Einmal mehr ist es Oskar Lafontaine, der beweist, warum er als einer der wenigen Strategen der deutschen Linken gilt. Er stellte die Frage, ob es jetzt nicht an der Zeit sei darüber nachzudenken, inwieweit die gegenwärtige Parteienkonstellation auf der linken Seite des politischen Spektrums noch den heutigen Anforderungen entspricht. Der Hintergrund: SPD und Linkspartei fällt es zunehmend schwer, Arbeiter, Angestellte und Arbeitslose für sich zu gewinnen. Zwar konnte die Partei DIE LINKE bei den Bundestagswahlen am 24. September 2017 leicht zulegen und dabei vom Niedergang der SPD profitieren, zugleich aber verlor sie an die AfD zahlreiche Wähler, vor allem in den ostdeutschen Bundesländern.
Etwa 400.000 frühere Linkswähler machten diesmal dort ihr Kreuz. Es waren vor allem Arbeiter und Arbeitslose die gingen. Unter den Arbeitern lag der Anteil der AfD bei 21 Prozent, der der SPD bei 24 aber der der Linkspartei bei nur 10 Prozent. Ein ähnliches Bild bei den Arbeitslosen: AfD 21 Prozent, SPD 23, Linkspartei 11 Prozent. Besser sah es unter den Angestellten aus: 11 Prozent AfD, 20 Prozent SPD und 9 Prozent Linkspartei. Besonders bitter für DIE LINKE fiel das Ergebnis bei der Wahlentscheidung von Gewerkschaftsmitgliedern aus, denn hier lag die AfD mit 15 Prozent vor der Linkspartei mit 12 Prozent. Selbst für die SPD, die den Gewerkschaften traditionell am nächsten steht, entschieden sich nur 29 Prozent.
Der Zickzackkurs der SPD-Parteiführung nach der Bundestagswahl und die Entscheidung deren Bundesparteitags vom 21. Januar 2018, Koalitionsverhandlungen mit CDU und CSU aufzunehmen, lässt erwarten, dass die Unterstützung der SPD weiter erodieren wird, es sogar zu Austritten aus der Partei in größerer Zahl kommen kann. In dieser Situation müsse sich, so Lafontaine, die Linkspartei öffnen und zum Initiator einer neuen linken Sammlungsbewegung werden, die neben früheren Sozialdemokraten auch unzufriedene Grüne ansprechen kann.
Die Partei DIE LINKE müsse bereit sein, sich in einem solchen Prozess als Organisation selbst infrage zu stellen, um so Motor einer neuen linken Sammlungsbewegung werden zu können, mit der anschließend das politische Spektrum in Deutschland wieder nach links verschoben werden kann.
Die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Bundestag, Sahra Wagenknecht, sieht ihre Partei an einer Wachstumsgrenze angekommen, die es notwendig mache, über andere Wege nachzudenken. In einem Interview des Magazins Der Spiegel vom 15. Januar 2018 sagte sie: „Mit der Linken hat sich erstmals links von der SPD eine relevante Kraft etabliert. Aber wir stehen bei zehn Prozent. Das reicht nicht, um Politik wirklich zu verändern. Um eine linke Volkspartei zu werden, müssten wir noch viel an Breite und Akzeptanz gewinnen. Das wäre auch ein Weg, aber er würde länger dauern.“ Und als ihr politisches Ziel gibt sie an:
„Natürlich wünsche ich mir eine starke linke Volkspartei.“
DIE LINKE - eine stagnierende Partei
Eine solch „starke linke Volkspartei“ wird aber die Partei DIE LINKE nicht mehr werden. Zehn Jahre nach ihrer Konstituierung im Jahr 2007 hat sie viel ihres anfänglichen Elans verloren. Stieg die Mitgliederzahl nach dem Zusammenschluss von PDS und WASG schnell auf 76.000, so ist sie inzwischen auf kaum mehr als 60.000 gesunken. Trotz einiger Erfolge bei der Gewinnung jüngerer Anhänger im Bundestagswahljahr 2017 ist ihre Mitgliedschaft weiterhin stark überaltert. Die Zahl der Parteimitglieder und damit ihre gesellschaftliche Verankerung werden daher in Zukunft weiter zurückgehen.
Die Westausdehnung der Linkspartei ist zum Stehen gekommen. Zwar konnte sie sich in vielen Städten der alten Bundesländer kommunalpolitisch verankern, doch eine in der Fläche etablierte Kraft ist sie dort nicht geworden. Ihre nach der Konstituierung erzielten Erfolge bei Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Niedersachsen konnte sie nicht wiederholen. Abgesehen von den Stadtstaaten Hamburg und Bremen verfügt sie heute im Westen nur in Hessen und im Saarland über eigene Landtagsfraktionen, wobei der Erfolg im Saarland der dort weiterhin hohen Popularität von Oskar Lafontaine geschuldet ist. In Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Bayern erreichte DIE LINKE bei Wahlen hingegen nie mehr als drei Prozent.
In den neuen Bundesländern kann von einer Stagnation schon nicht mehr gesprochen werden, hier geht ihr Einfluss zurück. Bei nahezu allen Landtagswahlen der letzten Jahre hat sie dort an Stimmen eingebüßt. In Brandenburg fiel sie von 27,2 Prozent im Jahr 2009 auf nur noch 18,6 Prozent in 2014, in Mecklenburg-Vorpommern von 18,4 Prozent in 2011 auf 13,2 Prozent in 2016, in Sachsen von 20,6 Prozent in 2009 auf 18,9 Prozent in 2014 und in Sachsen-Anhalt von 23,7 Prozent in 2011 auf 16,3 Prozent in 2016. In Thüringen gab es einen leichten Zuwachs von 27,4 Prozent in 2009 auf 28,2 Prozent in 2014.
Allein in Berlin konnte sie deutlich zulegen: Von 11,7 Prozent im Jahr 2011 auf 15,6 Prozent in 2016. Hinter diesem Erfolg verbirgt sich aber eine Besonderheit: Hatte die damalige PDS 2002 noch 22,6 Prozent erreicht, verlor sie in Folge ihrer jahrelangen Beteiligung an der Landesregierung bei den Wahlen bis 2011 nicht weniger als die Hälfte ihrer Wähler. Der Erfolg von 2016 stellt daher nur eine Erholung auf niedrigem Niveau dar. Das Bild von einer schwindenden Wählerschaft der Partei im Osten bestätigen auch die Ergebnisse der Bundestagswahl im September 2017. In allen östlichen Bundesländern verlor sie an Stimmen, am stärksten in Thüringen (minus 6,6 Prozent), in Sachsen-Anhalt (minus 6,2 Prozent) und in Brandenburg (minus 5,3 Prozent). Allein die Gewinne der Partei im Westen sorgten für einen leichten Zuwachs auf Bundesebene.
Insgesamt bietet die Partei DIE LINKE bei Wahlen ein Bild der Stagnation. Diese Stagnation könnte schnell von einem Niedergang abgelöst werden, dann nämlich, wenn die SPD eines vielleicht gar nicht mehr so fernen Tages in die Opposition wechselt und sich anschließend eindeutig links positioniert. Worin bestünde dann der eigentliche Existenzsinn der Partei DIE LINKE? Die mit ihr immer noch verbundene, aus der SED kommende alte sozialistische bzw. kommunistische Tradition wäre es jedenfalls nicht mehr. Sie verblasst zusehends.
Eine zu Kampagnen unfähige Sammlungspartei
Doch Misserfolge einer Partei bei Wahlen, selbst wenn sie über Jahre andauern, rechtfertigen allein nicht einen negativen Ausblick auf deren Zukunft. Es sind vielmehr tiefgreifende, strukturelle Probleme, die der Linkspartei zu schaffen machen. DIE LINKE erfüllt grundlegende Voraussetzungen nicht, um als eine eingriffsfähige sozialistische Kraft gelten zu können.
Dazu müsste sie vor allem kampagnenfähig sein.
Das ist sie aber nicht. Weder in Fragen der betrieblichen Arbeit, der Mieten- oder Gesundheitspolitik noch in der Auseinandersetzung um Krieg und Frieden ist sie in der Lage, wirksam öffentliche Aktionen zu initiieren und dabei auch Nichtmitglieder für gemeinsame Ziele zu mobilisieren. So war zwar ihre von einem Parteitag beschlossene Kampagne „Das muss drin sein!“ gut gemeint, blieb aber ohne jede Wirkung. Nicht einmal die Mehrheit der eigenen Mitglieder dürfte jemals etwas von ihr gehört haben. Die nach 2007 bestehenden Hoffnungen, in der betrieblichen Verankerung voranzukommen, erfüllten sich nicht. Zu keinem Zeitpunkt konnte die Linkspartei die Hegemonie der SPD in den Gewerkschaften in Frage stellen.
Die Kampagnenunfähigkeit der Partei DIE LINKE ist vor allem ihrer Zersplitterung geschuldet, existieren doch unter ihrem Dach die unterschiedlichsten Milieus und Strömungen, ohne dass sie größer Kenntnis voneinander nehmen. Die Partei beherbergt nicht weniger als 26 bundesweite Arbeitsgemeinschaften, die meist über eigene Strukturen wie Vorstände, Delegierte, Bundestreffen sowie Informationsdienste verfügen. Hinzu kommen zwei wie eigenständige Parteien in ihr agierende trotzkistische Strömungen: Das „Netzwerk Marx 21“ und die „Sozialistische Alternative Voran (SAV)“.
Die Kritiker des Vorstoßes von Lafontaine und Wagenknecht können daher zu Recht behaupten, dass mit der Partei DIE LINKE längst die geforderte Sammlungsbewegung besteht. Nach Aussage von Parteichef Bernd Riexinger in der Tageszeitung Junge Welt vom 9. Januar 2018 sei das sogar eine „große Leistung“. Das ist jedoch ein zweifelhaftes Lob, denn das Modell einer „Patchworkpartei“ bzw. einer „Mosaiklinken“ mag zwar als Reaktion auf eine überzentralisierte Kaderpartei wie die SED bzw. einer nach der Wende zersprengten westdeutschen Linken einmal einer bestimmten historischen Situation entsprochen haben, heute hingegen blockiert es die Handlungsfähigkeit der Linkspartei.
Dort aber, wo sich heute eine Linke in Europa auf dem Vormarsch befindet, verdankt sie es vor allem der Fähigkeit, ihre Ressourcen auf wenige Themen zu konzentrieren. So haben sich die Sozialistische Partei der Niederlande (SP) und die belgische Partei der Arbeit (PdA) auf eine beharrliche Arbeit im Gesundheitssektor ausgerichtet. Mit einem Netzwerk linker Ärzte und sogar von ganzen Polikliniken konnten sie so Vertrauen in der arbeitenden Klasse erringen. Seit Jahren führt die PdA mit ihrer Forderung nach einer Millionärssteuer eine Kampagne zur höheren Besteuerung der Reichen und konnte damit die anderen Parteien zwingen, sich dazu zu verhalten.
Auch der Bewegung La France insoumise (unbeugsames Frankreich) unter Jean-Luc Mélenchon gelang es, mit der Konzentration auf Kampagnen zur Verteidigung der Rechte der Lohnabhängigen durchzudringen. Ein weiteres Beispiel dafür, wie man heute als linke Kraft durch Bündelung der Ressourcen erfolgreich sein kann, liefert die Landesorganisation Steiermark der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ). Seit Jahr und Tag konzentriert sie ihre Arbeit ganz auf die Wohnungsfrage. Mit dieser Strategie ist sie überaus erfolgreich. In der steirischen Hauptstadt Graz gilt sie inzwischen als die Mietenpartei.
Diesen Parteien ist es so gelungen, wichtige gesellschaftliche Akteure in ihren Ländern zu werden, die Sozialdemokratie zu bedrängen bzw., wie in den Niederlanden, in Frankreich, im belgischen Wallonien oder in Graz, sogar hinter sich zu lassen. Bedingung für diesen Erfolg ist aber die tägliche Bereitschaft der Parteimitglieder, ihre verschiedenen Partikularinteressen, vor allem die Vertretung der eigenen Gruppenidentität, hinter sich zu lassen und ihre ganze Kraft gemeinsamen Anliegen zu widmen. Erst diese Fähigkeit zu kollektivem Handeln macht aus einer zersplitterten Sammlungspartei eine sozialistische Kraft, die zum aktiven Eingreifen fähig ist.
An Einfluss verlieren hingegen europäische Linksparteien, die sich, wie die griechische Syriza oder die italienische Rifondazione Comunista (RC, Kommunistische Wiedergründung), als „Bewegungsparteien“ verstehen. Syriza hat sich längst aus der „Koalition der Radikalen Linken“, wie offiziell noch immer heißt, zu einer autoritär von Ministerpräsident Alexis Tsipras geführten Partei entwickelt. Und Italiens RC erklärte sich 2002 unter ihrem einstigen Vorsitzenden Fausto Bertinotti zur „Bewegung der Bewegungen“ und begann in diesem Sinn, die eine Partei charakterisierenden Elemente Stück um Stück aus ihr zu entfernen. Die RC ist inzwischen weitgehend zerfallen und kandidiert bei Wahlen nur noch als Teil immer wieder neu zusammengesetzter Wahlbündnisse linker Bewegungen und Parteien. Bei Wahlen blieben diese Bündnisse allesamt erfolglos.
DIE LINKE als entideologisierte Sammlungspartei
Dem Anspruch, eine bloße Sammlungs- bzw. Bewegungspartei zu sein, entspricht regelmäßig die ideologische Beliebigkeit. Ein theoretisches Zentrum, eine für alle Mitglieder programmatisch festgelegte und verbindliche Weltanschauung, existiert in diesen Parteien nirgendwo.
In ihrem Erfurter Grundsatzprogramm von 2012 hält die DIE LINKE zwar an der Forderung nach einer sozialistischen Gesellschaft als politische Zielvorstellung fest, aber diese ist nur noch ein abstrakter Wert, vergleichbar mit dem ethischen bzw. demokratischen Sozialismus der Sozialdemokratie. Der bürgerliche Staat wird als weitgehend klassenneutral bewertet und dementsprechend sein Charakter allein von veränderten parlamentarischen Machtverhältnissen abhängig gesehen.
Slogans wie „Für einen Politikwechsel“ bzw. „Für einen Richtungswechsel“ sind Ausdruck dieses illusorischen Glaubens an die Klassenneutralität des bürgerlichen Staates. Der demokratische Sozialismus als Ziel, über dessen Realisierung im Programm keine näheren Aussagen gemacht werden, wird auf diese Weise zu einem bloßen Markenzeichen, zu einer Corporate Identity. Das Erfurter Grundsatzprogramm hat denn auch für die tägliche Arbeit der Partei DIE LINKE nie eine anleitende Rolle gespielt. Die verschiedenen Strömungen und Richtungen in ihr nutzen es lediglich als Steinbruch, um mit einzelnen Zitaten daraus, ihre jeweiligen Positionen zu rechtfertigen.
Die in Westeuropa erfolgreichen linken Parteien gehen im Unterschied dazu auch in ihrer weltanschaulichen Ausrichtung andere Wege. Sie versuchen ein theoretisches Zentrum zu rekonstruieren und beziehen sich dabei auf die marxistische Gesellschaftstheorie. Von den Sammlungs- bzw. Bewegungsparteien innerhalb der Europäischen Linken (EL) werden sie deshalb oft des Dogmatismus beschuldigt. Diesen Vorwurf erhebt etwa die Führung der italienischen Rifondazione Comunista gegenüber der wiedergegründeten PCI, zu der sich u.a. der Historiker und Philosoph Domenico Losurdo bekennt.
Auch die steirischen Kommunisten werden von der Bundesführung der KPÖ regelmäßig der Orthodoxie angeklagt. Der Bewegung La France insoumise wird wiederum von der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF) vorgeworfen, sich unter Jean-Luc Mélenchon beharrlich einer Zusammenarbeit mit den Sozialisten zu verweigern und zugleich scharf die EU zu kritisieren, Haltungen, die die KPF als „unmodern“ verwirft. In Belgien wird der PdA von ihren Gegnern vorgeworfen, die Zeichen der Zeit nicht erkannt zu haben und weiterhin am Marxismus und sogar am Prinzip einer Kaderorganisation festzuhalten. Nicht bedacht wird angesichts dieser Vorwürfe, dass die erfolgreiche praktische Arbeit all dieser Parteien auch das Ergebnis einer Festigung ihrer theoretischen Positionen ist.
Bei allen aktuellen Überlegungen hinsichtlich der Notwendigkeit der Schaffung einer breiten linken Volkspartei gilt daher: Die Sammlung möglichst vieler Mitglieder in einer solchen Partei kann nur gelingen, wenn sie in der Lage ist, sich auf einheitliche Aktionen und Kampagnen zu verständigen, und wenn sie zugleich ein hinreichend geschlossenes theoretisches Weltbild herausbilden kann, an dem sich ihre Mitglieder ausrichten können.
Postmaterielle, identitäre Sozialdemokraten und Linke
Die europaweiten Verluste der Sozialdemokratie, die in einigen Ländern, etwa in Frankreich, den Niederlanden, Irland, Griechenland und in Tschechien, bereits zu ihrer Marginalisierung geführt haben, sind Ergebnis des zerbrochenen Vertrauens der arbeitenden Klasse in die Sozialdemokratie als ihre einstmalige Interessensvertretung. Dahinter steht die Erfahrung, dass die sozialdemokratischen Eliten, einmal an die Macht gelangt, bruchlos an die neoliberale Politik der Konservativen und Liberalen anknüpfen, und sie – wie in Deutschland unter Schröder geschehen – sogar noch verschärfen.
Die Sozialdemokraten öffneten sich aber nicht nur dem Neoliberalismus als Wirtschaftsstrategie sondern auch Politikinhalten, die man zusammengefasst als postmaterielle bezeichnen kann. Überall übernahmen sie Werte und Inhalte der Grünen bzw. der „neuen sozialen Bewegungen“, der Umweltbewegung, der Feministinnen sowie der verschiedenen Initiativen zur Gleichstellung von Minderheiten. Die traditionelle Ausrichtung linker Politik auf gesamtgesellschaftliche Ziele, auf die Emanzipation der Lohnabhängigen als der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung, ging dabei verloren. An ihre Stelle trat oft eine Politik, in der nur ihre authentische Bedeutung für den jeweils Einzelnen zählt.
Das politische Engagement wird jeweils daraufhin überprüft, was es ganz konkret und möglichst schnell zur Verbesserung der eigenen gesellschaftlichen Lage bzw. der eigenen Gruppe, und sei sie noch so klein, beitragen kann. Gesamtgesellschaftliches Engagement ist von identitärer Politik abgelöst worden. Der US-amerikanische Sozialwissenschaftler Mark Lilla beschreibt unter der Überschrift „Identitätspolitik – Die Linke hat sich selbst zerstört“ in der Neuen Zürcher Zeitung vom 17. August 2017 beispielhaft das Verhalten von Studenten, die sich selbst als linkslibertär verstehen:
„Für diese Studenten – die künftige Elite – ist die Grenze zwischen Selbsterforschung und politischem Handeln diffus geworden. Ihr politisches Engagement ist aufrichtig, aber fest eingehegt in den Grenzen ihrer Selbstdefinition. (…) Angelegenheiten, die nicht ihre Identität tangieren oder ihresgleichen betreffen, werden kaum wahrgenommen. Und klassische linksliberale Ideen wie Bürgersinn, Solidarität und Gemeinwohl bedeuten ihnen wenig.“
Diese „Selbstzerstörung der Linken“ ist auch in Europa zu beobachten. Bei den französischen Sozialisten trat der jahrelange Kulturkampf mit Konservativen und katholischer Kirche um die gleichgeschlechtliche Ehe an die Stelle des Kampfes um die Verteidigung der Rechte der Lohnabhängigen. Präsident Hollande versuchte, seine neoliberale Politik als etwas anderes auszugeben und sein Linkssein auf ῾gesellschaftliche῾ Fragen (wie die Homosexuellen-Ehe) zu stützen. Auch der frühere sozialdemokratische Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit, zeigte, wie Neoliberalismus und Kampf um Gleichstellung gut zusammengehen.
Während er den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes androhte, zu sparen „bis es quietscht“ ließ er sich zugleich auf einem Wagen der Berliner Christopher Street Day Parade feiern. Es war ein bezeichnendes Symbol, dass nach der auch mit Stimmen aus der CDU/CSU-Fraktion möglich gewordenen Bundestagsentscheidung zur Zulassung der „Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts“ im Juni 2017 über der Zentrale der Berliner SPD über Wochen die Regenbogenfahne an Stelle der roten Parteifahne aufgezogen war.
Über die Gründe für die sich häufenden Wahlverluste der SPD schrieb der Sozialwissenschaftler Wolfgang Merkel am 22. Oktober 2017 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:
„Diese Sozialdemokraten hatten ihre kommunitaristische Tradition vernachlässigt und in einer kosmopolitisch-linken Identitätspolitik ihr progressives Heil gesucht.“
Rechtspopulistische Parteien bekommen so leichtes Spiel, erhalten sie doch ohne größere eigene Anstrengung Zulauf aus dem sozialdemokratischen Milieu. Sie brauchen nur die von der Linken aufgegebenen Werte wie Gemeinwohl, Bürgersinn und Engagement für das eigene Land zu übernehmen. Anschließend können sie sie in ihrem Sinne auslegen. Dass die neuen Rechten aber zugleich in der Wolle gefärbte Neoliberale sind, geht dabei unter.
Die Ausrichtung auf postmaterielle Werte und Identitätspolitik hat längst auch die Partei DIE LINKE erfasst. Die dafür stehende Strömung „Emanzipatorische Linke“ um die Zeitschrift „Prager Frühling“ konnte in den letzten Jahren bemerkenswerte Siege im Kampf um Mehrheiten in der Partei erringen. Sie fielen ihnen leicht, da sie in der Linkspartei, im Unterschied zur Sozialdemokratie, nicht erst starke Reste gewerkschaftlicher Orientierung überwinden mussten. Die in der PDS bzw. in der Linkspartei verbliebenen Sozialisten und Kommunisten waren hingegen nicht in der Lage oder willens, dieser Strömung Widerstand entgegenzusetzen.
Mit Katja Kipping konnten die „Emanzipativen“ auf dem Parteitag 2012 sogar die Parteispitze erobern. Dank ihres kadermäßigen Vorgehens stellen sie, trotz einer im Verhältnis zur Gesamtmitgliedschaft vergleichsweise geringen Anhängerschaft, inzwischen in vielen Vorständen von Landesverbänden sowie im Parteivorstand - hier im Bündnis mit Vertretern des traditionell rechten Parteiflügels - die Mehrheit. Nach den Bundestagswahlen konnte sich dieser Flügel über eine Reihe neuer Bundestagsabgeordneter freuen, die sich dort sogleich hinter Kipping stellte. Zuwachs erhielten die „Emanzipativen“ zudem durch die Übernahme der Konkursmasse der libertären Piratenpartei.
Mit dieser Wende hin zu einer „kosmopolitisch-linken Identitätspolitik“ ergeben sich für die Linkspartei neue Schnittmengen mit einer in ihren urbanen Mittelstandsmilieus inzwischen ganz ähnlich ausgerichteten Sozialdemokratie und natürlich mit den Grünen. Auf dieser Grundlage soll eines Tages auf Bundesebene eine Rot-Rot-Grüne Zusammenarbeit zustande kommen. Programmatisch vorbereitet wird sie schon heute vom „Institut Solidarische Moderne“ (ISM), in dessen Vorstand Repräsentanten der drei Parteien vertreten sind: Katja Kipping, Axel Troost und Sabine Leidig für die Linkspartei, Andrea Ypsilanti, Hilde Mattheis für die SPD sowie Katharina Beck für die Grünen.
Da sich Sahra Wagenknecht einer solchen Ausrichtung der Linkspartei widersetzt, sie weder Anhängerin einer Rot-Rot-Grünen Zusammenarbeit noch einer „kosmopolitisch-linken Identitätspolitik“ ist, sollte sie direkt nach den Bundestagswahlen in ihren Rechten als Vorsitzende der Bundestagsfraktion beschnitten und damit demontiert werden. Das war der wirkliche Hintergrund der in der Presse als bloße „Personalquerele“ beschriebenen Auseinandersetzung vom Herbst 2017.
In diesem Konflikt zeigte sich aber gleichzeitig, dass Wagenknecht für ihre Positionen Unterstützung weit über die Linkspartei hinaus genießt. So gelang es ihr leicht, für ihren Online-Newsletter „Team Sahra“ innerhalb kurzer Zeit Zehntausende Unterstützer zu gewinnen. Es sind vor allem diejenigen, die sich nach einer Wiederherstellung des Sozialstaats sehnen und für die der nationale Rahmen als Schutzraum nicht geschwächt oder in einer EU überwunden werden darf. Der Chef der Thüringer Staatskanzlei und Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten im Kabinett Bodo Ramelow, Benjamin-Emmanuel Hoff, schreibt am 17. Januar 2018 in der Online-Seite der Wochenzeitung Freitag der über die Bedürfnisse dieser Menschen in einer bemerkenswert abwertenden Sprache:
„Der resignatitv-autoritäre Teil orientiert auf die Wiederherstellung des alten Sozialstaats. Er möchte sich an die ihm paternalistisch gegenübertretende Macht anlehnen und erwartet von ihr Schutz durch Protektionismus und Schutz vor Fremden, die er fürchtet.“
Mit jenen wollen die Hoffs und andere natürlich nichts zu tun haben. Die überlässt man lieber der AfD!
Klarheit über die Ziele herstellen!
Der Vorschlag von Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht für eine neue linke Sammlungsbewegung, die über den Rahmen der Linkspartei hinausgeht, dürfte zunächst darauf abzielen, die Stimmen jener Ungehörten zu Gehör zu bringen, die als „resignatitv-autoritärer Teil“ abgetan werden. Die innerparteiliche Stellung von Lafontaine und Wagenknecht und der mit ihnen Verbundenen ließe sich dadurch stärken.
Eine neue Sammlungsbewegung aber, die ihren Mittelpunkt in der Linkspartei auf Grundlage postmaterieller und identitärer Inhalte hätte und zu der dann all diejenigen aus der SPD stoßen würden, die sich einer Koalition mit den Unionsparteien verweigern, da sie in einem solchen Bündnis Fragen der Migration oder der Minderheitenrechte in ihrem libertären, identitären Sinne nicht gewahrt sehen, wäre aber alles andere als ein Gewinn. In diesem Zusammenhang ist bezeichnend, dass der Bundesvorsitzende der Jungsozialisten, Kevin Kühnert, in seiner Zeit als Vorsitzender der Berliner Jusos das Deutschlandfest der SPD allein wegen des Worts „Deutschland“ boykottierte. Mit einer solchen Sammlungsbewegung würden die Probleme lediglich auf eine andere, höhere Ebene gehoben werden.
Der dem Vorstoß von Lafontaine und Wagenknecht zu Grunde liegende inhaltliche Konflikt verweist darauf, dass die Zeiten von linken Mosaik- bzw. Patchworkparteien europaweit zu Ende gehen. Die Krise der deutschen Linkspartei ist Teil einer westeuropäischen Entwicklung, in der sich zeigt, dass das Modell der pluralistischen, ohne theoretisches Zentrum arbeitenden linken Sammlungs- bzw. Bewegungspartei für immer mehr sich links Engagierende als nicht mehr der heutigen Situation angemessen angesehen wird.
Doch so wenig wie die italienische Rifondazione Comunista oder die Kommunistische Partei Frankreichs zu einer Überwindung ihres überkommenen Parteimodells in der Lage sind, so wenig dürfte es die Partei DIE LINKE sein. So werden sich daher auch in Deutschland früher oder später die Wege jener, die dieses Modell bewahren wollen, von denen, die es als untauglich für eine offensive sozialistische Politik ansehen, trennen. Dabei handelt es sich keineswegs um eine abstrakte akademische Diskussion. Es geht um viel. Es bedarf dringend einer politischen Kraft, die sich dem starken Rechtstrend entgegenstemmt, der jetzt auch Deutschland erfasst. Die Partei DIE LINKE ist diese Kraft aber nicht.
Notwendig ist daher, Klarheit über die Ziele einer möglichen neuen linken Formation zu gewinnen. Im Mittelpunkt muss dabei die soziale Frage stehen, die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums von oben nach unten und der Ausbau der sozialen Sicherungssysteme auf nationalstaatlicher Ebene. Dazu gehört auch eine eindeutige Haltung gegenüber der Europäischen Union, die davon ausgeht, dass sie nicht zu einer demokratischen und sozialen EU transformiert werden kann. Dazu gehört zudem ein unverkrampftes Verhältnis gegenüber der eigenen Nation, deren Erhalt auch für die Arbeiterbewegung ein hohes Gut darstellt. Und schließlich gehört dazu eine realistische Flüchtlingspolitik, die Abschied nimmt von der illusionären Forderung nach offenen Grenzen für alle.