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Krieg als Spaltpilz

Krieg als Spaltpilz

Der Ukrainekonflikt droht — wie andere Konflikte zuvor — die Opposition zu spalten.

Bei der aktuellen Aufregung um die Ukraine liegt der Vergleich mit Jugoslawien und Syrien auf der Hand. Im Jahr 2016 schrieb Julian Reichelt bei BILD zum Nahostkrieg einen Artikel mit dem Titel „O doch, es gibt gute und böse Bomben!“, denn der „derzeit beliebteste und erfolgreichste Satz der staatlich russischen Propaganda lautet: Es gibt nicht gute und böse Bomben“.

Dieses einseitige Urteil verletzt die Denklogik, dass nun mal alle Bomben töten. Der Artikel bei BILD vergleicht die Bomben der westlichen Koalition auf die Großstadt Mossul (Irak) mit den russischen Bomben auf Aleppo (Syrien).

Ähnlich hart parteilich ist die Haltung, die Boris Reitschuster zur Ukrainekrise vertrat, schon bevor dort der Krieg begann. Er wertet es als verbrecherisch, die territoriale Integrität der Ukraine infrage zu stellen, weshalb die Ukraine dringend den Schutz der NATO benötige.

Und Jahre zuvor hatte man schon unter dem Schutz derselben NATO in jahrelangen Söldnerkriegen Stück für Stück Teile von Jugoslawien abgespalten, bis zuletzt im Jahr 1999 die NATO selber sogar Serbien bombardierte, um die Abspaltung des Kosovo von Serbien zu erzwingen. Vorher war Jugoslawien ähnlich wie später Syrien, Libyen und so weiter ein Tummelplatz für Söldner aus aller Welt, die dort unter dem Schutz der NATO als „demokratische Rebellen“ Krieg führten. Ein unbekannter Balkan-Söldner sagte: „In der Heimat waren wir arbeitslos, hier werden wir als Helden angesehen“ (1).

Das Tückische daran ist, dass Söldner ohne Krieg wieder arbeitslos sind, mit ihnen kann man also beliebig lang Kriege führen, einen nach dem anderen. Genau das läuft in der Welt seit 1990 an vielen Orten, und es ist ein direkter Verstoß gegen das Machtmonopol der Nationalstaaten. Die Tendenz der Söldnerkriege, niemals enden zu wollen, beschrieb die berühmte amerikanische Historikerin und Autorin Barbara W. Tuchman (1912 bis 1989) bereits anhand des 100-jährigen Krieges zwischen Frankreich und England, der datiert wird auf 1337 bis 1453, in ihrem Buch „Der ferne Spiegel — Das dramatische 14. Jahrhundert“, erschienen 1978.

Würden wir heute das Vorbild Jugoslawien übertragen auf den Ukrainekonflikt, dann landen wir ungewollt bei der prorussischen Sicht, die nicht auf Russland begrenzt ist. Man könnte nämlich — falls der Gedanke erlaubt ist — in der Ukraine eine Autonomie der verschiedenen Nationen — prowestliche Ukrainer, Russen — fordern und diese Autonomie mit „freien demokratischen Wahlen“ statt mit Söldnerkriegen erreichen. Die Frage liegt doch auf der Hand: Warum geschieht das denn nicht? Die Minsker Vereinbarungen von 2014 — Ukraine, Russland, Deutschland, Frankreich — zur Autonomie des prorussischen Donbass wurden nicht eingehalten, und sie gelten als gescheitert, da dort der Söldnerkrieg nie aufhörte.

Die prowestliche Regierung der Ukraine trieb seit 2014 das Verbot der russischen Sprache in der gesamten Ukraine voran. Diese Feindseligkeit gegen alles Russische führte schon zur Zeit des Maidan 2014 dazu, dass es den Russen im Donbass zu viel wurde.

Eine geografische wie historische Nähe zu Stalingrad mag dabei mitgewirkt haben. Die Geografie führt in gewissem Sinne auch zu Parteilichkeit, denn liegt der Donbass etwa im Grenzbereich der USA oder liegt er bei Stalingrad?

Die Sturheit, mit der das verfolgt wird, erinnert an das altbekannte DDR-Lied „Die Partei, die Partei, die hat immer recht!“. In diesem Fall geht es um die beiden Parteien im Ost-West-Konflikt. Die westliche Partei stimmt immer gegen „den Kreml“ – oder Reitschuster direkt gegen „Diktator Putin“. Der Kreml stellte Forderungen gegen die NATO-Osterweiterung auf. Diese wurden zuletzt immer dringender, aber „der Westen“ — zum Glück nicht alle — bleibt einfach beim Narrativ von Boris Reitschuster, dass die NATO verteidigen muss und Putin der Aggressor ist.

Der Tagesspiegel demonstrierte am 22. Februar 2022 ungewollt ehrlich, wie stark diese Parteilichkeit ist, mit einem Artikel von Malte Lehming. Der — parteiliche — Titel lautet:

„Brzezinski-Buch von 1997 erklärt Putins Vorgehen: ‚Ohne die Ukraine ist Russland keine Großmacht.‘ Vor 25 Jahren beschrieb der US-Politikberater Zbigniew Brzezinski die Bedeutung der Ukraine für Russland. Sein Buch liest sich nun wie eine Prophezeiung.“

Die Gegenfrage dazu ist ganz einfach: Warum ist das Brzezinski-Buch von 1997 nicht eine Prophezeiung des amerikanischen Vorgehens? Hier ist die Parteilichkeit so stark geworden, dass – wie in andere Fällen – gar nicht mehr bemerkt wird, wie parteilich das ist.

Solche Diskrepanzen fallen den Deutschen mit einer östlich geprägten Geschichte statistisch häufiger auf als den westlich geprägten, für die „der Kreml“ immer noch nach Leichen riecht. Ein Grund für diesen Unterschied ist, dass in der früheren DDR und UdSSR die offizielle Staatsmeinung im privaten Bereich nicht galt. Man riss sogar Witze über die Staatsmeinung. Dies ist ein auch im Westen anerkannter Fakt.

Derselbe Fakt erklärt umgekehrt, wieso heute viele die Parteilichkeit nicht erkennen. Denn die westlichen „Qualitätsmedien“ gelten als seriös, selbst dann noch, wenn sie dazu auffordern, Andersdenkende wie eine Bedrohung zu behandeln. Diese Forderung ist schon fast faschistisches Benehmen. Der gewaltsame Regimechange auf dem Maidan 2014, der auf die NATO-unterstützten Söldnerkriege in Libyen und Syrien folgte, führte in vielen deutschen Familien dazu, dass man darüber nicht mehr miteinander reden kann. Die Staatsmedien haben genau das gefordert, die Andersdenkenden sogar privat auszugrenzen. Das ist der traurige Fakt.

Reitschusters scheinbar russenfreundliche Begründung

besteht im Beharren auf der Aussage, wer sich gegen Putin oder gegen Merkel äußere, der sei doch nicht gegen Russland beziehungsweise gegen Deutschland, sondern wie er, Reitschuster, von Herzen für die russischen Menschen und deren wunderbare Seele. Leider hat die russische Seele einige bittere Kriege hinter sich. Und die Russen zählen dazu auch die brutale Zeit der 1990er-Jahre, als das durchschnittliche Sterbealter russischer Männer auf 58 Jahre sank, während die „neuen Russen“ und Oligarchen teils sogar mit Bandenkriegen um die neue Macht kämpften.

Die Russlanddeutschen flüchteten damals nach Deutschland, die Juden nach Israel. Nur wer sich in diese Situation hineinversetzt, kann verstehen, dass die Russen mehrheitlich einen relativ „autoritären Staat“ wichtiger finden als ein Zuviel an „Demokratie“. Dass die russische Seele nun halt so ist, erläutert auch die professionelle Russlandkennerin Gabriele Krone-Schmalz in ihrem Vortrag vom 27. Oktober 2021, in dem sie die Absurdität der Kälte zwischen Westeuropa und Russland kritisiert. Es gebe keinen vernünftigen Grund für eine Feindschaft, Zusammenarbeit sei für beide Seiten wichtig.

Dieser glänzende Vortrag gehört nicht in eine Volkshochschule, sondern so etwas müsste man im Deutschen Bundestag oder einige Stufen höher erklären, ähnlich wie es Wladimir Putin selber im Bundestag 2001 versucht hatte. Gabriele Krone-Schmalz kritisiert die knallharte Parteilichkeit. Was sie feststellt, ist die große Geschichte: Schon seit 120 Jahren gibt es diesen Ost-West-Konflikt. Er nutzt den USA, aber nicht den Europäern (2).

Hier erhebt sich die Frage, ob der schon in den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts herrschende Ost-West-Konflikt nicht heute vergrößert wiedergekehrt ist. Denn der Konflikt zwischen dem Sowjetimperium und der „freien Welt“ endete eigentlich ja mit der Entspannungspolitik in der Wende-Ära um 1989.

Unterschiedliche deutsch-russische Narrative am Beispiel des Putin-Gorbatschow-Vergleichs

Nichts macht den Unterschied zwischen der deutschen und der russischen Seele so deutlich wie dieser Vergleich. Im Jahr 1988 erschien beim Ullstein-Verlag ein Buch von Alexander Sinowjew, das die Perestroika schon im Titel verspottete: „Katastroika – Gorbatschows Potemkinsche Dörfer“. Dies ist tatsächlich die russische Sicht auf die Perestroika. Es war eine Katastrophe, alles wurde schlimmer, sagte die Mehrheit der Russen. Mit dem Kommunismus waren sie schon vorher fertig. Der interessierte nicht mehr.

Und dann kam das Ehepaar Gorbatschow auf die intellektuell hochtrabende Idee, man müsse die restlichen Gedankengüter des Stalinismus bekämpfen – und den Alkoholismus zusätzlich. Die normalen Russen aber hatten völlig andere Sorgen. Sie ertrugen das Leben nicht ohne Alkohol, und sie dachten, Stalin sei längst tot, aber aktuell gebe es längst andere Hyänen. Haben sie da etwa falsch gedacht? Nur in Deutschland darf man das nicht sagen.

Für die Deutschen gilt Gorbatschow als seriös, für viele Russen ist er als derjenige, der nicht verhindert hat, dass am 26. Dezember 1991 — ohne die Bevölkerung zu befragen! — etwa 25 Millionen Russen über Nacht einem fremden Land aufwachten, wo man sie wie in der Ukraine oder in Litauen als eine unerwünschte, ja gefährliche Minderheit bekämpfte, selbst wenn sie keine Minderheit waren und wenn sie nur ihre eigene Kultur vertraten: die russische. Da Putin dies als eine Katastrophe bezeichnet hat, gilt er als aggressiv. Man behauptet, er wolle die osteuropäischen Staaten zurückholen in eine neue Sowjetunion. Ist Russland nicht groß genug? Darf Russland denn nicht verlangen, dass die NATO keine Raketen in der Nähe des früheren Leningrad und Stalingrad installiert? Bei solchen Themen verwendet man in Russland die historischen Namen.

Auch die russischen Kommunisten, die längst sozialdemokratisch wurden, würden heute nie gegen Patriotismus stimmen. Putin hat im Gegenzug ihren Glauben legitimiert, als er sich zur Forderung, das Lenin-Mausoleum am Roten Platz zu entfernen, gegen solche „Cancel Culture“ wandte. Sein Argument war, die Christen würden ja auch ihre Reliquien und Ikonen verehren. Hat er da falsch gedacht? Die Aussage 2+2=4 bleibt wahr, selbst wenn es ein Putin oder gar ein Lenin gesagt haben.

Dieser Ost-West-Konflikt ist älter als der frühere Konflikt mit dem kommunistischen Kreml

Jetzt betrachten wir den Ost-West-Konflikt noch globaler, weltoffener. Schon der deutsche Kanzler Bismarck hatte 1887 ein „geheimes Neutralitätsabkommen zwischen dem Deutschen Reich und dem Russischen Reich“, genannt der Rückversicherungsvertrag, abgeschlossen. Der Gedanke dabei war derselbe wie bei Gabriele Krone-Schmalz heute: Wenn beide Seiten, Deutschland und Russland, gegeneinander Krieg führen, nutzt das nur Dritten; wenn sie aber kooperieren, ergänzen sie sich, und das war schon der Fall seit der Ära der europäischen Aufklärung, die zeitgleich von Paris über Berlin bis Sankt Petersburg erfolgte.

Der deutsche Kaiser Wilhelm II. jedoch entschied anders als Bismarck und ließ sich in einen fatalen Zweifrontenkrieg hineinziehen, obwohl der russische Zar Nikolaus II. sein Cousin war. Diesen Vorgang hatten deutsche Vorfahren kommentiert, indem sie den Kaiser nachträglich einen „dummen Willi“ nannten. Diese Geschichte habe ich gehört; früher hatten alte Männer oft solche Geschichten aus dem Leben erzählt. Sie erzählten auch, welche Art Krieg für die Amerikaner typisch sei — bitte mir jetzt keinen Populismus vorwerfen!

Das globale Problem ist oder war, wie gesagt, dass Deutschland keinen Nutzen von einer Feindschaft zu Russland hat, dass es aber in einem Zweifrontenkrieg gewaltigen Schaden erleidet. Und diese Situation haben wir heute schon wieder einmal, wie viele Europäer beim Kampf der USA gegen Nordstream 2 wohl bemerkt haben.

Wie tickt Putin? Ist er auf ewig ein KGB-Mann oder was?

Die unglaublich starre Feindschaft des „freiheitlichen“ Reitschuster gegen den „diktatorischen“ Putin ist nicht neu, sondern es ist seit Jahren sein journalistische Markenzeichen, das heißt, seine Karriere beruht darauf — Reitschuster bei FOCUS wie Reichelt bei BILD. Reitschuster schrieb zwei Bücher zur wahnsinnigen Gefährlichkeit von „Putins Demokratur“. Sichtbar wird das beim Studiotalk 2014 auf Phoenix, wo Paul Schreyer die Heftigkeit der Putinkritik zurückweist: Wie tickt Putin? Studiotalk mit Paul Schreyer und Boris Reitschuster, Teil 1 am 2. Dezember 2014.

Ob Putin heute immer noch wie ein KGB-Mann denkt — was Reitschuster behauptet —, ist ein falsch gestelltes Problem, eine Täuschung. Denn es ist leicht zu sehen, dass Jelzin, Putins Vorgänger, wie viele andere auch bei den Kommunisten war. Dasselbe gilt für den größten Putinfeind Chodorkowski, der heute in den USA das Institute of Modern Russia betreibt. Selbst bei diesem Thema ist der frühere Konflikt zwischen dem Kommunismus und der „freien Welt“ weniger wichtig als der heutige Ost-West-Konflikt. Entscheidend ist heute, wie sich die Politiker im aktuellen Ost-West-Konflikt positionieren. An den Kommunismus hatte man in der Sowjetunion nach 1970 schon nicht mehr geglaubt.

Das Gleiche gilt in anderen Ländern, wenn ein Regimewechsel stattfindet. Nach 1945 wählte man in Deutschland auch Funktionäre aus der Nazizeit; nach 1989 wählten die Deutschen auch Vertreter der Blockparteien aus der DDR. Die Ost-CDU wurde Teil der West-CDU. Die Ost-Liberalen (LDPD) wurden Teil der FDP. Allgemein wählt man meist Leute, die als Politiker verfügbar sind. Insofern ist es das Übliche, dass in den Nachfolgestaaten der UdSSR Ex-Kommunisten zu führenden Politikern im neuen System wurden. Man kann ja nicht alle neuen Politiker aus den USA importieren, wie es in Osteuropa oft geschah.

Wie die „russische Seele“ zur Freiheit und zu einem autoritären Staat steht

Wenn das Schlagwort Diversität nicht lügt, dann müsste man einsehen, dass die Russen emotional stark anders ticken als die Deutschen. In der DDR war das ein Dauerthema. Das Wort Russifizierung war im Beruf synonym zu Schlamperei, dagegen war die „russische Seele“ meist beliebt. Die Russen sind als Volk an der Basis freiheitsliebender als die Deutschen; als Gesamtnation glauben sie, dass eine relativ autoritäre Staatsführung nötig ist, um Chaos und mafiöses Verhalten zu bändigen. Wenn jeder macht, was er will, dann droht Chaos. Dies steigert sich noch, wenn „Großkotze“, man nannte sie die „neuen Russen“, reich werden wollen. Diese russische Eigenart hat sich in den chaotischen 1990er-Jahren erneuert.

Für die Russen war Putin der Präsident, der gegen das Chaos kämpft. Putin in Russland und Assad in Syrien haben die große Mehrheit des Volkes hinter sich. Man darf dies im Westen nur nicht sagen, dann gilt man als „Feind unserer Demokratie“. Die Dialektik führt zur Gegenfrage: Ob „unsere Demokratie“ vielleicht der Feind anderer Länder ist, die wir ständig bestrafen, bis sie sich den Chinesen zuwenden?

Die hohe Zustimmung der Russen und Syrer zu ihrem „Diktator“ sparen Boris Reitschuster und Julian Reichelt konsequent aus. Da Reitschuster viele Jahre in Russland gelebt hat, müsste er wissen, wie die „normalen“ Russen sind. Freundschaft mit dem normalen Volk und Freundschaft mit speziellen Intellektuellen ist allerdings ein großer Unterschied. Auch bei uns sortieren sich die Intellektuellen in Grüppchen, die sich wechselseitig sogar fremd sind. Hat Reitschuster das vergessen? Bei uns herrschen Drohungen gegen „autoritäres Gedankengut“ so intensiv, dass diese Ideologie zu einer Lüge wird.

„Die Toleranz wird ein solches Niveau erreichen, dass intelligenten Menschen das Denken verboten wird, um Idioten nicht zu beleidigen“ (Fjodor Michailowitsch Dostojewski).

Staatliche Autorität war in Russland nötig gegen die mafiösen Machtkämpfe. Russland ist weniger autoritär als China. Immerhin war es die Leistung Putins, so sagt man, dass er die Oligarchen so weit in den Griff bekommen hat, dass sie nicht mehr direkt in die Politik des Kreml eingreifen können. Brüssel träumt nicht einmal von einer Befreiung von den „freiheitlichen“ Oligarchen, die das Machtmonopol des Staates aushöhlen. Allein dieser Konflikt um Macht — der Kreml gegen Oligarchen — dürfte nicht weniger gefährlich gewesen sein als das, was die beiden Brüder Kennedy einst bewog, die Demokratie der USA erneuern zu wollen. Putin hatte einfach bessere Karten, weil er einen Geheimdienst hinter sich statt gegen sich hatte.

Die ideologische Parteilichkeit für „Freiheit“ gegen „Unfreiheit“ nervt

Journalisten im Westen dürfen ein Zerrbild der Realität entwerfen, wann immer sie parteilich für „westliche Freiheit“ stimmen. Wir Deutschen sollten auf eine undialektische Feindschaft „der Freiheit gegen Autorität“ nicht mehr hereinfallen.

Selbst in der Kindererziehung ist bekannt, dass ohne Autorität nicht jedes Problem lösbar ist. In der Geschichte seit der Antike war die Demokratie oft in Chaos entgleist, gegen das eine Autorität — welche auch immer — benötigt wurde. Von „Pöbelherrschaft“ und so weiter sprachen schon die antiken griechischen Denker seit Aristoteles. Vernünftige Autorität kann auch Voraussetzung für Freiheit sein, speziell da, wo allgemeines Chaos, Hetze, Meinungskrieg und Mobbing herrschen.

So zu tun, als sei Autorität immer der Feind von Freiheit, ist eine Lüge. Autorität kann genauso eine Voraussetzung für Freiheit sein. Jeder von uns findet genug Beispiele dafür in allen Lebensbereichen, wenn er ehrlich ist.

Boris Reitschuster und Julian Reichelt waren zwar mutig als Kritiker der COVID-Religion, aber sie müssten wissen, dass nicht nur sie allein angegriffen werden. Es ist allgemein so: Wer bestimmte Wahrheiten mutig ausspricht, erregt einerseits großes Aufsehen, das kann aber auch Gegenangriffe auslösen. Auffällig ist in der Corona-Ära, dass viele Meinungsschaffende, die auf der einen Seite besonders mutig waren, plötzlich viel mehr regimetreu sind als der Durchschnitt, wie zum Beispiel Noam Chomsky als Linker, Peter Sloterdijk als Konservativer, Boris Palmer bei den Grünen. Dass auch der Mut zur Wahrheit Grenzen hat, formulierte schon John Swinton 1883 in seiner berühmten Rede im Twilight-Club:

„Wir (die Journalisten) sind Werkzeuge und Dienstleute reicher Männer hinter der Bühne. Wir sind Hampelmänner. Sie ziehen die Fäden und wir tanzen. Unsere Zeit, unsere Fähigkeiten, unser Leben, unsere Möglichkeiten sind alle das Eigentum anderer Menschen. Wir sind intellektuelle Prostituierte.“

Wer bleibt der „Sieger der Geschichte“ nach 1945 und nach 1989?

In der DDR waren es Erich Honecker und Genossen, die stur darauf beharrten, sie seien wegen 1945 immer noch „Sieger der Geschichte“. Wissenschaftler finden sich, die den Glauben ihrer Geldgeber gern bestärken. Nach 1989 staunten zunehmend mehr Ostler darüber, wie der Westen sich nun für das „Ende der Geschichte“ erklärte (Fukuyama). Die Funktionäre glauben — abhängig von Ranghöhe und Pfründe — heute schon wieder, „unsere Demokratie“ müsse ewig gelten und gegen „Demokratiefeinde“ kämpfen, wobei übrigens nicht mal der Begriff „unsere Demokratie“ neu ist — nur die Funktionäre sind neu. Und leider sind sie viel zahlreicher geworden als in der DDR, neuerdings verstärkt um ein Heer von Gesundheitsaufsehern.

Dass auch Demokratie absterben kann, hatte man schon in der Antike oft erlebt. Also wieso hat nun der Westen gegen den Kreml auf ewig gewonnen? Müssen wir Lenin/Stalin ewig als Untote leben lassen, damit es im Kreml weiter nach Leichen riecht?

Dazu passt ein böser Witz, den man früher in der Sowjetunion erzählte. Der Witz geht so: „Wir gehen heute ins Theater.“ — Frage: „Was wird denn gespielt?“ — „Der lebende Leichnam“ (ein Stück von Tolstoi). – Antwort: „Nein, ich mag nicht. Nicht schon wieder Lenin.“

Diesen Witz führen heute live viele westliche Journalisten auf. Richtig ulkig sind etwa bei „Tichys Einblick“ die Artikel über die Angst der Tyrannen im Kreml. Eine hellseherische Kreml-Deutung ist der Artikel von Wolfgang Herles, der sogar mit der Länge des Tisches zwischen Putin und Macron ein uraltes Märchen neu aufwärmt, wie man nur Leichen im Keller aufwärmen kann: „Die Angst der Tyrannen und Tyrannei der Angst“, denn es sei „in der Weltgeschichte kein einziger Tyrann bekannt, der nicht unter Verfolgungswahn gelitten hat“.

Woher kennt Herles denn diese Angst? Und die Einsicht in Putins Seele sieht Herles bestätigt durch die Länge des Tisches, der zwischen Putin und Macron stand. Aber über die Länge des Gesprächs — 5 Stunden — der beiden Präsidenten, die sich sogar duzen, verliert Herles kein einziges Wort, auch nicht über die vielen Telefonate der beiden.

In dieser fatalen Situation möchte man den einseitig westlich orientierten Journalisten am liebsten zurufen „Bitte aufwachen!“ und „Bitte Wokeness!“ — als doppelten Zuruf von rechts und von links, denn wir sind doch längst im 21. Jahrhundert angekommen! Und wenn sich schon die einseitig Liberalen so gern negativ berufen auf Karl Marx als angeblichen Verursacher allen Übels im Kreml: Karl Marx starb 1883, im gleichen Jahr, als John Swinton 1883 seine Rede im Twilight-Club hielt.

Es ist leider auch Fakt, dass die Meute der Journalisten vor der Jahrhundert-Katastrophe des Ersten Weltkriegs einen großen Beitrag zum Krieg geleistet hatte. In den 1890er-Jahren gab es eine riesige Friedensbewegung in allen beteiligten Ländern. Die dennoch wachsende Kriegsstimmung beschreibt eindringlich und großartig Barbara Tuchman ihrem Buch „Portrait der Welt 1890-1914“. Sie schildert darin auch den Kriegsgegner Thomas Bracket Reed, der als Republikaner Speaker des US-Kongresses war und den die wahnsinnige Aufregung nervte, die dort zwischen den Parteien stattfand — eigentlich dasselbe wie heute. Dieser mutige Kriegsgegner war berühmt für satirische Bonmots wie:

Alle Weisheit dieser Welt besteht darin, mit den Wölfen zu heulen.“

Die Deutschen sollten heute mal über diesen Satz nachdenken und in Büchern von Barbara Tuchman nachlesen, wie man Länder kaputt regieren und in Dauerkriege verwickeln kann.


Quellen und Anmerkungen:

(1) zitiert nach Wikipedia-Seite „Söldner“, abgerufen am 22. Februar 2022
(2) Gabriele Krone-Schmalz: Eiszeit mit Russland? Herausforderungen der deutsch-russischen Beziehungen, Forum VHS am Neumarkt Köln vom 27. Oktober 2021 https://www.youtube.com/watch?v=333YhKG-c7s
Der französische Intellektuelle Thierry Meissan reflektiert seit Jahren auf dem durch seine Initiative ins Leben gerufene Netzwerk Voltaire die Hintergründe der meist von Söldnern durchgeführten Kriege um Vorrangstellung in der Welt und bringt auf dieser Seite auch eine Serie zur Eskalation des Ukraine-Konfliktes „Steigende Spannungen“, hier Nr. 6: Zwei Interpretationen des ukrainischen Falles.

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