Wer kann eigentlich das Wort „Reform“ noch hören? Es ist definitiv verbraucht. Nach der „Agenda 2010“ und anderen Polit-Geistesblitzen der Vergangenheit entlockt der Begriff politisch informierten Menschen nur noch ein entnervtes Aufstöhnen.
Auch die „Revolution“ ist eine zweischneidige Sache – ist es doch nicht allein ein böswilliges Herrschaftsnarrativ, dass solche Totalumstürze oft äußerst gewalttätig verlaufen und nicht unbedingt humane neue Herrscherkasten hervorbringen.
Wie wäre es aber mit „Reformation“? Diese Bezeichnung wirkt auf viele Leserinnen und Leser vermutlich wenig anziehend, die ihre Erfahrungen mit protestantischen Glaubensgemeinschaften eher mit moralischem Mief und uninspirierten Religionsroutinen verbinden. Auch Martin Luther als Reformator ist wegen seiner zahlreichen antisemitischen, frauenfeindlichen und antisozialen Ausfälle für viele kein Vorbild. Mir geht es hier aber überhaupt nicht um die inhaltliche Ausrichtung von „evangelisch“ oder „katholisch“, sondern um das Prinzip: zwei Kirchen mit abweichender Weltanschauung, deren Mitglieder halbwegs friedlich mit- oder nebeneinander leben, auf ein- und demselben Boden.
Das Beispiel ist interessant, weil es vorbildhaft für einen Aufbruch sein könnte, der im Umfeld einer neoliberalen und im Jahr 2020 auch Corona-hysterischen Meinungsmonokultur heute dringend notwendig wäre. Im Mittelalter gab es nur eine einzige Kirche – die katholische. Die Mitgliedschaft in dieser Kirche war in einem bestimmten geografischen Raum quasi unumgänglich, weil sie ein Individuum sozial schützte und trug. Dann kam Martin Luther und „erfand“ Anfang des 16. Jahrhunderts eine zweite Kirche, eine Parallelkirche mit ähnlichen Funktionen und Institutionen wie die katholische, jedoch mit teilweise davon abweichenden Werten und Ritualen.
Heute gibt es neben diesen beiden großen Kirchen noch viele weitere spirituelle Wege, die in der Regel unbehelligt mit den christlichen koexistieren können – von neueren Tendenzen zur „Islamophobie“ abgesehen. Das Monopol der einen Kirche auf religiöse Sinnstiftung und religiöse Dienstleistung ist aufgehoben. Mit Luther gab es einen Riss in der Decke der scheinbar allumfassenden Gültigkeit des katholischen Prinzips. Immer wenn ein Paradigma sich als „alternativlos“ aufspielt und damit das geistige Leben einer Gesellschaft zu ersticken droht, wenn es sich außerdem in hohem Maße unglaubwürdig macht und „Glaubensgehorsam“ nur noch durch massiven Zwang und Manipulation zu erreichen vermag – dann ist es Zeit für eine „Reformation“.
Während Reformen nur einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit zu verbessern suchen – und ihn oft genug verschlimmbessern – zielt eine Reformation auf das Ganze der geistigen und organisatorischen Orientierung einer Gesellschaft. Sie ist radikal im Sinn von „an die Wurzeln gehend“.
Eine solche Reformation gleicht der von Rudi Dutschke so genannten „systemabschaffenden Reform“. Allein durch die Existenz einer praktikablen Alternative wird Druck auf die Vertreter des alten Paradigmas ausgeübt, der zu Veränderungen führen kann. Wir haben gesehen, wohin die Idee einer „unipolaren Weltordnung“ nach dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts geführt hat.
Politische Reformation?
Wenn man hier weiterdenkt, könnte man sagen: Dem dominierenden weltlichen Glaubenssystem unserer Zeit – dem Glauben an die unfehlbare Gestaltungsmacht des Marktes – sollte, da seine mangelnde Integrität auf vielen Feldern erkennbar wird, via „Reformation“ eine Alternative gegenübergestellt werden. Diese Alternative sollte sich in Form ideeller Gemeinden organisieren – ergänzt durch überregionale Netzwerke. Alternative Formen des Wirtschaftens – etwas die Regionalwährungen – stellen schon jetzt funktionierende Gegenentwürfe auf Gemeindeebene dar. Man vergleiche dazu etwa die Parallelwährung „Chiemgauer“ in Südostbayern.
Von solchen Geldexperimenten und anderen Einzelprojekten kann man nicht erwarten, dass sie die Gesamtheit der systembedingten Mängel in einem vom Marktradikalismus dominierten Staat in Angriff nehmen. Eine politisch aktive Gemeinde, wie sie mir vorschwebt, sollte daher stets einen größeren Entwurf im Auge behalten. Ich glaube, dass die alte Welt mit ihren Werten, ihren Wirtschafts- und Organisationsformen so oder so zum Untergang verurteilt ist. Nicht weil wir das so wollen oder weil wir die Macht hätten, dies im Alleingang zu erzwingen, sondern weil das System so geschaffen ist, dass es von allein kollabieren wird. Die Blase wird platzen, die Titanic wird untergehen – speziell auch auf dem wirtschaftlichen und ökologischen Sektor.
Worum es jetzt geht, ist, Rettungsboote zu bauen für möglichst viele. Was sterben wird, sind vor allem veraltete Wertvorstellungen, Ideologien und Scheinsicherheiten. Es wird in den nächsten Jahren wirtschaftliche Probleme geben und vor allem beträchtliche Probleme in den Köpfen und Seelen all derer, die das Geschehen innerlich nicht mitvollziehen können, weil sie von ihm überrascht und völlig aus der Bahn geworfen werden. Corona hat diesen Prozess als Ganzes nicht initiiert, wohl aber beschleunigt und wie unter einem Brennglas sichtbar gemacht.
Eine neue 68er-Bewegung?
Auch mit der Idee einer „neuen 68er-Bewegung“ sympathisiere ich – schon deshalb, weil damals bei vielen Menschen ein fundamentaler Wandel auf vielen Ebenen stattfand. Das betraf unter anderem Politik und Kultur, Familienstrukturen und Sexualität, Erziehung, Denken, Wissenschaft und – für einen Teil der dafür offenen Menschen – auch die Spiritualität. Ein kreativer, experimentierfreudiger und antiautoritärer Geist erfasste viele Lebensbereiche.
Es gibt jedoch einen wesentlichen Unterschied zu 1968. Die Lage ist heute dramatischer, die Herausforderung ist für die 2020er Jahre ungleich größer. Es geht darum, die alte Ordnung quasi abzuwickeln und gleichzeitig eine neue Ordnung aufzubauen. Nicht etwa „auf den Trümmern“, wie man pathetisch sagen könnte, sondern schon jetzt, so lange die alten Strukturen leidlich funktionieren und das schwerfällige Schiff die „Passagiere“ noch eine Weile tragen kann.
Wir können mit dem Bau von Rettungsbooten nicht erst dann beginnen, wenn das Schiff schon gesunken ist.
Halten wir uns noch einmal vor Augen, warum wir auf die Organisationsformen und Denkmuster der alten Ordnung nicht vertrauen können, warum speziell die momentane „Parteienlandschaft“ – unabhängig davon, ob sich innerhalb von ihr die Machtverhältnisse etwas verschieben – ungeeignet ist, die anstehenden Probleme zu lösen. Ich habe zu diesem Thema in meinem Artikel „Demokratie auf Abwegen“ etwas ausführlicher Stellung genommen.
Das Sterben wirklicher Opposition
Bei der Großdemonstration am 29. August in Berlin trat der junge Grünen-Abgeordnete Claudio Siber auf der Hauptkundgebung auf. In einer bewegenden Rede rechnete Siber mit seiner Partei ab.
„Ich habe lange Zeit gedacht, meine Partei würde sich kritisch auseinandersetzen, wenn ich ihnen alle Fakten vorlege. Ich wollte, dass meine Partei die Partei ist, welche den Menschen die Angst nimmt. Es ging mir darum, den Schaden von SARS-Cov-2 und insbesondere die Folgeschäden der Maßnahmen zu minimieren.“
Denkste: Die Grünen, denen Claudio Siber ein gut informiertes Positionspapier zu Corona vorgelegt hatte, entschieden regierungstreu für den Lockdown. Jeder Diskussionsversuch wurde auf kommunaler Ebene abgewürgt. „Ich wurde ausgegrenzt und stigmatisiert.“ Und dies aufgrund einer einzigen Expertenmeinung, der von – raten Sie! – Christian Drosten.
„Er hat uns gesagt, über eine Million Menschen werden in der Intensivstation liegen und über 100.000 Menschen in Deutschland werden sterben, wenn wir keinen Lockdown machen. (…) Ich fragte nach und wollte wissen, ob das die alleinige Entscheidungsgrundlage war für die Partei Bündnis90/Die Grünen, um im Parlament über den Lockdown abzustimmen. Vollkommen klar: Ja, das war so. (…) Mein Widerspruch, dass wir schon lange Daten und Studien haben, z.B. in meinem Schreiben, wurde quittiert mit Hohn.“
Siber konnte die Politik der Ex-Idealisten nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren. Egal, wie wir das gemischte Publikum auf dieser Demonstration einschätzen: Sibers Auftritt ist ein Dokument politischen Mutes, das zeigt, wie weit die innerparteiliche Demokratie – und die Demokratie überhaupt – in diesem Land heruntergekommen ist. „Die Aufgabe der Opposition ist die Kontrolle der Regierung. Grundrechte einzuschränken, ohne sich ein eigenes Bild zu machen, ohne kritisch zu sein, ohne eigene Experten, ist keine Kontrolle. (…) Wir haben zurzeit überhaupt keine Opposition“, so Sibers bittere Bilanz.
Zwei Tage nach dieser Rede wurde Claudio Siber von der Grünen-Fraktion der Flensburger Ratsversammlung ausgeschlossen. Das Parteien-Establishment duldet keine eigenständigen Denker. Nicht einmal einen Vorzeigerebellen als Feigenblatt wollten die Mainstream-Dogmatiker gelten lassen. Stattdessen setzen sie auf verschärfte Repression nach innen und auf den Abschreckungseffekt, den ein hart sanktionierter Abweichler auslöst.
Perfekt funktionierende Gehirnwaschanlage
Das politische System funktioniert offenbar wie eine Gehirnwaschanlage. Politiker unterliegen dort einem enormen Anpassungsdruck. Wer nicht passt, wird passend gemacht. Um weiter oben zu schwimmen, müssen Aspiranten auf verantwortungsvolle Posten entweder ihre Meinung anpassen oder unangepasste Seelenregungen geschickt verheimlichen – so lange, bis ihnen niemand mehr anmerkt, dass sie „eigentlich“ Rebellen sind. Diese Art der Konformität beziehungsweise Konformitätssimulation zeigt sich auf der politischen Bühne überdeutlich – beim Thema Corona noch beklemmender als anderswo.
Wir erkennen „ex negativo“, also aus der Erkenntnis dessen heraus, was nicht funktioniert, dass wir kraftvoll am Aufbau des Neuen arbeiten müssen, bevor das Alte abgewickelt ist. Es geht um den Aufbau paralleler Strukturen, die mehrere Zwecke erfüllen.
Dem Alten „Energie“ und Aufmerksamkeit entziehen, sodass es nach und nach an Kraft verliert. Dies bedeutet zum Beispiel, die Propagandaangebote des „Mainstreams“ weitgehend zu ignorieren und auch nicht mehr auf Politiker wie ein Kaninchen auf die Schlange zu starren, um ängstlich zu erkunden, was diese gerade von uns wollen.
Weitgehend ungestört nach „alternativen“ Wertvorstellungen leben können. Stellen wir uns zum Beispiel das Gemeinschaftsgebäude einer Wohnsiedlung vor, in dem der „draußen“ existierende Maskenzwang faktisch nicht mehr existiert, weil niemand mehr ihn anmahnt und niemand Verstöße bei der Obrigkeit anzeigen würde. Oder an Orte, wo eine vegetarische oder vegane Ernährung Usus ist und sich durch Tierleid erzeugte Nahrungsmittel nirgendwo mehr aufdrängen.
Sich der Vereinnahmung, Erpressung und Verlockung durch das „Alte“ entziehen. Ein konkretes Beispiel: Obwohl ich derzeit quasi Regimegegner bin, unterliege ich keinem finanziellen Druck, meine Meinung anzupassen. Dies ist möglich, weil ich beim Rubikon angestellt bin. Um Meinungs- und Gewissensfreiheit für möglichst viele zu erreichen, müssen mehr Jobs im „alternativen“ Bereich entstehen. Die Angehörigen einer die destruktiven Altstrukturen verneinenden Weltanschauung sollten einander nach Möglichkeit gegenseitig unterstützen. Dazu gehört auch, sich durch eine bessere Auswahl von Informationsmedien und Unterhaltungsprogrammen sowie durch veränderte Einkaufs- und Lebensgewohnheiten negativen Konsumanreizen, so gut es geht, zu entziehen.
Unter Gleichgesinnten leben, ohne den Kontakt mit Andersgesinnten grundsätzlich abzulehnen. Es ist gut, sich mit Menschen, die einer anderen Weltanschauung und einer anderen Lebensweise anhängen, auszutauschen. Auf die Dauer kann es aber erschöpfend sein, immer gegen den von „außen“ ausgeübten Anpassungsdruck anzukämpfen. Schließlich färbt das „Normalo-Umfeld“ dann doch auf kreative, selbständig denkende Menschen ab. Bei Gleichgesinnten kann man Kraft tanken, sich entspannen und Unterstützung für die eigene Überzeugung finden. Idealerweise wird man dann sein systemangepasstes Umfeld beeinflussen, statt nur von diesem beeinflusst zu werden. Wenn man sich vom „Mainstream“ weitgehend zurückzieht, vermeidet man auch zu viele verletzende Anfeindungen aus diesem Lager. Darüber habe ich in meinem Artikel „Widerstand als Lebensform“ einiges gesagt.
Rettungsboote bauen für den Fall, dass das große Schiff untergeht. Gerade ein Zusammenbruch unseres Wirtschaftssystems ist alles andere als eine ferne und unwahrscheinliche Zukunftsvision. Als Absicherung dagegen eignen sich zum Beispiel regionale Parallelwährungen, die den Geld- und Warenumlauf regional am Laufen halten könnten. Ebenso Kontakte zu regionalen Lebensmittelerzeugern und ganz allgemein gute Verbindungen zu anderen Menschen, sodass man einander im Notfall stützen kann.
Sofort handeln, anstatt zu warten, bis alle „bekehrt“ sind. Es kann dauern, bis alle oder auch nur die meisten Politiker und Bürger Vernunft angenommen haben. Die meisten von uns blicken ja auf eine lange Geschichte zerplatzter Hoffnungen zurück. Der ersehnte „Bewusstseinswandel“ bei der Bevölkerungsmehrheit lässt auf sich warten und erleidet immer wieder sogar empfindliche Rückschläge. In dieser Situation empfiehlt es sich, dass wir uns mehr auf uns selbst und auf das Umfeld „seelenverwandter“ Menschen verlassen. Wir können anfangen, aus diesem humaneren Bewusstsein heraus an einer besseren Welt zu basteln. Wir müssen dafür grundsätzlich weder den Ort wechseln noch lange warten. Fangen wir mit dem Naheliegenden an – mit dem, was wir gut können und wofür wir „brennen“. Und seien wir darin auch bei Rückschlägen beharrlich.
Das Freiheits-Archipel
Der libertäre Philosoph Horst Stowasser hat in seinem 2007 erstveröffentlichten Hauptwerk „Anarchie!“ einen solchen Weg der Gesellschaftsveränderung skizziert. Er nannte seinen „Dritten Weg“ – neben Reform und Revolution – auch „Projekt A“. Dabei geht es mir nicht darum, ausschließlich anarchistische Projekte zu empfehlen. Alle Versuche, ein neues Bewusstsein in der materiellen Realität zu verankern, könnten sich nach diesem Muster in einer noch im Alten verhafteten Gesellschaft ausbreiten. Stowasser zeigt bewusst sehr viele Optionen auf:
„Das können Läden, Kindergärten, Werkstätten, Wohngemeinschaften, Kulturprojekte, Kneipen, Bildungseinrichtungen, Manufakturen, Bibliotheken, Kommunen, Bauernhöfe, Verlage, Freizeitinitiativen, politische Gruppen, Dienstleistungsunternehmen, Aktionskomitees, Gesundheitseinrichtungen, Kooperativen, Freundeskreise, Altenprojekte, Nachbarschaftshilfen sein und vieles mehr. (…) Die Gesamtheit solcher Kleinkollektive bildeten eine Verflechtung, die nach innen als ‚Netz‘, nach außen als ‚Wurzelwerk‘ wirkten. Sie wären – neben den zahllosen Kontakten des sozialen Alltags – durch ein System von Versammlungen, Ausschüssen und Gremien in einer räteähnlichen Struktur miteinander verbunden“ (1).
Politik und Alltag würden auf diese Weise verschmelzen, denn das Alltägliche ist politisch, politisches Interesse und politische Aktivität werden alltäglich. Ein Permakultur-Garten ist ein umweltpolitisches Statement, weil er Ressourcen schont und Biodiversität ermöglicht. Und auch ein Solardach auf dem Haus ist politisch. Ebenso ein privater Besuchsdienst für ältere und einsame Menschen oder eine Begegnungskultur, bei der Menschen einander „noch“ umarmen. Dabei muss die direkte politische Aktion – die Teilnahme an Großdemonstrationen etwa – keineswegs in Kommunenalltag und Kleingärtnerei ersticken. Beide „Aktionsformen“ schließen einander nicht aus.
Stowasser verwendet dafür das Bild des „Archipels“ – der Inselgruppe – im Meer des Mainstreams. Er spricht von einer „virulenten Gegengesellschaft“, bestehend aus miteinander vernetzten Projekten, sogar über Ländergrenzen hinaus.
„Diese könnte zunehmend auch zu einem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Faktor werden: zu einem langsam zusammenwachsenden ‚Archipel‘ libertärer Inseln in einer autoritären Welt, der langsam aus seinen gesellschaftlichen Nischen ausbricht. Dort entwickelten sich zugleich die konkreten Urformen einer neuen Gesellschaft. Mit zunehmender Kraft könnte sich ein solches Projekt auch zunehmend aktiv und kämpferisch in die sozialen Konflikte der ‚alten‘ Gesellschaft einmischen“ (2).
Wie schon gesagt, können wir das Wort „libertär“ hier auch durch andere Werte ersetzen, die uns wichtig sind: ökologisch, sozial, pazifistisch, coronaskeptisch und so weiter. Oder mehrere solcher Werte können einander ergänzen. Im Gegensatz zur klassischen, auf ein Ziel ausgerichteten politischen „Aktionsfront“ – der linken Richtung zum Beispiel – würden das neue Bewusstseinsarchipel mehr Wert darauf legen, wie es den Aktivistinnen und Aktivisten dabei geht: auf ihre Potenzialentfaltung, ja auf ihr Glücksniveau. Dazu Stowasser:
„Ihre Stärke könnte aber gerade darin liegen, dass das ‚private Glück‘ eben nicht mehr als etwas Verwerfliches angesehen wird.“
Und der Zeitpunkt zur Realisierung dieser „neuen Welt“ wäre: jetzt.
„Trotzdem bleibt der Anspruch bestehen, dass es legitim sei, hier und heute selbst schon etwas von den schönen Utopien des Übermorgen haben zu wollen. Alle Vertröstungsideologien, die den selbstlosen, asketischen Revolutionär zum Vorbild haben, werden im Grunde als verlogen empfunden. Das hat natürlich zur Folge, dass man nach außen offen, erlebbar und attraktiv auftreten kann. Es bestünde somit die Chance, im sozialen Alltag tausende von ‚normalen‘ Menschen zu erreichen und ihnen ganz simple Zugänge zum Verständnis anarchischen Lebens zu schaffen“ (3).
Ich ergänze: statt einem „anarchischem“ könnte einem auch ein umweltbewusstes Leben wichtig sein, ein gewaltfreies Lebens und so weiter.
Noch einmal zur Begrifflichkeit. Ich habe von einer parallelen Wirklichkeit gesprochen - wenn zum Beispiel Menschen katholischen und evangelischen Glaubens auf ein- und demselben Staatsgebiet koexistieren.
Ich habe von einer alternativen Wirklichkeit gesprochen – ein Wort, das durch das verheerende, demokratiefeindliche Merkel-Diktum von der „Alternativlosigkeit“ an Dringlichkeit gewonnen hat. Eine Alternative streben wir überall dort an, wo das Alte nicht einmal als benachbarte oder „parallele“ Struktur für uns erträglich ist. Etwa im Fall von Krieg, Unterdrückung und Ausbeutung.
Außerdem gibt es da den reizvollen Begriff neue Wirklichkeit, die der Anführer der 68er-Studentenbewegung, Rudi Dutschke, einmal als Vision einer Verbindung zwischen politischer und spiritueller Freiheit gebraucht hat:
„Christus zeigt allen Menschen einen Weg zum Selbst. Diese Gewinnung der inneren Freiheit ist für mich allerdings nicht zu trennen von der Gewinnung eines Höchstmaßes an äußerer Freiheit, die gleichermaßen und vielleicht noch mehr erkämpft sein will. Den Ausspruch Jesu ‚Mein Reich ist nicht von dieser Welt’ kann ich nur immanent verstehen. Natürlich, die Welt, in der Jesus wirklich lebte und arbeitete, war noch nicht die neue Wirklichkeit. Diese galt und gilt es noch zu schaffen.“
Der Nachteil an dieser Fokussierung auf das „Neue“ liegt darin, dass wir mitunter übersehen, was am „Alten“ nachahmenswert und gut in fortschrittliche Projekte integrierbar ist.
Weiter ist auch der Begriff einer Gegenwirklichkeit gebräuchlich – in Formulierung wie „Gegenbewegung“ oder „Gegenöffentlichkeit“. Benutzer dieser Begriffe definieren sich überwiegend durch die Konfrontation mit dem „alten Regime“. Das ist bis zu einem bestimmten Grad notwendig. Verwendet ein Etablierter den Begriff „Dagegen-Partei“ als Kampfbegriff, ist Vorsicht angesagt. Der Betreffende wünscht natürlich, dass man seine Politik kritiklos abnickt. Allerdings macht „Dagegensein“ höchstens die Hälfte dessen aus, was für unsere geschundene Welt jetzt nottäte.
Ich selbst verwende auch gern den Begriff komplementäre Wirklichkeit. Gemeint ist:
Wo wir destruktive Strukturen noch nicht abschaffen und ersetzen können, ergänzen wir sie einfach durch eigene und bessere.
Oder das „Alte“ funktioniert auf begrenztem Gebiet recht gut, stößt aber an Grenzen, wo es allumfassend und totalitär angewandt wird. Hierbei denke ich zum Beispiel an den Ökonomismus – das Prinzip, jeden Lebensbereich Kriterien der Rentabilität und Profitmaximierung zu unterwerfen. Der Ökonomismus funktioniert recht gut, wenn man sicherstellen will, dass die Ausgaben eines Betriebs die Einnahmen nicht permanent übersteigen. Ökonomie hat aber zum Beispiel auf dem zynisch so genannten „Beziehungsmarkt“ nichts zu suchen, wo Menschen gemäß ihrer Attraktivität, ihrem „Marktwert“, gehandelt werden.
Das Prinzip der komplementären Ergänzung hat sich überall bewährt, wo man das herrschende System entweder derzeit nicht aushebeln kann - wie etwa beim Zinssystem - oder nicht aushebeln will, weil es in bestimmten Bereichen noch gebraucht wird – wie etwa im Fall der Schulmedizin. Tatsächlich haben gerade die Begriffe „Komplementärmedizin“ und „Komplementärwährungen“ den Begriff in jüngerer Zeit populär gemacht.
Komplementärmediziner sehen meist ein, dass schulmedizinische Behandlungsweisen in einem begrenzten Rahmen „funktionieren“, sogar notwendig bleiben. Zum Beispiel, wenn gebrochene Knochen nach einem Unfall „zusammengeflickt“ werden, wenn Anästhesie unerträgliche Schmerzen während einer Operation verhindert oder wenn Antibiotika bei schweren Infektionen Leben retten. Dagegen kann „komplementäre“ Medizin das Immunsystem stärken, die Gesundheit vorbeugend stabilisieren, unnötige schwere Nebenwirkungen vermeiden helfen oder die Spuren synthetischer Medikamente aus dem Körper ausleiten – nicht statt, sondern zusätzlich zu Schulmedizin.
Die Anhänger von Komplementärwährungen räumen teilweise ein, dass das alte Geldsystem seine Stärken hat, etwa, wenn es um internationalen Zahlungsverkehr und die Finanzierung von Großprojekten geht. Sie wollen aber ergänzend regionale, nicht zinsbasierte Währungen aufbauen, die im Fall globaler Finanzkrisen den Geld- und Warenverkehr vor Ort im Fluss halten und so die Existenz vieler Menschen sichern.
„Komplementär“ sind Prinzipien, die einander wie beim chinesischen Symbol „Yin und Yang“ so ergänzen, dass das eine jeweils repräsentiert, was dem anderen fehlt. Gegensatzpaare wie „Männlich/Weiblich“, „Alt/Jung“, „Dunkel/Hell“, „Kalt/Warm verhalten sich so zueinander. Ohne das eine wäre das andere in seiner Besonderheit gar nicht erkennbar. Helle Stellen treten auf einem dunklen Gemälde besonders leuchtend hervor wie etwa in der Malerei Rembrandts.
Die bedeutet nicht, dass in allen politischen Fragen immer beide Seiten der „Wahrheit“ gleichermaßen gültig sind. Krieg und Frieden ergänzen einander nicht in sinnvoller Weise, vielmehr sollte ersterer nach Möglichkeit ganz vom Erdboden verschwinden. Auf der anderen Seite erspart uns das Modell der komplementären Ergänzung mitunter den andauernden, aufreibenden „Kampf gegen …“. Wir können mit dem Aufbau komplementärer Lebens- und Wirtschaftsmodelle schon jetzt beginnen, nicht erst, wenn der weltanschauliche Gegner „niedergerungen“ ist.
Hier noch ein paar Lebensbereiche, in denen das Prinzip komplementärer Ergänzung schon jetzt gut funktioniert – auch wenn das Wort „komplementär“ in der Regel nicht verwendet wird.
Große Kirchen und unabhängige, kleinere Glaubensgemeinschaften. Das Verhältnis zwischen diesen Bekenntnissen funktioniert zwar beileibe nicht immer reibungslos, faktisch leben die Anhänger dieser Weltanschauungen aber in komplementären Realitäten.
Gewöhnliche Ernährungsweise und „Alternativen“ wie Bioprodukte, fairer Handel, vegane und vegetarische Ernährung.
Konventionelle Energieerzeugung, zum Beispiel durch Kohle- und Atomstrom, und „erneuerbare“ wie Solar- und Windenergie.
Industrielle Agrarwirtschaft auf der Basis von Kunstdünger und Pestiziden und „Alternativen“ wie Biolandbau, Permakultur und Ähnliches.
Profitbasierter Wohnungsbau und Genossenschaftlicher Wohnungsbau.
Internet- und Software-Giganten wie Microsoft, Amazon und Google und „alternative“ Suchmaschinen und Videoportale sowie freie Software.
„Normale“ staatliche Schulen und alternative Schulmodelle wie Waldorf, Montessori und ergänzende Bildungsangebote.
Mainstreammedien und Alternative Medien wie Rubikon.
Populär- und Mainstreamkultur oder staatlich geförderte Hochkultur sowie Independent-„Szene“- und Nischenkultur.
Herkömmliche Familienmodelle wie die Kleinfamilie und Alternativen (Kommunen, Wohngemeinschaften, Polyamorie, LGTBQ-Szene und andere.
Bei all diesen „Alternativen“ ist festzustellen: Sie sind Teil einer komplementären Wirklichkeit. Sie existieren nicht anstelle der herkömmlichen Modelle, sondern zusätzlich zu ihnen, also ergänzend. Es ist jedoch ein Missverständnis, anzunehmen, dass es mir in allen Fällen egal ist, ob Menschen den „Mainstream“ oder das komplementäre Prinzip bevorzugen. Bei der Ernährung zum Beispiel finde ich es sehr wichtig, dass möglichst viele auf Bio, Vollwert und möglichst Vegan oder Vegetarisch umsteigen. Bei den meisten Gegensatzpaaren, die ich genannt habe, wäre es mir lieb, wenn sich die „komplementäre“ Seite auf breiter Front durchsetzen würde.
Dies erscheint aber vorerst schwierig. Machtkartelle stehen dagegen – wie bei allem, was mit dem Thema Wirtschaft zu tun hat. Oder die Alternativen sind relativ teuer wie bei der Ernährung. Oder man kann und will die Menschen schlicht nicht „zu ihrem Glück zwingen“. In diesem Fall ist es vorzuziehen, an der komplementären Wirklichkeit zu bauen, schon bevor die konventionelle Wirklichkeit vom Erdboden verschwunden ist.
Ein Beispiel dafür wäre die Einführung eines Bedingungslosen Grundeinkommens in einem kleineren Kreis von Interessierten. Man müsste dazu nicht warten, bis auch der letzte uneinsichtige CDU-Bundesabgeordnete zustimmt. Ein Verein könnte über Mitglieder und Spenden Geld einsammeln und ein Grundeinkommen ausschütten. Damit könnten Erfahrungen gesammelt werden, könnte erprobt werden, ob sich Menschen, die finanziell unabhängiger sind, tatsächlich nur noch „auf der faulen Haut liegen“. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung plant für 2021 ein diesbezügliches Pilotprojekt.
Ein Beispiel für ein System, das im kleinen Rahmen schon funktioniert – und zwar ergänzend zur „großen“, oft destruktiven Ökonomie, ist die Gemeinwohlökonomie, begründet von Christian Felber. Felber schlägt eine Umstellung unseres gemeingefährlichen Wirtschaftssystems, das vielfach gerade die schlechtesten menschlichen Charaktereigenschaften wie Egoismus belohnt, auf eine für das Gemeinwohl nützliche Ökonomie vor. Firmen, die bei dem Projekt mitmachen, sollen eine Gemeinwohlbilanz erstellen und Punkte sammeln: Wie gehen sie mit ihren Mitarbeitern um? Wie mit Frauen, mit Lieferanten, mit der Umwelt? Je nach Bilanz werden die Unternehmer dann finanziell besser oder schlechter gestellt. Erfolgreich darf nur sein, wer allen dient. Daher dürfen zum Beispiel biologische Lebensmittel aus fairem Handel nicht teurer sein als konventionelle.
Multioptionale „Alternativlosigkeit“
Wir leben in einer Welt, die einerseits verwirrend multioptional ist – wir können und sollen in fast allen Lebenssituationen wählen –, die aber andererseits in wesentlichen gesellschaftlichen Fragen im bedrängenden Korsett der Alternativlosigkeit daherkommt. Ein- und dasselbe politische System, aufgespalten in mehrere „Blockparteien“ – damit begnügen wir uns jahraus, jahrein. Geht es nach den Etablierten, soll sich die „Alternative“ auf eine kleine, machtlose Nische beschränken. Zwischen 200 Wurstsorten aus Qualtierhaltung „darf“ der Supermarkt eine einzige vegane Wurst auf Erbsenbasis anbieten. Davon fühlt sich die „normale“ – besser: die normopathische – Gesellschaft nicht bedroht und kann gleichzeitig nach außen hin Toleranz simulieren.
Die heutigen Menschen müssen in großer Zahl zu den „Alternativen“ – oder den „Komplementären“ – überlaufen, wollen sie für sich und ihre Nachfahren eine lebenswerte Zukunft gestalten. Es muss ein Sog entstehen, weg vom alten System, hin zu den „utopischen“ Alternativen. Das Neue muss die Menschen mit der „Kraft des Eros“ anziehen, wie es Geseko von Lüpke sagte. Es muss sie überzeugen und begeistern. Wer trotzdem noch im alten System bleibt, wird dann über Kurz oder Lang das Gefühl haben, der Dumme zu sein. Wenn der eiserne Vorhang der alten Ordnung nur an einer einzigen Stelle einen Riss bekommt, gerät das ganze System ins Wanken.
Der Staat hat sich allzu lange darauf verlassen, dass er sich alles erlauben kann, weil die Wähler zwar einen systemkonformen Politiker durch einen anderen ersetzen konnten, nicht aber den Staat selbst. Genauso sieht unsere Welt heute auch aus: eine Beute überheblicher Monopolisten, die niemals wirkliche Konkurrenz fürchten mussten.
Etwas Ähnliches zeigt sich im herkömmlichen Gesundheitssystem, in der herkömmlichen Agrarwirtschaft und in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens. Schon dringen aber Keime des Neuen durch die Schneedecke der Alternativlosigkeit. Die Bürger beginnen, mit den Füßen darüber abstimmen, ob sie diese alte Welt noch wollen. Sie laufen den Etablierten davon.
Ein System, das die Mitgliedschaft seiner Bürger nicht mehr als selbstverständlich voraussetzen kann, muss beginnen, sich wirklich um sie zu bemühen, auf sie zu hören und auf ihre Wünsche einzugehen. Das alte System hat ja immer noch die Chance, unter Beweis zu stellen, dass seine Existenz notwendig ist. Dazu müsste es aber wesentliche Forderungen der kritischen Neuerer erfüllen und selbst zu etwas aufregend Neuem werden. Solange dies nicht geschieht, wird ein Effekt eintreten wie in einem Paternoster-Fahrstuhl: Die alte Welt geht unter, und unmittelbar daneben geht eine neue Welt auf.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Horst Stowasser: Anarchie! Idee — Geschichte — Perspektiven. Verlag Nautilus, S. 471
(2) Ebenda, S. 474
(3) Ebenda, S. 473