Einer der Gesprächsteilnehmer bei der fair talk-Runde zum Thema „Vertrauen, Wahrheit, Propaganda“ war der Philosoph und Autor Werner Köhne. Die Runde versuchte, Antworten zu finden auf die Frage, wie die Medienwelt sich verändern müsse, damit eine Gesellschaft sich wieder im Dialog begegnen könne.
Während die Debatte oft um Persönliches kreiste wie „An welchem Punkt haben Sie entschieden, aus dem Mainstream auszuscheiden?“ und „Welche Folgen hatte dieses Ausscheiden?“, wurde Werner Köhne zuweilen ungeduldig: Nicht die Medien, nicht dieser oder jener Bereich, nein, die Medienentwicklung vor allem seit den 1980ern habe dazu geführt, dass etwa die Spiegel-Posse um den Journalisten Claas Relotius vorprogrammiert schien.
Nicht weil Journalisten böse Menschen wären, die das Lügen abonniert haben, vielmehr weil ihre Anfälligkeit für süffige Narrative und ihr Drang zur Spotligth-Beschleunigung und plakativer Effizienz eine Art der Vermittlung von Inhalten erzwingt, die konsequent verkürzt und sich gänzlich an der Oberfläche bewegt — mit dem Ziel der schnellen Befriedigung oberflächlicher Informationsbedürfnisse. Kurz: Story-Telling und schrille Bilder anstatt Wahrheit geben das Muster dieses emotional beschränkten Journalismus vor.
Um dieses allgegenwärtige Story-Telling und damit eine Fassadenkultur, welche die Bedingungen für die Corona-Propaganda erst geschaffen hat, zu überwinden, reicht es nicht aus, einige schöne Wünsche zu formulieren und der Medienwelt kommunikative Grundsätze an die Hand zu geben.
Vielmehr müssten eben genau die Muster offen gelegt werden, die nicht nur den medialen, sondern den zivilisatorischen Supergau herbeigeführt haben und die auch im Widerstand gegen die „Maßnahmen“ nicht selten wirksam sind. Als Kürze, Tempo, Oberfläche. Konkret, so Werner Köhne in der Sendung, sehe er die Überwindung des Story-Tellings in der Poesie beziehungsweise in der Rückgewinnung der Poesie als Sprache des Lebens. Hier eine Auswahl dieser Poesie des Philosophen und Autors Werner Köhne.
Werner Köhne: Gedichte ohne Punkt und Komma
traum-wirklich (nach Walther Benjamins Angelus novus)
Siehst du den Engel noch
mit aufgerissenen Flügeln
im Sturm
Geschichten gehen entzwei
Die Nachricht kühlt die Stirn
der Wehrlosen
Zeit
stiehlt sich von dannen
Und nachts legt niemand sich zu dir
als deiner Feinde Schweiß und Zorn
Schon verweht
ein Augenblick
long time ago
du sahst in dich verdreht
mir zu
In Rausch und Wimmern
ein stürzendes Gitarren-Riff
Der Cut
ließ uns gleiten
In den Vorhof
eines angstlosen Schlafs
das gegen die Bildflut ansurfende Selbst
gespiegelt
auf dem Monitor
in leichtem Sirren
entweicht das geteilte Leben
und schon entrückt dich der digitale Umschlag
der Druck des Fingertiers
erleuchtet die Screen
und all die ausgelebte Welt
ist wieder da
gerastert
in 0 und 1
in feinstem Format
so fern, so fern,
so nah
Aus dem Zyklus Bilder — einst und jetzt
I auf dem Bild von Breughel
die Jäger kehren zurück
unter der Last des Schnees
krümmt sich die Welt
zu Mulde und Wölbung
wie tief ins Bild
der geschichtete Himmel
flieht
die Ahnung
von Frost und Schmerz
II auf dem Foto
meine Eltern
die längst Ausgelebten
in Rohrstühlen sitzend
einander untergehakt
freundlich verschämt
ziehen sie sich zurück
ins Innere des Bildes
ein Raum
wohin niemand
ihnen folgen kann
III Foto-Paintings von Gehard Richter
die Toten der RAF
sehnig ausgestreckt
im Rücken etwas gewölbt
so dass der Kopf nach hinten umknickt
ins Entleibte gleitend
gibt ihnen
nur die Unschärfe
jenes Dasein zurück
in dem sie ruhen können
über dem Acheron sollen sie schweben
und Zeugnis ablegen
von einer verschwundenen
Welt
zu der auch sie einst zählten
erzählen
den Schattenwesen
von einer flüchtigen
in die Flucht treibenden
beschleunigten
und tödlich fixierten
Republik
IV Die Tücke des Film- Stills
auf der Leinwand
eine Schulklasse
mit Tornistern auf den Rücken
in Reih und Glied
marschieren die Zöglinge
Soldaten der Zukunft —
trippelnd eine Straße hinunter
ehe der Film sich unmerklich verlangsamt
bis daraus ein Still wird
ein gefrorenes Bild
die Kinderbeine
kurz vorher noch in schlingernder Bewegung
werden unförmig verdickt
wie die Geschichte in der Stunde Null
Kein Cutter liebt das Warten auf den Freeze
möchte lieber zurück zum Story Telling
druckvoll ertastet im Vor und Zurück
dazwischen lassen sich Schlachten einfügen
denkt der Regisseur
die man dann nicht mehr
aus dem Archiv holen
neu drehen oder kaufen muss
und er
zieht aus der angehaltenen Szene
beides: den Gleichschritt in eine Zukunft
mit tödlichen Folgen
und die Stille
in der selbst die Geschichte schweigt
V auf dem Bildschirm
zuletzt an jenem Nachmittag
der TV-Moderator
der ein Paar
gegeneinander aufhetzt
das sich schon bald
erschöpft hat
und
in plötzlichem Wissen
um ihr Ausgestelltsein
verstummt
als seien es müde Landarbeiter
die von den Feldern kommen
das Publikum aber
auf ein Zeichen des
nie
sichtbaren Animateurs hin
applaudiert im Hintergrund
und einzelne Köpfe
werden von der Kamera
herangezoomt
ohne Grund
Aus dem Zyklus Liebe und Leben — einst
60 years ago
Lokomotiven
noch einmal
aufbellend in der Ferne
kurz vor einer Tunneleinfahrt
der Geruch von Steinen Gräsern Zeit
Meine Liebste
schneidet Wellenblätter
Im Lichtkreis der heißen
der braunen Schwellen
ich kerbe
meine kleinen Ängste
kommt schwarze Mütter
Rachels Kinder
tanzt mit uns
in flimmernder Luft
kommt
und schneidet Wellenblätter
Gelbe Nachtzungen
an einer Stadtausfahrtsstraße
so oft ausgeschritten
die plötzliche Kälte
in seventy one
das feine Geräusch
der Neonröhre
an deinem parfümierten Hals
dann
in der Raststätte
dein Starren
auf Fliesenmuster im WC
dein abgeräumter Blick
im steinernen Netz
du
die tags zuvor noch
durch Himbeersträucher
wildernde M
als die Mücken schwärmten,
die Winde tanzten
Liebe
was für ein Wort
für tödlich Vereintes
unter
deinem Hauch
Splissiges
im Hals
und ich schmecke
das ferne Rinnen
der Zeit
wie du mich umringst
dein Atem voll Wellen
vorletzter Laute
von mir
zu dir
ein wunder Gesang
ohne Ich
eingenichtet
vom Dämmer
dein stummer
herabhängender Tierarm
unerzählbar wie
unser Umkrallen
Schnee möcht ich sein
in deinen letzten Kissen
eine gemesserte Flucht durch dein Hirn
LA Woman
The Music is over
turn on the light
Lizzard King
vor Einsamkeit hüpft noch die Nadel
von Rille zu Rille
der Kühlschrank selbst
trudelt aus
in´s so alone
schon kündigt sich an
das harte
Gesetz
des Verschwindens
des Immer Nimmer
des Jenseits der Menschen
da erfasst den
der dich in der Tür stehen sieht
du einst Geliebte
die in irisierendes Licht gegossen scheint
ein Moment der
Scham
Probiert es mal:
ein Stück Wahr Nehmung aus dem Kerngeschehen der Welt
zum Beispiel ein sich in Pfützen
spiegelndes Gesicht
das Stampfen eines Presslufthammers der
noch jenseits des großen Gerausches
etwas ablässt
von seiner Zerstörwut
sich gar vermählt mit deinem Atem
versucht es mal:
eine Erinnerung zuzulassen,
die nicht anders zu haben ist
als eine Bootsfahrt über den Styx
kaum von Wellen bewegt
der Fluss
ins Reich der Schatten
versucht es mal
in den Augenblick zu gleiten
wie in einem Traum
voll Vergeblichkeit und
— Glück
Im Späten versprengt
An die Peripherie der Stadt
Zu den Seelen stählerner Verlassenheit
Durch Industrieanlagen
führen Feuerzungen
Das Sehnen eng
Eine ferne Lohe
blitzt auf
Von Gras überwucherte Gleise
richten ihre rostigen Augen
auf all die erglühten
Gesichter der Arbeit
die niemand mehr kennt
Quellen und Anmerkungen:
Die vollständigen Gedichtzyklen sind für eine Buchpublikation vorgesehen. Von Werner Köhne ist folgender Titel greifbar: Minima Mortalia, Verlag Sodenkamp & Lenz, 2020, zum Beispiel hier oder in der Buchhandlung vor Ort.