„Wesentlichste Voraussetzung für die einmalige Machtkonzentration ist die systematische Streichung eines Bewusstseins für Macht“, konstatiert der Historiker und Philosoph Daniel Sandmann in seinem Essay „Die Verlagerung der Welt“ (1). Das bedeutet nichts anderes, als dass wir uns dieses Bewusstsein für Macht wieder erarbeiten müssen, um den Mächtigen nicht völlig hilflos ausgeliefert zu sein.
Was ich hier als Machtlust bezeichne, ist der „Missing Link“, das fehlende Glied in der Kette möglicher Erklärungen für dramatisches Fehlverhalten. Das gilt individuell wie auch in großen historischen Dimensionen.
Machtlust ist der Elefant im Raum — etwas, das einerseits offensichtlich ist, andererseits scheinbar für die meisten unsichtbar, zumindest unsagbar. Darüber „spricht man nicht“.
Wenn wir aber nur die bisher beschriebenen historischen Phänomene betrachten — zum Beispiel Calvins Schreckensherrschaft in Genf, Guantanamo und die Zustände bei der Militärausbildung in vielen Ländern —, kommt man zu dem Ergebnis, dass sie sehr schwer erklärbar sind, ohne die Lust an der Macht zu berücksichtigen. Wie verhält es sich also mit der Psychopathologie derer, die sich ganz oben in den Hierarchiesystemen aufhalten, und warum stellen sich Menschen auch ohne unmittelbaren Zwang Systemen destruktiver Machtausübung immer wieder als Büttel zur Verfügung?
In Bezug auf Macht herrscht eine merkwürdige Prüderie. Gerade unter den wirklich Mächtigen dieser Welt gibt es scheinbar ausschließlich solche, denen an Macht eigentlich gar nicht gelegen ist — jedenfalls wenn man ihren Selbstdarstellungen Glauben schenken will. „Verantwortung“ lastet schwer auf ihren Schultern, und sie haben den Drang, „zu gestalten“ oder „diesem Land“, von dem sie so reichlich beschenkt wurden, „etwas zurückzugeben“ — der völlig selbstlose Impuls, diese Welt in einem besseren Zustand zu hinterlassen, als man sie betreten hat. Bei so viel Edelmut müsste unsere Erde mittlerweile ein wahres Paradies sein. Ist sie aber nicht.
Die meisten Politiker vermitteln das Bild, dass sie nur auf Drängen ihres Umfelds unversehens in eine Machtposition hineingeglitten sind. Haben sie es sich einmal „drinnen“ bequem gemacht, dringt nichts nach außen, das darauf schließen ließe, dass es irgendwie Freude machen könnte, Macht auszuüben. Wie muss es sich anfühlen, bei einer Pressekonferenz zu verkünden, dass ab nächster Woche alle Bürger eine Gesichtsmaske tragen müssen, und dann zu beobachten, dass dies wundersamerweise millionenfach tatsächlich geschieht? Ein geradezu magischer Effekt, von dem so mancher Politiker vielleicht selbst gelegentlich überrascht ist, wie reibungslos er funktioniert — wie bei Saruman, dem Zauberer aus „Der Herr der Ringe“, wie er auf der Plattform seines Turms steht. Darunter Hunderte und Tausende Getreue, die in geometrisch perfekten Formationen angetreten sind. Ein Wort, und sie bewegen sich, als wären sie ein einziges, riesiges Lebewesen, genau in der Art, wie der Zauberer es vorgegeben hat.
Sogar — um ein harmloseres Beispiel anzuführen — auf Fridays-for-Future-Demonstrationen kann man manchmal einem befremdlichen Schauspiel beiwohnen: Jugendliche, berauscht von der allgemeinen Aufmerksamkeit, rufen über Megafon mit sich überschlagender Stimme: „What do we want?“, gefolgt von der tausendstimmigen Antwort: „Climate justice!“ „When do we want it?“ „Now!“ Und die meisten finden nichts dabei, auf diese Weise im Kollektiv völlig unterzugehen. Denn schließlich — was könnte man auch gegen Klimagerechtigkeit einwenden?
Gehen wir zurück zu der Frage Winston Smiths in „1984“: „Das Wie verstehe ich, aber nicht das Warum.“ Im letzten Abschnitt des Buches greift der systemtreue Verhör- und Folterspezialist O’Brian diese Frage auf. Während Smith gefesselt vor ihm liegt und O’Brian eine Apparatur bedient, die dem Gefangenen jederzeit furchtbare Elektroschocks verpassen kann, drängt der Täter das Opfer dazu, mit ihm zusammen über die Motive für die Errichtung eines derart monströsen Gewaltregimes zu philosophieren. „Was ist unser Beweggrund? Warum sollten wir Macht wünschen? Los, reden Sie“ (2).
Smith meint zunächst, seinem Peiniger schmeicheln zu müssen, und unterstellt ihm lautere Motive für die derart krude Machtausübung: „‚Ihr herrscht über uns zu unserem eigenen Besten‘, sagte er schwach. ‚Ihr glaubt, dass die Menschen nicht imstande sind, sich selbst zu regieren, und deshalb …‘.“ Daraufhin versetzt ihm O’Brian einen heftigen Stromstoß. Er verlangt von Smith, dass dieser ehrlich antwortet.
„Jetzt werde ich Ihnen die Antwort auf meine Frage geben. Sie lautet: Die Partei strebt die Macht lediglich in ihrem eigenen Interesse an. Uns ist nichts am Wohl anderer gelegen; uns interessiert einzig und allein die Macht als solche. Nicht Reichtum oder Luxus oder langes Leben oder Glück: nur Macht, reine Macht.“ O’Brian führt dann aus — ein Seitenhieb Orwells auf die sozialistischen Diktaturen —, dass „nie jemand die Macht ergreift in der Absicht, sie wieder abzutreten. Die Macht ist kein Mittel, sie ist ein Endzweck“ (3).
Er erklärt dann weiter, dass das Verschwinden des Individuums im Kollektiven unabdingbar für die Machtausübung sei. Der Einzelne sei nur eine Zelle in einem großen Organismus. „Als Erstes müssen Sie sich vor Augen halten, dass Macht Kollektivgeist ist. Der Einzelne besitzt nur insoweit Macht, als er aufhört, ein Einzelner zu sein. (…) Das muss so sein, denn jedem Menschen ist es bestimmt, zu sterben, was der größte aller Mängel ist. Wenn ihm aber vollständige, letzte Unterwerfung gelingt, wenn er seinem Ich entrinnen, in der Partei aufgehen kann, so, daß er die Partei ist, dann ist er allmächtig und unsterblich.“ Weiter definiert O’Brian Macht als „Macht über Menschen. Über den Leib — aber vor allem über den Geist“ (4).
Die radikale Deutung George Orwells definiert Macht zunächst als Selbstzweck. Alle vorgeschobenen Zwecke — speziell auch das „Glück“ der Staatsbürger — werden verworfen. Diese Erklärung für sich genommen ist noch nicht vollständig befriedigend, zumal die Welt von „1984“ Fiktion ist. Hellsichtigen Autoren gelingt es aber immer wieder, wo nicht Wirklichkeit, so doch Wahrheit wiederzugeben und in die Tiefenstrukturen der Realität vorzudringen. Es hilft, als vorläufige Arbeitshypothese davon auszugehen, dass es ein Bedürfnis nach Macht „einfach so“ gibt: Macht als Endzweck und als Eigeninteresse der Mächtigen. Wenn wir das als Grundlage nehmen, lässt sich einiges erklären.
Etwa auch die Neigung von Superreichen, sich mit Geldsummen, die ihre sämtlichen Grund- und auch Luxusbedürfnisse zu stillen vermögen, nicht zufriedenzugeben. Wir verstehen außerdem besser, warum Macht — einem Schauspieler gleich, der jeden Abend in einer anderen Maske und Rolle auftritt — mal die Färbung des religiösen Fanatismus, mal die der sozialistischen oder faschistischen Diktatur, mal jene eines durch demokratische Reststrukturen legitimierten Sicherheits- und Gesundheitstotalitarismus annehmen kann — neben vielen weiteren Spielarten, von denen einige erst jetzt am Horizont der Geschichte in Umrissen erkennbar sind: etwa eines technikgestützten, „transhumanistischen“ Überwachungsfaschismus.
Schon bei Orwell wird in Ansätzen auch eine psychologische Deutung der bedingungslosen Hingabe von Menschen an kollektive Zwangssysteme geliefert — eine Erklärung, die im Grunde für die Angehörigen von Parteikadern und Machtcliquen ebenso gilt wie für „einfache“ Staatsbürger: Der Einzelne wolle „seinem Ich entrinnen“ und in einem größeren Ganzen — der Partei oder dem Staat — „aufgehen“. Dadurch vermeide er auch den Schmerz seiner eigenen Sterblichkeit, denn das Größere, von dem er durch Unterwerfung ein Teil wird, ist unsterblich. Der NS-Propagandaspruch „Du bist nichts – dein Volk ist alles“ zierte unter anderem die Unterkünfte der Hitlerjugend.
Die Idee einer Auflösung des Individuums im Allgemeinen lässt sich auch als mystisch deuten, wenn man statt eines Volkes oder einer Partei eine religiöse Gemeinschaft oder Gott selbst einsetzt, in dem sich der Mystiker auflöst wie ein Wassertropfen im Meer.
Faschistischer Kollektivismus wäre demnach die Pseudomystik einer entgötterten Welt, die Ersatzreligion im Zeitalter des Materialismus. Der faschistisch kontrollierte und gesteuerte „Volkskörper“ setzt sich selbst an Gottes Stelle — als Objekt einer diffusen Verschmelzungssehnsucht, deren tiefere psychische Beweggründe die Angst vor dem Tod und die Erfahrung der eigenen Kleinheit und Vulnerabilität sind.
Diesem Gedanken werde ich später noch ausführlicher nachgehen.
Konzentrieren wir uns aber zunächst auf die „Täterseite“. Machtausübung basiert häufiger, als dies meist in der Öffentlichkeit kommuniziert wird, auf dem Bedürfnis des Mächtigen, nicht auf dem des Unterworfenen oder auf „objektiven“ Gegebenheiten. Natürlich ist anzunehmen, dass sich im Geist realer Machthaber „unlautere“ mit durchaus nachvollziehbaren Motiven mischen können — der Wille „zu gestalten“, die Erkenntnis, das Land brauche in der Krise Führung und Ähnliches, mit purer Geltungssucht und unverblümtem Dominanzstreben. Diese Gemengelage kann man auch bei dominanten Einzelpersonen im Privatleben finden, vor allem bei sogenannten Haustyrannen und -tyranninnen.
Ich werde deshalb hier häufiger auf die Geschichte des Entführungsopfers Natascha Kampusch eingehen, die als Zehnjährige im März 1998 von dem Nachrichtentechniker Wolfgang Priklopil in seine Gewalt gebracht und mehr als acht Jahre lang — überwiegend in einem Kellerverlies — gefangen gehalten wurde. Sie beschreibt ihr Martyrium sehr ausführlich und hellsichtig in ihrem Buch „3096 Tage“ (5).
Das Beispiel ist sehr hilfreich, um die Dynamik der Macht zu untersuchen, weil es sich um eine denkbar einfache „Versuchsanordnung“ handelt: Ein „Herrscher“ steht einer „Untertanin“ gegenüber. Die Dynamik zwischen beiden spielte sich überwiegend im Verborgenen ab, losgelöst von allen anderen sozialen Kontakten. Die Initiative, die dazu führte, dass Täter und Opfer zueinander in eine „Beziehung“ traten, ging eindeutig von Priklopil aus. Beide kannten einander vor der Entführung nicht. Priklopil hatte diese zwar akribisch geplant, die Auswahl des Opfers erfolgte aber offenbar spontan aus einer gegebenen Situation heraus.
Natascha Kampuschs Gefangenschaft kann einzig auf ein offenbar krankhaftes Bedürfnis des Täters zurückzuführen sein. „Ich wollte immer schon eine Sklavin“, soll Priklopil ihr freimütig anvertraut haben. „‚Ich bin dein König‘, sagte er, ‚und du bist meine Sklavin. Du gehorchst‘“ — so gibt sie die Worte ihres Peinigers wieder und fasst zusammen: „Der Täter war kein Typ, der subtil agierte — er wollte offen und unverblümt Macht ausüben“ (6).
In ihrem Buch, das vier Jahre nach ihrer Flucht aus der Gefangenschaft erschien, bemüht sich Kampusch durchweg um Fairness und eine ausgewogene Sprache. Und sie versucht auch eine psychologische Erklärung:
„Ich glaube heute, dass sich Wolfgang Priklopil über den Umweg eines schrecklichen Verbrechens nichts anderes schaffen wollte als seine kleine heile Welt, mit einem Menschen, der ganz für ihn da war. Er hat das wohl auf normalem Weg nie erreicht und deshalb beschlossen, jemanden dazu zu zwingen und dafür zu formen. Im Grunde wollte er auch nichts anderes als jeder Mensch: Liebe, Anerkennung, Wärme. (…) Er scheint keinen anderen Weg gesehen zu haben, als ein schüchternes, zehnjähriges Kind zu entführen und es so lange von der Außenwelt abzuschneiden, bis es psychisch so weit war, dass er es neu ‚erschaffen‘ konnte“ (7).
Interessant ist nun Kampuschs Deutung, für den Entführer sei die totale Herrschaft über eine wehrlose Person Liebesersatz gewesen. Das würde bedeuten: Macht als Ersatzbefriedigung für Menschen, für die die konstruktiven und frei ausgelebten Formen der Liebe unerreichbar scheinen.
Wir erinnern uns, wie in Richard Wagners Musikdrama „Das Rheingold“ (8) Liebe und Macht als entgegengesetzte, quasi unvereinbare Kräfte dargestellt werden. Der Zwerg Alberich taucht in die Tiefen des Rheins, um den schönen Rheintöchtern nachzustellen: „Lüstern lechz ich nach euch, und eine muss mir erliegen.“ Das sehen die Nixen aber anders, sie verspotten den hässlichen Wicht und weisen ihn mit groben Worten ab. Daraufhin verflucht dieser die Liebe und schafft so die Voraussetzung, sich aus dem Rheingold den Ring der Macht zu schmieden. Eine alte Prophezeiung nämlich sagt: „Nur wer der Minne Macht entsagt, nur wer der Liebe Lust verjagt, nur der erzielt sich den Zauber, zum Reif zu zwingen das Gold“ (9). Alberich will jetzt nichts Geringeres als die Weltherrschaft.
Dem Mythos zufolge wurzelt Machtgier in enttäuschtem Liebesverlangen — und die Ausübung destruktiver Macht setzt eine „lieblose“ Persönlichkeit voraus. Jemand muss die Fähigkeit zu und sogar das Bedürfnis nach einer psychisch gesunden, gleichberechtigten Liebesbeziehung in sich abgetötet haben. So und nur so kann er zum Tyrannen werden.
Roland Rottenfußer spricht im Interview mit Sven Böttcher bei „B & Besuch“ über die Themen seines Buches „Strategien der Macht“
Am 27. März erscheint der neue Rubikon-Bestseller von Roland Rottenfußer. Hier können Sie das Buch vorbestellen: als Taschenbuch oder E-Book.
Klappentext:
Wenn jetzt nicht etwas Grundlegendes geschieht, dann war’s das mit der Freiheit. Und nicht die Angriffe ihrer Gegner werden ihr den Garaus machen — die Gleichgültigkeit derer, die sie so lange genossen, wird es tun.
Pandemien, Weltkrieg, Klimanotstand: Die Freiheit schwebt in höchster Gefahr. „Freiheitsgesäusel“? „Mehr Diktatur wagen“? Was ist kaputt in den Herzen und Köpfen der vielen, dass sie sich selbst und ihre Freiheit so geringschätzen, ja regelrecht verachten? Warum stimmen sie ihrer eigenen Entrechtung zu und scheinen in ihre Ketten geradezu verliebt?
Roland Rottenfußer zeigt: Wir sind Gefangene unserer Illusionen, Gefangene der Lügen und Strategien der Macht. Doch der Kaiser ist längst nackt, der Zauberer von Oz nur ein größenwahnsinniger Zwerg, der an Hebeln zieht. Erkennen wir, dass unsere Angst grundlos ist, fällt der Bann von uns ab und finden wir zurück in unsere Wahrheit und Kraft:
„Wäre die Freiheit eine Person, eine schöne Göttin — was würde ich ihr sagen? Vor allem eines: Verzeih uns! Verzeih uns diesen erbärmlichen, unwürdigen Verrat. Es wird nie wieder vorkommen. Von nun an werden wir besser für dich kämpfen.“
Rottenfußers Buch ist eine Liebeserklärung an die Freiheit und individuell-kollektive Revolutionsanleitung zugleich. Der Weg liegt vor uns, wir müssen ihn nur noch gehen. Ganz nach der Devise von Bertolt Brecht: „Wenn die Wahrheit zu schwach ist, sich zu verteidigen, muss sie zum Angriff übergehen.“
Quellen und Anmerkungen:
(1) Daniel Sandmann, „Die Verlagerung der Welt“, in: Rubikon, 22. Februar 2022, https://www.rubikon.news/artikel/die-verlagerung-der-welt
(2) George Orwell: 1984, Ullstein, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1981
(3) Ebenda
(4) Ebenda
(5) Natascha Kampusch: 3096 Tage, Ullstein, Berlin 2020
(6) Ebenda
(7) Ebenda
(8) Richard Wagner: Das Rheingold, Reclam, Stuttgart 1976
(9) Ebenda