Da unsere Gesellschaft zwar ein gewisses Maß an Freiheit garantiert, liegt es an jedem selbst, ob er sich dafür entscheidet, die ihm offerierte Dosis Autarkie dankend zu empfangen oder nach mehr zu fragen. Nach mehr zu fragen, wirkt jedoch immer gleich so gierig. Vielleicht geben sich die meisten Menschen daher mit dem zufrieden, was die Gesellschaft ihnen zu (ver-)bieten hat. Darüber hinaus ist das Freiheitsbedürfnis individuell verschieden.
Jeder Mensch steckt die Grenzen seiner Komfortzone selbst — könnte man meinen. Der Erziehungsstil der Eltern hat jedoch einen großen, meist unbewussten Einfluss auf genau diese Komfortzone. Sie ist geprägt durch die frühkindlichen Erlebnisse, die Suche nach Anerkennung, Akzeptanz und so weiter, bei den Eltern, später bei Freunden, in der Schule et cetera. Die Zone verändert sich also infolgedessen zum gesellschaftlich erwünschten Verständnis von Zone.
Es bleibt Ihnen daher selbst überlassen, ob Sie sich Ihr ganzes Leben auf „sicherem“ Terrain bewegen oder auch mal einen Blick über die Grenze(n) hinaus riskieren wollen. Unbekanntes sorgt in der Regel erst einmal für Angst, Unbehagen, Unwohlsein … Es irritiert. Niemand lässt sich gerne irritieren. Warum auch?
Freiheit in der Liebe
Die Liebe. Die Liebe bietet so viel Potenzial für Tragödien, Dramen, aber auch für inspirierende und wundervolle Momente, die die menschliche Vorstellungskraft sprengen können. Aber warum macht sie so vielen Menschen heute in erster Linie Angst? Wieso gibt es immer mehr Menschen, die sich als beziehungsgestört bezeichnen und diese Eigenschaft als Schutzschild ihrer Selbst im täglichen Kampf innerhalb zwischenmenschlicher Beziehung betrachten? Beispiel hierfür ist unter anderem die stetig wachsende Zahl an Singlehaushalten in der Bundesrepublik (1).
Wenn man bereits in Abwehrhaltung zu einer Auseinandersetzung erscheint, wie kann man dann auf einen harmonischen und für beide Parteien erfüllenden Ausgang hoffen? Jeder erntet, was er sät. Alle haben Ängste, sind unsicher, sehnen sich nach Akzeptanz, Anerkennung und Zuneigung. Runter mit den Mauern, wir teilen alle dasselbe Leid.
Wie kommt es, dass sich in unserer Gesellschaft ein anhaltendes Konkurrenzdenken manifestiert hat? Und das, obwohl wir in einer Überflussgesellschaft leben, in der für wirklich jeden gesorgt sein könnte. In zwischenmenschlichen Beziehungen wird nach jeder Form von Anerkennung gegiert, als ob es diese nur in rationierten Dosen und gegen Abgabe einer Liebeskarte gäbe. Dabei ist der Krieg doch vorbei … Na ja, in der Liebe scheint der Krieg ein Dauerzustand zu sein.
Ein Zustand. Auch das charakterisiert ausgezeichnet die Gesellschaft, in der wir leben. Die Rede ist immer von Zuständen: dem richtigen Zustand, dem falschen Zustand. Singles verweilen hierbei natürlich immer im falschen Zustand, denn Alleinsein schickt sich nicht. Wer ist schon gern allein? Daher befinden sich Singles eher „auf der Suche“, als zuzugeben, gerade von diesem unabhängigen, kreativen und für die persönliche Entwicklung sehr wichtigen Zustand völlig überzeugt zu sein.
Schließlich bezeichnet man sich ja auch lieber als „arbeitssuchend“ und nicht als „arbeitslos“. Das Wort „suchend“ impliziert in diesem Kontext wenigstens den aktuellen Versuch, diesen „falschen Zustand“ zu beheben. Und außerdem gibt man seinem Umfeld so auch zu verstehen, dass man sich der eigentlich traurigen Lage bewusst ist und natürlich alles dafür tut, um wieder dem gesellschaftlichen Tenor zu entsprechen. Gott sei Dank.
Liebe auf der Titelseite
Allerdings gibt es weitere gesellschaftlich gern gesehene Regeln, die es zu beachten gilt. Monogamie ist das Vorzeigekonzept Nummer 1. Über die Jahrhunderte gescheitert und trotzdem für gut befunden. Da kann höchstens der Kommunismus mithalten, der sich ebenfalls durch einen wunderschönen Grundgedanken auszeichnet, jedoch in der Realität regelmäßig an der Umsetzung scheitert. Aber woran kann das liegen?
Kaum etwas ist so zerbrechlich und dennoch gleich stark wie die Liebe. Sie ist etwas so wertvolles und obwohl ihre Quelle unerschöpflich ist, wird mit ihr gegeizt. Dabei könnte der Alltag so viel schöner sein, wenn er doch mehr und mehr von Liebe durchflutet wäre. In den Medien wird Tag für Tag mit grauenhaften Schlagzeilen aufgetrumpft: reißerisch, pessimistisch, grausam … Für die Liebe wird in den seltensten Fällen die Titelseite geopfert und auch nur dann, wenn es sich um eine (zumeist adelige) Märchenhochzeit handelt.
Walt Disney hätte das jeweilige Königspaar nicht besser in Szene setzen können. Kein Wunder also, das der Mensch in Märchenschlössern denkt. Aber warum sind es immer bloß zwei Menschen, primär Mann und Frau, die eine ehrenhafte und erwähnenswerte Liebesgeschichte ausmachen? Warum feiern wir keine Gruppe von Menschen, egal ob 3, 4 oder sogar 5, die dennoch eine aufrichtige, wünschenswerte und zugleich märchenhafte Verbindung eingehen? Nun, vielleicht gibt es von diesen Gruppen zu wenig oder sie werden reduziert auf das Ausleben von Sexualität, aber nicht das Ausleben von Liebe. Dies könnte zumindest eine Erklärung sein.
Vielen Menschen stößt der Gedanke sauer auf, sie könnten auch mit mehreren Partnern glücklich sein. Mit mehreren? Wie soll das gehen? Zieht dann nicht zwangsläufig jemand den Kürzeren? Kann man dann überhaupt noch von Liebe sprechen? Ist Liebe nicht etwas Exklusives, das nur einem Partner vorbehalten sein kann?
Nein. Liebe ist unendlich!
Nicht nur unendlich schön oder unendlich grausam, sondern schlicht und ergreifend: unendlich.
Eine Mutter liebt im besten Fall jedes ihrer Kinder gleichermaßen stark. Ein bester Freund kann einem näher stehen als der eigene Partner oder die eigene Mutter. Beziehungen lassen sich nicht in Raster drücken und funktionieren auch nicht nach vorgefertigten Regeln.
Die Lust auf Mehr
Jeder Mensch hat individuelle Bedürfnisse und die gilt es zu beachten und zu respektieren. Allein daraus ergeben sich unzählige Formen und Arten der Liebe. Facetten des Miteinanders. In unserer Gesellschaft hat sich die Monogamie als Leitkonzept manifestiert. Die Menschen hinterfragen es nicht, sie leben es. Sie wollen es oder sie kennen es eben nicht anders. Wie auch? Sie fügen sich. Wenn man bereits in frühester Kindheit gelernt hat, dass die Prinzessin höchstens einen der Prinzen wählen darf und mit dieser Entscheidung bis an ihr Lebensende glücklich werden wird, dann widerspricht erst einmal niemand diesem Ideal. Schließlich will jede Frau eine gute Prinzessin sein.
Aber auch Prinzessinnen lesen Bücher, reisen oder treffen einmal in ihrem Leben einen Menschen, der ihnen Beziehungskonzepte oder -alternativen aufzeigt, die sie nicht für möglich gehalten hätten. Zumindest nicht in der Realität, obgleich sie in ihren Träumen und wilden Fantasien bereits das ein oder andere Mal auftauchten. Außerhalb des Deckmantels der Monogamie muss es also noch etwas anderes geben. Die Polyamorie (2) ist dieses Mehr. Sie feiert, was die Monogamie verteufelt. Ein sexuelles Exklusivrecht ist ihr fremd.
Auch auf emotionaler Ebene bewegt man sich hier auf vielschichtigem Terrain. Vielleicht ist das bereits schon die Antwort darauf, warum die Gesellschaft eher gereizt beziehungsweise gehemmt auf alternative Beziehungskonzepte reagiert: Überforderung. Denn wenn eine polygame Beziehung eines voraussetzt, dann ist das Kommunikation, Offenheit, Ehrlichkeit, Zugeständnisse von Eifersucht und die Bereitschaft, sich den ungemütlichsten Gefühlen zu stellen, sie zu durchleben und eine Lösung zu finden.
Es ist gar nicht so leicht, gewohnte Muster zu durchbrechen und als „seltsam“ oder „egoistisch“ bezeichnet zu werden, weil man kulturelle Konzepte hinterfragt oder sich traut, laut auszusprechen, was einige denken und noch mehr träumen: Die Lust auf Mehr (… als einen Partner)! Liebe kann man schließlich nicht allein erleben. Selbstliebe, ja klar. Aber zu viel Selbstliebe macht auf die Dauer einsam. Die Liebe zu anderen hingegen wird dadurch nicht weniger, wenn man sie großzügig verteilt.
Was heißt schon normal?
In der Gesellschaft, in der wir leben, gehört es jedoch zum guten Ton, einem Partner sexuell treu zu sein. Als würde sich emotionale Nähe nur durch Sex manifestieren und dem Partner irgendeine Form von Sicherheit garantieren. Na ja, vielleicht die Sicherheit, sich nicht mit übertragbaren Geschlechtskrankheiten anzustecken, aber das war es eigentlich auch schon.
Ansonsten gibt es kaum etwas, wovor die Monogamie einen retten kann. Wie auch. Letztlich garantiert das monogame Beziehungskonzept weder Offenheit noch Aufrichtigkeit. Im Gegenteil. Sex und Liebe werden auf eine Stufe gestellt: Die Liebe wird dadurch entwertet, der Sex hingegen aufgewertet. Aber auch das ist Ansichtssache. Schließlich gibt es genügend Menschen, für die eine emotionale Bindung unerlässlich ist, um sich auch sexuell auf jemanden einzulassen. Auch das ist okay. Und normal.
Zugegeben: Natürlich ist es ein schönes Gefühl zu wissen, dass man der/die Einzige und somit unantastbar im Leben des anderen ist. Aber sollten wir in erster Linie nicht danach streben, mit uns selbst im Einklang zu sein, damit wir uns nicht so schnell von einer weiteren Person bedroht fühlen? Damit wir nicht auf „externe Sicherheitsfaktoren“ angewiesen sind? Es wäre der Idealzustand, das ist mir bewusst. Er verlangt viel Arbeit und Selbstreflexion, auch das ist mir bewusst. Aber vielleicht ist es den Preis wert?!
If you never try, you’ll never know.
Dieser Artikel erschien zuerst auf dem Portal „Neue Debatte. Journalismus und Wissenschaft von unten“