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Lasst die Werbung sterben!

Lasst die Werbung sterben!

Es ist richtig, Leuchtreklamen auszuschalten — dies sollte aber nur der erste Schritt sein, um teure und unsinnige Werbung generell zu begrenzen.

In der Schweiz wird bereits seit Juli diskutiert, Leuchtreklame bei Strommangel auszuschalten (1), in Deutschland ist es seit 1. September 2022 durch Verordnung angeordnet: Zwischen 22 und 16 Uhr muss leuchtende Reklame ausgeschaltet werden (2). Das ist eine äußerst vernünftige Maßnahme.

Erwartungsgemäß hat der Lobbyverband der Werbewirtschaft lautstark protestiert: Die deutsche Werbewirtschaft sehe sich „wegen der neuen bundesweiten Energiesparvorgaben in Gefahr. Die beschlossenen Maßnahmen bedrohten die Branche der Out of Home Medien im Kern“ (3). Wenn diese Drohung Realität würde, wäre es ein Glücksfall für unser Land.

Denn in Wirklichkeit braucht niemand Out of Home Medien, also Außenwerbung wie Plakate oder beleuchtete Werbetafeln im öffentlichen Raum. Im Gegenteil: Sie sind ein Störfaktor der Marktwirtschaft, belästigen die Menschen und führen uns in die Irre.

Wir sollten daher nicht nur Leuchtreklame abschalten, sondern wie Sao Paulo seit fast zwei Jahrzehnten oder vier US-Bundesstaaten seit vielen Jahrzehnten Außenwerbung gleich ganz einstellen. Außenwerbung ist so sinnvoll wie ein Kropf. Das gilt nicht nur für Außen-, sondern für fast alle Werbung (4).

Zahlen, Daten und Fakten (5)

Die Werbeausgaben in Deutschland wurden vom Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) für 2020 mit 45 Milliarden Euro beziehungsweise 1,3 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt (BIP) angegeben, die von etwa 900.000 Beschäftigten erbracht wurden (6).

Diese Zahlen dürften aber deutlich zu niedrig sein, da viele Werbe- und Marketingaktivitäten beispielsweise von Führungskräften nicht oder nur teilweise in diese Berechnung einfließen. Außerdem sind in diesen Zahlen keine Vertriebsmitarbeiter enthalten. Eine realistischere Größenordnung für Werbeaufwand liegt bei mindestens 2 Prozent vom BIP, das entspräche derzeit etwa 66 Milliarden Euro (7). Verwendet man das Konzept des gesamten Marketing-Rucksackes, also das Maß für „die Differenz zwischen Herstellungskosten und Verkaufspreis“, das auf Günter Faltin zurückgeht (8), so kommt man gar auf Schätzungen von 10 bis 20 Prozent unserer Konsumausgaben, also auf 160 bis 330 Milliarden Euro pro Jahr (9).

Diesen hohen gesamtwirtschaftlichen Kosten steht de facto kein realer Nutzen gegenüber: Werbung nährt uns nicht, kleidet uns nicht, schafft uns kein Dach über den Kopf.

David Graeber nennt sie daher Bullshit Jobs, die im Wesentlichen nur gesamtgesellschaftliche Kosten und für die Betroffenen Frustration bringen (10). Werbung liefert uns flotte Sprüche und bunte Bilder von schönen Dingen statt die Dinge selbst. Werbung verteuert daher unmittelbar die beworbenen Gegenstände. Jeder Cent Werbung wird von uns Kunden im Produktpreis mitbezahlt. Werbung informiert meistens nicht über Produkte — und soll laut Werbeprofis auch nicht informieren —, sondern ist im Normalfall strukturell irreführend. Werbung soll verkaufen, sonst nichts (11).

Führende Volkswirte sagen daher schon seit mehr als 100 Jahren, dass kompetitive Werbung, also Werbung, bei der es lediglich um Marktanteile geht, sinnlos ist. Deutlich mehr als 90 Prozent aller kommerziellen Werbung durch gewinnorientierte Unternehmen gilt als kompetitiv (12). So sprach bereits Alfred Marshall bei Werbung von sozialer Verschwendung und bezeichnete sie als „Social Waste“ (13). Auch Arthur Pigou hielt kompetitive Werbung einfach für Energie- beziehungsweise Ressourcenverschwendung (14). Für Kenneth Galbraith schaffen die Unternehmen durch Werbung erst künstlich die Bedürfnisse, die sie dann befriedigen. Die Unternehmen füllten daher eine Leere aus, die sie erst selbst hervorgebracht hätten (15).

Kurz: Werbung ist aus gesamtwirtschaftlicher Sicht reine Energieverschwendung und sollte daher so stark wie möglich reduziert werden.

Das Wettrüsten der Marken

„Die Volkswirte konstatieren also dem bei den Betriebswirten so beliebten Marketing gleich zwei systemimmanente Verschwendungen von Ressourcen: bei der Umverteilung von Marktanteilen zwischen den Unternehmen, und bei der künstlichen Weckung neuer Bedürfnisse. Beides ist unsinnig und teuer, beides führt zu einer Verschleuderung von Ressourcen, für die die Gesellschaft und die Umwelt teuer bezahlen müssen. Und das alles nur, damit ein paar Unternehmen als Sieger aus dem Werbewettstreit hervorgehen können, die das prächtigere Feuerwerk, die gewitzteren Formen, die eingängigsten Töne, die farbigsten Effekte auffahren; kurz, die alle Register ziehen, um oben das Geld so aus dem Fenster zu werfen, dass sie es unten mit Profit wieder einsacken können.

Mit der sonst von den Ökonomen gerne so hochgehaltenen Effizienz hat das nichts zu tun. Während das jedem Erstsemester beigebrachte ökonomische Prinzip das Wasser des sparsamen Umgangs mit knappen Mitteln predigt, säuft das unökonomische Prinzip des Marketings den Wein der grenzenlosen Verschwendung. Und, wie viele Trinker, gelingt es ihm nicht mehr, sich aus eigener Kraft der Sucht zu entziehen“ (16)

Daher brauchen wir solche Maßnahmen wie ein Verbot von Leuchtreklame.

Werbung ist Treiber von Wirtschaftswachstum, Energieverschwendung und Umweltzerstörung

Sehr viel schlimmer als die unmittelbare Energieverschwendung ist jedoch die Auswirkung von Werbung auf unseren gesamten Umgang mit Mensch und Natur. Werbung hämmert uns 3.000 bis 10.000 Werbebotschaften pro Tag ein (17). Und praktisch alle haben eine einzige Aussage: Kauft! Werbung treibt uns in Gier und Wirtschaftswachstum und damit in immer mehr und mehr Energieverbrauch. Die Frage „Haben oder Sein“, die Erich Fromm vor mehr als drei Jahrzehnten gestellt hat (18), wird durch Werbung eindeutig und täglich mit Hunderten Milliarden von Botschaften beantwortet: Haben statt Sein.

Unsere omnipräsente Werbekultur schickt uns in eine materialistische Kultur des „Mehr und Mehr“. Ununterbrochen wird Gier statt Zufriedenheit oder gar Bescheidenheit gepredigt. Diese materialistische, egoistische Sicht auf die Welt bewirkt beispielsweise auch geplanten Verschleiß. Werbung hämmert uns ein, dass das Alte nicht mehr gut genug ist, sondern dass wir das Neue, Modische brauchen. Alle Spielarten von psychologischem geplanten Verschleiß funktionieren nur wegen der massiven Werbetrommel, die ständig schlägt. Allein wegen geplantem Verschleiß arbeiten wir drei Wochen im Jahr vollkommen sinn- und nutzlos, aber extrem ressourcen- und energieverschwendend (19).

Am Rande sei bemerkt, dass die systematische Unehrlichkeit von Werbung unter ethischen Gesichtspunkten fragwürdig ist, dass Werbung gezielt die Gesundheit unserer Kinder untergräbt, indem fast nur ungesunde Lebensmittel beworben werden und dass sie unsere Pressefreiheit unterminiert, weil die Medien versuchen müssen, möglichst positiv statt objektiv über ihre Werbegeldgeber zu berichten (20).

Gesellschaftliche Gegenmaßnahmen zur Energieeinsparung: Werbung so stark abbauen, wie irgend möglich

Werbung ist ein Klassiker beim sogenannten Gefangenen- oder Prisoners-Dilemma-Problem: Was für den Einzelnen individuell rational und von Vorteil ist, ist für die Gesamtheit irrational und von Nachteil. Nach dem zutreffenden Motto „wer nicht wirbt, stirbt“ muss praktisch jedes größere Unternehmen werben. Wenn das aber alle machen, löst es eine unsinnige Werbelawine aus, die allen zusammen und insbesondere der Allgemeinheit sowie der Umwelt schadet.

Es handelt sich um eine Art Wettrüsten: „Wer mehr Marketing betreibt, verschafft sich zwar vorübergehend einen Vorteil, zwingt damit aber die Wettbewerber nachzuziehen — bis einer dann die nächste Runde der Eskalation einläutet. Und da der Erste, der das tut, einen Vorteil davon hat, findet sich immer wieder einer, der läutet“ (21).

Solche Dilemma-Situation können nicht individuell, sondern nur gemeinsam gelöst werden. Und dazu gibt es verschiedene, denkbar einfache Maßnahmen, die sich zusätzlich zum Verbot von Leuchtreklame anbieten.

Steuerliche Abzugsfähigkeit von Werbeeinnahmen abschaffen

Momentan können Unternehmen in Deutschland ihren Aufwand für Werbung steuermindernd geltend machen. Also letztlich wird derzeit der Werbeaufwand bei uns subventioniert, indem er steuerbefreit wird. Man bräuchte also nur die steuerliche Abzugsfähigkeit von Werbeaufwand abschaffen, und schon würde sich Werbung für die Unternehmen um mehr als ein Drittel verteuern.

Diese simple Steuermaßnahme hätte gleich zwei Vorteile auf einmal. Zum einen würden die Steuereinnahmen anfangs vielleicht 13 Milliarden Euro pro Jahr einbringen (22). Zum anderen, und das wäre der eigentlich beabsichtigte Haupteffekt, würde Werbung dadurch deutlich teurer. Das dürfte den Werbeaufwand mittelfristig deutlich senken. Und genau das wäre ja der Zweck der Verteuerung: den heutigen unsinnigen Werbungsrüstungswettlauf einzudämmen und dadurch Energie einzusparen.

Abgabe auf Werbeaufwand

Die Abschaffung der steuerlichen Abzugsfähigkeit von Werbeaufwand allein wird auf Dauer jedoch nicht ausreichen, um Werbung wirklich dramatisch abzubauen. Man sollte daher in einem Stufenplan eine systematische Werbeverteuerung einführen, beispielsweise eine Abgabe auf Werbeaufwand, oder eine Extrasteuer auf Werbung, die von Jahr zu Jahr steigt, bis Werbung nach dem Vorbild der Tabak- oder Alkoholsteuer schließlich so teuer wird, dass wirklich nur mehr die allernötigste Werbung geschaltet wird.

Verbote für Kinderwerbung und für Bewerben schädlicher Produkte

Darüber hinaus sollten wir wie in Skandinavien Kinderwerbung abschaffen sowie Werbung für schädliche Produkte wie Alkohol, Tabak, Glückspiel und so weiter einstellen.

Fazit

Diese, weit über ein Verbot von Leuchtreklame hinausgehenden werbeeinschränkenden Maßnahmen sollen und würden mittelfristig zu einer starken Reduzierung der unsinnig hohen Werbeausgaben führen. Dadurch könnten unmittelbar, aber vor allem mittelbar enorme Mengen von Energie einspart werden. Darüber hinaus würden die Marktwirtschaft und das Funktionieren der Märkte gestärkt, weil weniger Konsumentenirreführung sowie weniger Energie- und Ressourcenfehllenkung stattfände (23).

Wenn es uns gelänge, kommerzielle Werbung zu Gewinnzwecken weitgehend abzuschaffen, hätten wir darüber hinaus mindestens eine Woche mehr Urlaub pro Jahr ohne ein einziges Produkt oder Dienstleistung zu entbehren. Aber vor allem hätten wir dann eine realistische Chance, endlich von dem Dogma des ständigen, immer mehr Energie verbrauchenden Wirtschaftswachstums wegzukommen.

In unserer Gesellschaft könnten endlich Gier und Immer-Mehr-Haben-Wollen schwächer und schwächer werden. Dadurch könnten wir langfristig zu einer menschlichen und umweltverträglichen Wirtschaftsweise kommen, die nicht nur die Menschen, sondern die gesamte Natur respektvoll und ehrfürchtig behandelt. Dann wären wir auch einen großen Schritt weiter auf dem Weg, dauerhaft Energie einzusparen.


Christian Kreiß „Werbung — nein danke: Warum wir ohne Werbung viel besser leben könnten


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.tagblatt.ch/wirtschaft/notfallplan-des-bundes-leuchtreklamen-abloeschen-sauna-verbieten-lifte-abschalten-dieser-plan-tritt-in-kraft-wenn-strommangel-herrscht-ld.2312608
(2) https://www.n-tv.de/politik/Aussenwerber-koennen-so-schnell-nicht-abschalten-article23561306.html
(3) https://www.handelsblatt.com/dpa/werbung-licht-aus-fuer-leuchtreklame-werbewirtschaft-schlaegt-alarm/28655644.html
(4) Vergleiche Kreiß, Christian: Werbung — nein danke. Warum wir ohne Werbung viel besser leben könnten, Europa Verlag, Berlin und München 2016.
(5) Die folgenden Ausführungen folgen sehr stark, zum Teil wortwörtlich, meinem Aufsatz: Wie Marketing unserem Planeten einheizt vom 31. August 2021: https://www.heise.de/tp/features/Wie-Marketing-unserem-Planeten-einheizt-6178252.html
(6) https://zaw.de/branchendaten/wirtschaft-und-werbung-2019/
(7) Kreiß, Werbung — nein danke.
(8) Faltin, Günter: David gegen Goliath. Wir können Ökonomie besser, Haufe, 2019, Seite 182 und folgende.
(9) Gürtler, Detlef; Kreiß, Christian: Der teure Schein. Über die Grenzen des Marketing-Wachstums
und den Weg zu einer vernünftigeren Ökonomie Eine Studie im Auftrag der Stiftung Entrepreneurship, veröffentlicht 5. Juni 2021: https://www.entrepreneurship.de/wp-content/uploads/2021/06/Studie_Der-teure-Schein-1.pdf.
(10) Graeber, David: Bullshit Jobs. The Rise of Pointless Work, and What We Can Do About It, Penguin, February 2019.
(11) Vergleiche Kreiß, Werbung — nein danke.
(12) Vergleiche Kreiß, Werbung — nein danke.
(13) Marshall, Alfred: Industry and Trade A Study of industrial technique and business organization; and of their influences on the condition of various classes and nations, Cambridge, 1919, http://socserv2.socsci.mcmaster.ca/econ/ugcm/3ll3/marshall/Industry&Trade.pdf, Seite 195 und folgende: „7. Werbung, die hauptsächlich kompetitiv ist, bedeutet immer soziale Verschwendung“.
(14) Vergleiche Pigou, Arthur C.: The Economics of Welfare, first published in 1920, New York, by Palgrave McMillan,1920, http://www.econlib.org/library/NPDBooks/Pigou/pgEW20.html, II.IX.22: „For, clearly, if each of two rivals makes equal efforts to attract the favour of the public away from the other, the total result is the same as it would have been if neither had made any effort at all. (…) In these circumstances the curve representing the social net products of successive increments of investment will indicate negative values throughout.”
(15) Vergleiche Galbraith, John Kenneth: The Affluent Sociey, Fourtieth Anniversary Edition, New York, Houghton Mifflin, 1998, Seite 124 und folgende.
(16) Gürtler/Kreiß, 5. Juni 2021, Der teure Schein.
(17) Kreiß, Werbung — nein danke.
(18) Fromm, Erich: Haben oder Sein? 6. Auflage, München, dtv, 1980.
(19) Vergleiche Kreiß, Christian: Geplanter Verschleiß. Wie die Industrie uns zu immer mehr und immer stärkeren Konsum antreibt und was wir dagegen tun können, Europa Verlag, Berlin und München, 2014.
(20) Vergleiche Kreiß, Werbung — nein danke.
(21) Gürtler/Kreiß, 5. Juni 2021, Der teure Schein.
(22) Offizieller Werbeaufwand in Deutschland von 45 Milliarden Euro mal 30 Prozent Gewinnsteuer ergibt 13,5 Milliarden Euro Steuermehreinnahmen.
(23) Vergleiche Kreiß, Werbung — nein danke.

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