Auszug aus „MAEVA!“. Der Roman ist der zweite Band der Maeva-Trilogie von Dirk C. Fleck und spielt im Jahre 2028. Maeva, eine junge Tahitianerin, ist überall dort, wo Menschen angesichts der globalen Ökokrise ihre Zukunft neu gestalten – oder sie vielleicht für immer verspielen. Sie wird zur Vorsitzenden einer alternativen UNO gewählt. Zu diesem Anlass hält sie die folgende Antrittsrede in der Oper von Sydney.
Die meisten Gäste waren aus der Pause zurückgekehrt und hatten bereits wieder Platz genommen. Steve fragte sich, wieso das Rednerpult in die Kulissen geschoben und die Teleprompter abgebaut wurden – ausgerechnet vor Maevas Auftritt. Stattdessen streute man Blumen, legte eine Bastmatte in der Mitte der Bühne aus und bestückte sie mit einer Reihe bunter Kissen. Die Saaldiener begannen, die Türen zu schließen. Das Licht in der Concert Hall erstarb, und aus den Reihen war nur noch vereinzelt ein Hüsteln oder Räuspern zu hören. Langsam schälte sich die Bühne aus dem Dunkel. Inmitten von Blumen und Kissen kniete eine grazile Gestalt auf der Matte. Sobald das Publikum registrierte, wen es vor sich hatte, begann es vor Begeisterung zu toben, erst recht, als Maeva kurz darauf überlebensgroß auf den beiden Screens erschien, die links und rechts der Bühne installiert waren.
Steve konnte sich nicht satt sehen an der Schönheit dieser Frau, die mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln auf die nicht endenwollenden Huldigungen reagierte. Ihre Augen streiften ohne Hast durch den Musiktempel, als wollte sie ihn bis in den letzten Winkel erkunden. Dabei fuhren ihre Blicke wie behutsam gesetzte Pinselstriche über die Reihen, in denen sich die Menschen nun als Bestandteil eines einzigen, großartigen Gemäldes fühlen durften. Nach einigen Minuten führte Maeva die rechte Faust ans Herz, schlug die Augen nieder und neigte den Kopf kaum merklich nach vorne. Innerhalb von Sekunden wich der Begeisterungsturm einer fast andächtigen Stille.
„Iaorana!“ begrüßte Maeva die Anwesenden auf Maorisch, um dann auf Englisch fortzufahren. „Ich bin froh, dass Sie gekommen sind, ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen. Mit Ihnen und allen anderen Menschen... Bevor ich Ihnen jedoch erzähle, wie ich mir eine solche Zusammenarbeit vorstelle, möchte ich mich bei den zwölf Regionen Australiens bedanken. Ohne ihre Bereitschaft, den Hilflosen und Verfolgten dieser Welt eine neue Heimat zu geben, hätte ich für dieses Amt nicht kandidiert. Es muss uns eine Herzensangelegenheit sein, der großen Schar von Umwelt- und Armutsflüchtlingen zu helfen, die ohne eigenes Verschulden ihrer Lebensgrundlagen beraubt werden. Denn es sind in erster Linie unsere Herzen, die in Ordnung gebracht werden müssen. Die Gestaltung einer besseren Welt hängt nicht zuerst davon ab, wie viel umweltschonende Technik wir einsetzen und wie nachhaltig wir wirtschaften – eine bessere Welt ist nur möglich, wenn wir zu einer grundsätzlich anderen Lebens- und Weltanschauung finden. Die Krise, in der wir uns befinden, ist eine Krise der Herzen. Wir wissen einfach nicht mehr, woran wir uns orientieren sollen, es ist ein moralischer Kollaps, den wir erleben. Die Beziehungen zwischen uns Menschen und den Pflanzen, Tieren und Wesenheiten unserer Mitwelt sind zerbrochen. Warum ist das so? Weil wir den Dünkel besaßen, uns selbst in den Mittelpunkt der Schöpfung zu stellen. Wir haben uns abgenabelt vom Leben, wir schätzen und schützen es nicht, wir beuten es aus. Aber wir können nur etwas beherrschen wollen, von dem wir uns grundsätzlich getrennt glauben.
Von allen Gefahren, die uns heute drohen, ist keine so groß, wie die weltweite Verdrängung. Ich verstehe dieses Bedürfnis. Einzeln fühlen wir uns angesichts der Wahrheiten, die es heute zu konfrontieren gilt, so klein und zerbrechlich, dass wir glauben, es würde uns in Stücke reißen, sobald wir uns erlaubten, unsere Gefühle über den Zustand der Welt zuzulassen. Wir befürchten eine tiefe Depression oder Lähmung. Aber das Gegenteil ist der Fall. Wenn wir den Schmerz, den wir für die Welt empfinden, unterdrücken, dann isoliert uns das. Wenn wir ihn jedoch akzeptieren, anerkennen und darüber sprechen, dann merken wir, dass er weit hinaus geht über unser kleines Ego, dann erfahren wir durch ihn eine größere Identität, dann wird er zum lebendigen Beweis unserer Verbundenheit mit allem Lebendigen. Unser Schmerz um den Zustand der Welt und unsere Liebe für die Welt sind untrennbar miteinander verbunden, sie sind zwei Seiten derselben Medaille.
Bisher haben wir den Umweltschutz lediglich als Menschenschutz begriffen, bisher sprachen wir ausschließlich von Beständen, wenn von der Natur die Rede war. Wir machten in allem unsere Rechnung auf. Dieses Denken war nicht dem Leben verpflichtet, sondern einer Buchhaltungsmentalität. Damit ist jetzt Schluss. Wir sind angetreten, um für ein neues Bewusstsein zu werben. Wir sind nicht dazu da, einem todkranken Wirtschaftssystem durch den Ausverkauf unserer Ressourcen das Leben zu verlängern. Die Erde ist ein lebendiges System, in dem alle Dinge miteinander verwoben und voneinander abhängig sind. Wer könnte ernsthaft daran zweifeln. Wir alle leben von der Erde, sie ist unser Lebensspender. Glaubt denn jemand im Ernst, dass etwas, das Leben spendet, selbst ohne Leben ist? Erst wenn wir bereit sind, uns als Bestandteil eines lebendigen Erdkörpers zu verstehen, wird sich unsere Stellung in der Welt grundsätzlich verändern. Eine solche Perspektive hat dramatische Folgen für unser inneres und kollektives Wachstum. Sie mag angesichts der herrschenden Probleme visionär und verträumt wirken, aber eine Gesellschaft, die keine Visionen entwickelt, ist nicht zukunftsfähig. Zum ersten Mal in unserer Geschichte sind wir mit der selbstverursachten Zerstörung aller biologischen Lebensgrundlagen konfrontiert. Keine Generation vor uns hatte eine solche Bedrohung auszuhalten. Die eigentliche Frage, die wir uns also zu stellen haben, lautet: kollektiver Selbstmord oder geistige Erneuerung? In dieser Frage, meine lieben Freunde, liegt eine ungeheure Chance. Die Menschen hungern förmlich nach einer positiven Perspektive. Wer, wenn nicht wir, die wir uns bereits besonnen haben, könnte ihnen eine solche Perspektive bieten?
Wir müssen uns fragen: Was wollen wir? Wer sind wir? Was brauchen wir? Indem wir uns dies fragen, schulen wir nicht nur unsere Wahrnehmung, wir formulieren auch unsere Bedürfnisse neu. Es gibt inzwischen viele Menschen auf der Welt, die diesen Bewusstseinswandel vollzogen haben, und täglich werden es mehr. All das passiert in einem ungeheuren Tempo, und es passiert jetzt. Die Vertreter des alten Systems wissen das. Sie wissen, dass ihre Richtlinien, Normen und Werte nicht mehr funktionieren. Ein solcher Wertezusammenbruch macht zunächst einmal Angst. Wir haben Angst vor Chaos und Anarchie, Angst davor, unterzugehen in diesem Endzeitszenario, in dem sich jeder gegen jeden zu behaupten versucht. Aber nicht wir sind dem Tode geweiht, es sind unsere alten Sicht- und Handlungsweisen die sterben. Im Grunde müssen wir heute zwei Aufgaben zugleich bewältigen: als Sterbebegleiter für ein abgewirtschaftetes System und als Geburtshelfer für eine neue Kultur. Wenn es uns gelingt, eine positive Zukunftsvision in uns erblühen zu lassen, dann werden wir sie in der praktischen Politik auch umsetzen können. Denn es wird nichts Neues durch uns in die Welt kommen, was nicht vorher in unserem Bewusstsein Gestalt angenommen hat.
Wenn die Zerstörungen unserer Lebensgrundlagen so radikal und schnell vonstatten gehen, wie wir es gerade erleben, dann muss der Versuch, sie einzudämmen, ebenso radikal und schnell sein, sonst greift er nicht! An dieser Stelle darf ich an einen Satz aus der Rede meines Bruders erinnern, die dieser vor fünf Jahren vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen gehalten hat: Es geht nicht darum, wer recht hat, wer gewinnt oder verliert. Es geht darum, dass entzweite Parteien wieder zueinander finden und Frieden schließen. Es geht um das Vergnügen, Frieden zu schließen! Genau, liebe Freunde, darum geht es. Es muss doch Spaß bringen, unseren verschmutzten Wohnraum Erde gemeinsam aufzuräumen. Je mehr Menschen das verstehen, desto größer ist die Chance, die scheinbar unverrückbaren Strukturen eines alten Machtgefüges von innen heraus zu unterminieren und zu Fall zu bringen. Die italienische Wirtschaftswissenschaftlerin Loretta Napoleonie sprach angesichts der vermeintlichen Weltenlenker von Zuhältern der Globalisierung. Gemeint war die kleine Kaste der machtvollen Manager und Politiker, die mit ihren begrenzten Interessen gar nicht in der Lage sind, eine nachhaltige Zukunft zu garantieren. Nun, ich habe meine Schwierigkeiten mit dem Begriff global. Die globale Umweltverschmutzung entsteht im Lokalen. Alles Globale hat lokale Wurzeln. Selbst die eben genannten Manager und Politiker sind nur ein elitärer kleiner Männerverein, der im weltweiten Maßstab agiert und sich verhält, als sei er der globale Stamm. Das Ergebnis dieser Anmaßung können wir heute überall besichtigen. Die Menschen wollen es aber nicht mehr hinnehmen, dass jede ihrer produktiven Handlungen in ein globales Wirtschaftssystem gepresst wird, um einen Wert zu bekommen. Sie sehnen sich nach Identität. Ihre Identität finden sie nur, wenn sie ihre Probleme vor Ort angehen. Der einzige Weg, das globale Desaster in den Griff zu kriegen, sind weltweite lokale Lösungen.
Wie ist es möglich, dass alle zerstörerischen Handlungen, die wir erleben müssen, von den Verantwortlichen als kreative Taten gefeiert werden? Die Bombardierung anderer Länder, der Bau von Staudämmen, das Versprühen von Insektiziden, die Erschaffung genmanipulierter Organismen – dies alles wird als notwendig, fortschrittlich und kreativ empfunden. Wir begreifen Gesundheit als Leistung der pharmazeutischen Industrie, wir verstehen soziale Sicherheit als etwas, was Polizei und Justiz herstellen. So ist es auf fast allen Gebieten: wir glauben ausschließlich an ordnungspolitische oder technische Lösungen. Warum ist das so? Weil unsere Gesellschaft dem Patriarchat gehorcht, dessen zentrale Werte Überlegenheit und Dominanz sind. Deshalb ist es außerordentlich wichtig, dass wir das weibliche Prinzip wieder zum Tragen bringen. Schauen wir auf die Natur. In den Kulturen der indigenen Völker gilt die kreative Kraft der Natur als feminin. Die Anerkennung dieser Kraft macht uns dem Leben gegenüber demütig und lässt uns erkennen, dass wir nicht sein Meister sind. Wenn jeder Mensch bereit wäre, das weibliche Prinzip in sich wieder zuzulassen, würden wir erleben, dass Selbstversorgung, Selbstvertrauen und Selbstbestimmung ganz oben auf der politischen Tagesordnung stünden. Wir wollen nicht länger auf Vernichtung bauen.
Ich sprach davon, dass es Freude und Spaß bringen müsste, gemeinsam auf unserer verschmutzten Erde aufzuräumen. Fangen wir doch am besten gleich damit an. Südlich von Hawaii dreht sich ein sechs Millionen Tonnen schwerer Plastikteppich von der Größe Europas im Kreis. Bisher wird er von den subtropischen Winden in eine spiralähnliche Bewegung gezwungen, aber es ist zu befürchten, dass sich die Windrichtungen im Zeichen des Klimawandels sehr bald ändern werden. Also lasst uns fischen gehen. Sammeln wir sie ein, die Strandsandalen, Kunststoffmatten, Giftmüllbehälter, Kleiderbügel, Badeenten, Volleybälle, Styroporplatten und auch allen anderen überflüssigen Dreck, den die Wegwerfgesellschaft uns hinterlassen hat. Diese Aufgabe übersteigt unsere Kräfte natürlich bei weitem. Deshalb wird die URP die Verursacher in die Pflicht nehmen. Was spricht dagegen, dass sich Japan, dass sich China, die USA und die europäischen Länder an dieser Aufräumarbeit beteiligen? Wir haben einen Anspruch auf ihre Unterstützung, und wir werden diesen Anspruch vor aller Welt formulieren.
Lassen Sie mich noch eine Anmerkung zum Schluss machen, über die wir bisher viel zu wenig nachgedacht haben. Jede körperliche Erscheinung, die wir wahrnehmen, ist lediglich Bestandteil einer sich permanent verändernden Oberflächenstruktur. Alles Materielle, alles was wir sehen, anfassen, hören, riechen und schmecken können, gleicht den Wellen auf dem Ozean. Sie kommen und gehen, der Ozean aber bleibt. Die Tatsache, dass auch wir eines Tages unsere Gestalt verlieren und eintauchen werden in seine Tiefe, bedeutet ja nur, dass wir endlich wieder eins werden mit seiner kraftvollen Energie. Je nachdem, wie wir gelebt haben, tragen wir zu seiner Reinigung oder zu seiner Verunreinigung bei, werden wir von ihm entweder willkommen geheißen oder als kontaminierte Substanz behandelt. Ich frage Sie also: wer muss mehr Angst vor dem Tod haben: diejenigen, die den Regeln der Schöpfung entsprechend gelebt haben, oder diejenigen, die diese Regeln in ihrer kurzfristigen irdischen Existenz aufs Gröbste missachteten? Die URP, das ist mein sehnlichster Wunsch, soll ein mächtiger Verbund von Angstfreien sein. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Mauruuru roa...“
Dirk C. Fleck, Jahrgang 1943, studierte an der Deutschen Journalistenschule in München, volontierte beim Spandauer Volksblatt in Berlin, kreierte dort mit dem „Magazin“ die erste Wochenendbeilage einer deutschen Tageszeitung, war Lokalchef der Hamburger Morgenpost, sowie Redakteur bei Tempo, Merian und Die Woche. Er arbeitete als regelmäßiger Kolumnist für Die Welt und die Berliner Morgenpost und war für den Stern, den Spiegel und Geo als Autor tätig. Seit dem Jahre 2000 widmet sich Fleck ausschließlich seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Für seine Romane „GO! - Die Ökodiktatur“ (1993) und „Das Tahiti Projekt“ (2008) erhielt er den renommierten Deutschen Science Fiction Preis. Flecks Hauptthema ist der drohende ökologische Kollaps und die Neuordnung der globalen Zivilgesellschaft.