Dieser Beschluss könnte zu einem jener Themen werden, die ins Nichts führende Empörungsdebatten auslösen. Als gewünschter Nebeneffekt würden dann die wirklich wichtigen Ereignisse aus den öffentlichen Gesprächen, den Gedanken und Empfindungen der Menschen herausgedrängt, zum Beispiel die grausame Tötung vieler wehrloser Menschen im Gazastreifen auf ihrem „Marsch der Rückkehr“ oder die immer noch länger werdenden Schlangen vor den Suppenküchen.
Dass die Äußerung Söders, das Kreuz sei kein Zeichen der Religion, in der sich entspinnenden Debatte des Für und Wider zunächst unwidersprochen bleibt, sollte sehr zu denken geben. Zumal Söder vollmundig behauptet: „Das ist kein Verstoß gegen das Neutralitätsgebot. “ (1) So meint er sich auch gleich gegen jede Klage eines Spaßverderbers abgesichert zu haben. Inwiefern sich die Neutralität im Eingangsbereich von derjenigen im Amtszimmer unterscheidet, bleibt unklar. Also ist dem Kreuz nun der Empfangsbereich der Behörden vorbehalten.
Man könnte diese Aktion natürlich jetzt einfach kommentieren: „Jo mei, die Bayern eben.“ Oder man könnte sie ignorieren, denn wer wird die neue Eingangsdekoration schon bewusst wahrnehmen und länger auf sich wirken lassen?
Doch die Frage ist: „Was ist mit den Kirchen los?“ Die katholische Kirche begrüßt den Einzug der Kreuze in den Eingangsbereich öffentlicher Gebäude! Auch wenn oder weil Söder erklärt, das Kreuz sei gar kein Zeichen einer Religion. Wie bitte? Ich sehe förmlich, wie sich da einige Kirchenvertreter freudig die Hände reiben.
Für Joachim Unterländer vom Landeskomitee der bayerischen Katholiken sind Kreuze gelebte Volkskultur. Volkskultur? Wessen Volkskultur? Auch der evangelische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm ist erstaunlicherweise nicht schockiert, sondern mahnt nur an, dass die Botschaft des Kreuzes auch in unseren Herzen ankommen möge. Amen.
Im nächsten Gottesdienst oder der nächsten Messe findet das hohe Amt also unter einem nichtreligiösen Symbol statt, das in seiner gesellschaftlichen Bedeutung auf einer Ebene mit Märchen oder Volksliedern rangiert, eben einem Gut der Volkskultur.
Die Verfechter der Gegenposition bemängeln in der Hauptsache nur, dass Söder mit dieser Aktion Wahlkampf betreibe – nicht aber, dass seine Argumentation ein einziges Paradox, eine Anmaßung, eine Bemächtigung der Deutungshoheit, eine Überschreitung der Grenzen von Kompetenz und Anstand ist.
Kann man Staat und Kirche noch mehr miteinander vermischen, als wenn man ein urreligiöses Symbol so mir nichts dir nichts zu einem im politischen Sinne identitätsstiftenden Symbol umwidmet, ohne dass einer der Betroffenen entsetzt aufschreit?
Allen voran die Kirchen, die anscheinend für einen Platz im Zentrum der Macht auf die Deutungshoheit über dieses ehrwürdige religiöse Symbol verzichten; nicht religiöse Menschen, denen ein sehr wohl religiös geprägtes Symbol aufgedrängt wird; alle Christen, deren Symbol nun zu einem Volksgut mutiert ist; aber eben auch Menschen anderer religiöser Anschauungen, die in Deutschland zu Recht lernen, dass der Koran nichts in der Politik zu suchen hat, während das nichtreligiöse Kreuz jetzt in öffentlichen Verwaltungen seinen sinnstiftenden Platz findet.
Markus Söder sollte allen Genannten einmal plausibel erklären, wie er seine Neudeutungs-Aktion meint. Mit seiner Äußerung hat er – wie das tapfere Schneiderlein mit nur einem Streich – alle Empfindungen und Einstellungen zu Religiosität, Herkunft, Kultur und Geschichte grob verletzt. Eigentlich könnte das jedem egal sein, denn morgen ist die ganze Aktion vermutlich schon wieder vergessen und viele neue Kreuze werden ein unbeachtetes Dasein in fremden Räumen führen. Doch was bleiben wird, ist der Akt der Bemächtigung, und damit ist noch lange nicht Schluss.
Immer wieder werden Begriffe wie Frieden, Solidarität, Sicherheit oder wie aktuell das Kreuz als Symbol religiöser Verankerung ihrer ursprünglichen Bedeutung beraubt und mit einer völlig neuen Bedeutung versehen.
Wir lernen wieder einmal neue neoliberale Vokabeln kennen: „grundlegendes Symbol der kulturellen Identität christlich-abendländischer Prägung“. Was ist das denn überhaupt? Was besagen diese Worte? Wozu dient die von Söder phantasierte „Kreuz-Aussage“? Dient sie dazu, sich in Behörden willkommener oder identitätssicherer oder indoktrinierter zu fühlen?
Ist dann demnächst die Ampel um die Ecke gar kein Verkehrszeichen mehr, sondern eine changierende Lichtinstallation im Zuge einer traditionellen Landschaftsgestaltung des öffentlich-rechtlichen Raums mit optionalem Charakter?
Tja, es kommt wohl darauf an, wer die Be-Deutung dafür festlegt.
Meine 14-jährige Tochter meinte, so typisch unverblümt für dieses Alter:
„Ach, ist Herr Söder jetzt der Gott von Bayern? Ja, dann gehört ihm ja auch das Kreuz.“
Mit Schmunzeln musste ich anerkennen, dass sie in ihrer Beschreibung die Haltung, die die (bayerische) Hoheit einnimmt, ganz gut verstanden und illustriert hat.
Das Symbol des Kreuzes verfügt über viel positive Strahlkraft und aus der Vergangenheit fallen auch viele Schatten darauf, aber eins ist es mit Sicherheit nicht: „grundlegendes Symbol der kulturellen Identität christlich-abendländischer Prägung“ im politisch identitätsstiftenden Sinne. Es bleibt ein urreligiöses Symbol.
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.br.de/nachrichten/ein-kreuz-fuer-jede-staatliche-behoerde-in-bayern-100.html