beratungsangebot zu verhindern, (und) die Mitwirkungsbereitschaft wiederherzustellen“ (3).
Erziehung in Merkels marktkonforme Demokratie, das ist die bittere Pille, die jeder schlucken muss, der es wagt auf Muttis gefüllten Suppenlöffel angewiesen zu sein.
Ist das schon das Minimum oder kann das noch weg?
2010 stellte das Bundesverfassungsgericht bezüglich der Berechnung des Hartz-IV-Regelsatzes nebenbei fest, es bestünde ein „Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“, welches grundgesetzlich sowohl aus dem Sozialstaatsgebot als auch der Würde des Menschen abzuleiten sei (4). Doch wer jetzt meint, dass Minimum drin ist, wo Minimum draufsteht, der wird eines Besseren belehrt.
Wer gegen Sanktionen oder sogar den Totalentzug der Sozialleistungen klagt, wird folgendermaßen aufgeklärt: „Die Annahme, eine Absenkung von Leistungen stelle stets einen verfassungswidrigen Eingriff in das Existenzminimum dar, geht von dem irrigen Ansatz aus, die Regelleistung sei bereits das zum Lebensunterhalt Unerlässliche“ (5).
Die Bundesregierung schafft es also auf ganz furiose Weise, neben dem Existenzminimum noch ein Miniminimum aus dem Hut zu zaubern, welches sie dann „letzte Grundversorgung“ nennt. Daraus leitet sie auch ihre Befugnis ab, das Minimum auf ein Miniminimum zu kürzen.
Um die Hungerpeitsche nicht aus der Hand zu geben, beruft man sich immer wieder gerne auf einen Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichtes, dass die Grundsicherung nicht voraussetzungslos zu gewähren sei (6). Munter leitet man daraus ein notwendiges Wohlverhalten des Betroffenen ab. Nur wer die Auflagen erfülle, erhalte die süßen, solidarischen Trauben der Gemeinschaft. Für diese Auslegung hat man den Satz einfach aus seinem Kontext gerissen und fehlinterpretiert. Denn ursprünglich sprach das Bundesverfassungsgericht in Gänze:
„Die Verfassung gebietet nicht die Gewährung von bedarfsunabhängigen, voraussetzungslosen Sozialleistungen. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist es ausreichend, dass das Existenzminimum gedeckt werden kann, ohne dass es auf den Rechtsgrund der Einnahme oder die subjektive Verwendungsabsicht des Hilfebedürftigen ankäme.“
Es meinte damit, dass einzig die Voraussetzung der Bedürftigkeit gegeben sein muss.
Inzwischen liegt dem Bundesverfassungsgericht explizit eine Klage bezüglich der Kürzungspolitik des Sozialgesetztes vor. Das Gothaer Sozialgericht hat eine entsprechende Richtervorlage eingereicht. Sie fußt in wichtigen Teilen auf einem Gutachten, welches der Hartz-IV-Widerstandsaktion des Aktivisten Ralph Boes erwachsen ist (7).
Das Bundesverfassungsgericht hat bereits verlauten lassen, dass das Gothaer Gutachten „gewichtige verfassungsrechtliche Fragen“ stelle und die in Literatur und sozialgerichtlicher Rechtsprechung vertretenen Ansichten zur „verfassungskonformen Auslegung“ der Sanktionsregeln „vertretbar verwerfe“ (8). Ein Urteilsspruch sei dieses Jahr noch zu erwarten (9).
Rechtsstaat oder Recht neben Staat?
Doch selbst wenn das Bundesverfassungsgericht ein vernichtendes Urteil über die geltende Sanktionspraxis fällen sollte, welche Konsequenzen hätte das eigentlich? Das Urteil von 2010, welches die Regierung aufforderte, endlich eine logisch nachvollziehbare Berechnung des Hartz-IV-Regelsatzes vorzulegen, wurde bis dato jedenfalls geflissentlich ignoriert.
Obwohl also schon längst klar ist, dass der Regelsatz unzureichend berechnet und damit mangelhaft und rechtswidrig ist, legt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales weiterhin keine Berechnungsgrundlage vor und verstößt damit eindeutig gegen die Auflage des Bundesverfassungsgerichts.
Die Regierung setzt sich zunehmend über demokratische und rechtsstaatliche Strukturen hinweg. Dies gelte insbesondere für die Gesetzgebung im Steuer- und Sozialrecht, so die aufrüttelnde Kritik des Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichtes Ferdinand Kirchhof (10).
Sowohl die demokratischen Strukturen als auch das Sozialstaatsgebot scheinen nur noch in einem von der Regierung entfernten Paralleluniversum und als brauchbares Deckmäntelchen zu existieren. Auch die Existenz der hochgelobten deutschen Gewaltenteilung darf inzwischen dringend bezweifelt werden (11).
Arm durch Hartz IV
Ist es wirklich Jammern auf hohem Niveau, wenn eine Mutter ihres Kindes mit der Begründung beraubt wird, dass sie finanziell nicht für das Kind sorgen kann, wo es doch der Staat selbst war, der ihr die wirtschaftliche Grundlage dafür entzogen hat? Ist es angenehmer in Deutschland einen Kältetod zu sterben, als in Sibirien, nur weil nebendran die deutsche Wirtschaft blüht? Ist der Suizid eines Jugendlichen in Deutschland aufgrund von Perspektivlosigkeit und Angst vor Amtshandeln weniger beklagenswert, als in Indonesien? Das Leid der Einzelnen ist nicht relativierbar. Es ist nicht Jammern auf hohem Niveau, nur weil nebendran vielleicht die Puppen tanzen.
All dieses Leid wird durch Hartz IV bewusst erzeugt und in Kauf genommen. Als Drohkulisse und Trampelpfad. Denn wo lässt sich die eigene Unzufriedenheit besser abreagieren, als durch Treten und Schimpfen nach unten? Missgunst und Neid überwiegen hoffnungsvolle Solidargefühle. Gewerkschaftsstreiks werden eher als Alltagsstörung denn als politische Maßnahme wahrgenommen. Obwohl dies am Ende allen nur schadet, lässt es sich so wunderbar über die angeblich faulen Hartzer hetzen, dass sich inzwischen die Frage stellt: Warum gibt es überhaupt eine Sozialleistung und nicht viel mehr nichts?
Hartz IV hat Deutschland arm gemacht. Arm an Solidarität, arm an Hoffnung, arm ohne Arbeit und arm trotz Arbeit!
Wir erheben uns!
Es ist nun an uns, dieser Entwicklung Widerstand zu bieten. Und tatsächlich: Widerstand regt sich auf vielen Ebenen, unmittelbar gegen Hartz IV, gegen den sonstigen Abbau des Sozialstaats, gegen die zunehmende Aushöhlung unserer Grundrechte durch Staatstrojaner und vieles mehr.
Der Widerstand wird lauter und er wird bunter, medialer, und damit professioneller in unserer medialen Überreizkultur. Er beschränkt sich nicht mehr darauf, moralinsauer Missstände anzuprangern, sondern er wird spielerischer, mitreißender.
So hat die Hartz-IV-Empfängerin „Sandra“ unlängst über change.org Jens Spahn aufgefordert, selbst einmal einen Monat vom Hartz-IV-Grundregelsatz zu leben und dann mit ihr bei einem Käffchen über seine Aussage, dass Hartz IV keine Armut sei, zu diskutieren. Innerhalb von nur einer Woche hat ihre Petition über 163.000 Unterstützer gefunden und Herr Spahn hat wenigstens einem Treffen zugestimmt (12, 13).
Auch die Künstlergruppe PENG! und das Institut für politische Schönheit treten immer wieder mit aufrüttelnden, gesellschaftskritischen Kunstaktionen in Erscheinung (14).
Der Verein zur Erneuerung der BRD an ihren eigenen Idealen bereitet derzeit eine Kunstaktion am Rosa-Luxemburg-Platz neben der Volksbühne in Berlin vor. Ein Ort von historischer Bedeutung im Sinne der Selbsthilfe und kulturellen Emanzipation der armen Arbeiter-Anwohner, die sich ihr Theater durch ein frühes Crowdfunding selbst finanziert hatten.
Artikel 20, Grundgesetz
(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
(2) 1 Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. 2 Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.
Der Verein wird den Wortlaut des Artikel 20 öffentlich in eine riesige Holzplatte schnitzen. In einer spektakulären Aktion soll die Holz-Stele dann zum Spreeufer getragen werden, wo die ersten 19 Artikel des Grundgesetzes, welche die Menschenrechte umfassen, auf Glas-Stelen zu lesen sind (15).
Es ist symptomatisch, dass am Spreeufer zwar die Grundrechte stehen, ihnen aber jedes Fundament fehlt. Denn erst Artikel 20 des Grundgesetzes ist der Kern unserer Verfassung. Erst dieser Artikel ist so umfänglich, bindet die Grundordnung der BRD an die Menschenrechte an und fordert deren konsequente Einhaltung, dass sie laut Bundeszentrale für politische Bildung sogar unsere „Verfassung im Kleinen“ genannt wird (16, 17).
Es ist an der Zeit, dass wir unsere Politiker daran erinnern, wem sie ihren Job verdanken und zu wessen Wohl sie regieren müssen.
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/tagesgespraech/tg-dreizehnter-maerz-102.html
(2) Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen Mai 2008
(3) http://wohnstreik.blogsport.eu/?p=311
(4) Urteil vom 9. Februar 2010 - 1 BvL 1/09
(5) http://docplayer.org/66155331-Beglaubigte-abschrift-im-namen-des-volkes-urteil.html
(6) Beschluss vom 7. Juli 2010 - 1 BvR 2556/09
(7) http://wir-sind.boes.de/richtervorlage-1.html
(8) https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2016/05/lk20160506_1bvl000715.html
(9) http://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Jahresvorausschau/vs_2018/vorausschau_2018_node.html
(10) Printausgabe Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.Dezember 2017, Nr. 296, Seite 7
(11) http://www.gewaltenteilung.de/
(12) Change.org-Petition
(13) https://www.focus.de/politik/deutschland/150-000-unterschriften-gesammelt-petition-nach-hartz-iv-aussage-initiatorin-sandra-s-trifft-jens-spahn_id_8635794.html
(14) https://www.tagesspiegel.de/politik/wie-das-peng-kollektiv-die-ruestungsindustrie-narrte-echter-waffenhaendler-freut-sich-auf-falschen-friedenspreis/19763002.html
(15) http://tafelrunde.artikel20gg.de/
(16) https://dejure.org/gesetze/GG/20.html
(17) http://www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verhaeltnisse-eine-sozialkunde/138720/die-garantien-des-grundgesetzes