Auf meinem Schreibtisch liegt die aktuelle Ausgabe der französischen Zeitung „Fakir“. Sie trägt den Titel „L’Entraide — l’autre loi de la jungle, la vraie loi de la société“: Gegenseitige Hilfe — das andere Gesetz des Dschungels, das wahre Gesetz der Gesellschaft. Im dazugehörigen Artikel erklärt Pablo Servigne, ein französischer Forscher und Agrarwissenschaftler, dass der russische Prinz Pjotr Alexejewitsch Kropotkin von Darwins Hauptwerk „Über die Entstehung der Arten“ begeistert war und den Luxus am Hof hinter sich ließ, um in Sibirien eigene Forschungen zu betreiben. Und jetzt wird es interessant, denn er beobachtete beinahe das Gegenteil der verbreiteten Theorie von Darwin:
„Wer überlebt? Nicht die stärksten Tiere oder Pflanzen, sondern diejenigen, die am meisten zusammenarbeiten. Darwin machte seine Beobachtungen in tropischen Gefilden, wo Überfluss vorherrscht, Überfluss an Wärme, Licht. Da, wo das Lebendige seine Energie für Kriege, für Konkurrenz verschwenden kann. In feindlichen Gefilden, in der Kälte Sibiriens, darf man keine Energie verschwenden, man muss zusammenarbeiten, um zu überleben“ (1).
Pablo Servigne führt aus, dass auch Darwin selbst ähnliche Beobachtungen bei den Bienen machte, von denen sich einzelne bei Gefahr opfern, um die Gruppe zu retten, und deren Spezies mit diesem Altruismus seit Millionen Jahren überlebt. Also ergänzte Darwin seine Theorie und folgerte:
„‚Es besteht kein Zweifel, dass die Stämme, die viele Mitglieder besitzen, die stets bereit sind, anderen zu helfen und sich für das Gemeinwohl zu opfern, über die anderen Stämme siegen. Und darin besteht die natürliche Auslese.‘ Es geht also um natürliche Auslese auf Ebene der Gruppe (und nicht des Individuums), es ist der Zusammenhalt in der Gruppe, die Kooperation, die es ermöglichen, besser zu überleben als die anderen“ (1).
Auch der deutsche Förster und Autor Peter Wohlleben wird in diesem Artikel erwähnt. Er widmet sein Leben dem Schutz alter Buchenwälder und bezeichnet die Vernetzung der Bäume untereinander als „Wood Wide Web“. Auf seiner Website lese ich:
„Erstaunliche Dinge geschehen im Wald: Bäume, die miteinander kommunizieren. Bäume, die ihren Nachwuchs, aber auch alte und kranke Nachbarn liebevoll umsorgen und pflegen“ (1).
Während in unserer Gesellschaft immer wieder die Konkurrenz als Naturgesetz für das Überleben hochgehalten und Darwins Forschungen für die Untermauerung dieses Prinzips missbraucht werden, sieht das Leben in der Natur ganz anders aus. Konkurrenz gibt es natürlich auch, aber sie tritt nur vereinzelt auf, da sie laut Pablo Servigne eine Stressquelle ist, die uns Kraft kostet und gefährlich ist (1).
Es wird höchste Zeit, dass wir uns an unsere natürlichen Wurzeln erinnern und lernen, wieder besser zu kooperieren. Aus diesem Grund widmet Jens Lehrich die neue Ausgabe der „Guten Nachrichten“ diesem wichtigen Aspekt, der nicht nur für den Wandel zu einer menschlicheren Gesellschaft, sondern für das Überleben der Menschen unverzichtbar ist.
Wo können wir ansetzen, um wieder besser zu kooperieren? Indem wir uns informieren und nicht länger gegeneinander aufhetzen und manipulieren lassen. Indem einzelne von uns für die Gemeinschaft neue Wege ebnen, wie etwa der Hamburger Arzt Heiko Schöning, der auf spielerische Weise schon bei jungen Menschen das Prinzip der gegenseitigen Hilfe fest im Hirn verankern möchte und dafür ein Gesellschaftsspiel entwickelte. Schöning fand ein altes, kaum bekanntes Werk von Rudolph Diesel zum Solidarismus so inspirierend, dass er sich als unabhängiger Kandidat zur Europawahl stellt, um die europäische Politik aktiv mitzugestalten.
Dafür braucht er allerdings die Unterstützung der Gemeinschaft in Form von 4.000 Unterschriften bis Ende Februar. Heute können Sie also konkret mit der Kooperation beginnen, indem Sie sich auf wirkraft.org ausführlicher über ihn informieren und Heiko Schöning mit Ihrer Unterschrift unterstützen.
Beim Thema der Kooperation bemüht auch Jens Lehrich die Theorie von Charles Darwin über das „Survival oft the Fittest“ und klärt uns über den lange verbreiteten Irrtum auf, dass dies nicht „der Stärkste überlebt“ heißt, sondern: der am besten Angepasste. Und darin liegt die gute Nachricht für uns als Menschen, wie Hirnforscher Gerald Hüther bestätigt. Denn unser Gehirn, also auch wir, sind anpassungsfähig!
Wir können jederzeit unsere Gehirnstrukturen in Richtung eines gesunden Zusammenwirkens neu formen. In diesem Zusammenhang geht es wieder um die Natur und unsere Entwurzelung von ihr. Ein erster Schritt kann darin bestehen, in den Wald oder Park zu gehen und selbst zu spüren, was das mit uns macht, einfach um die Verbindung wieder aufzunehmen.
Nicht nur die Pflanzen sind untereinander verbunden, sondern auch wir mit ihnen und mit allem Lebendigen. Wenn wir uns vom Lebendigen in der Natur und in uns selbst trennen lassen — was im Sinne der Konkurrenz predigenden Eliten ist — verlieren wir unsere Kraft und werden zu menschlichen Robotern, die von anderen fremdgesteuert Profit generieren. Umgekehrt bedeutet es aber auch, dass wir eine extreme Kraft entwickeln können, wenn wir öfter in die Natur gehen und uns daran erinnern, dass wir nur als Gemeinschaft miteinander und der Natur überleben können. Wenn wir Dankbarkeit und Demut gegenüber der Erde kultivieren, denn — und das ist eine weitere gute Nachricht:
„Unser Planet sorgt für uns, nicht wir für ihn“ (2).
Das nimmt uns den Druck des Irrglaubens, den Planeten retten zu müssen, den Druck, der uns allzu oft von den Bereichen ablenkt, in denen wir wirklich etwas bewegen können — in unserem direkten Umfeld. Am Ende treffen wir immer wieder auf dieselbe Botschaft: Der Wandel beginnt in und bei uns selbst.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Journal Fakir, Dezember 2018/Januar 2019, Seite 9 bis 13 (deutsche Übersetzung durch die Autorin).
(2) Lynn Margulis, „Der symbiotische Planet oder Wie die Evolution wirklich verlief“, Westend 2018.