Einzelne Menschen können vieles verändern, wo auch immer sie stehen und wer auch immer sie sind. Sie tun, was ihnen richtig erscheint, im Einklang mit ihrem Denken und Fühlen, mit Verstand und Herz.
Oft ist ihr Handeln nicht auf den ersten Blick erkennbar. Sie kommen nicht mit Pauken und Trompeten daher, sondern engagieren sich leise und beständig im Kleinen, Bescheidenen, Alltäglichen. Sie wirken in allen Lebensbereichen und setzen sich ein: für die Aufdeckung von Missständen, für mehr Gerechtigkeit, mehr Solidarität, mehr Respekt, für den Aufbau einer harmonischeren und gesünderen Welt.
Der Rubikon interessiert sich für diese Menschen. Den Anfang macht Ursula Wesseler. Sie ist Rubikon-Autorin der ersten Stunde. Jens Lehrich begegnete ihr im Rahmen des Treffens mit Eugen Drewermann. Spontan lud er sie zu einem Interview ein. Denn Ursula Wesseler hat Mut im Alltag. Sie wagt es, in einer materialistisch orientierten Leistungsgesellschaft von Liebe und Fürsorge zu sprechen und Erneuerungen, die uns als erstrebenswert verkauft werden, grundsätzlich zu hinterfragen.
Kritik am neuen Kita-Gesetz
Als Erzieherin und Leiterin einer Kindertagesstätte engagiert sich Ursula Wesseler seit 35 Jahren im Interesse der kleinsten und schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft. Heute zeigt sie sich alarmiert: Eine neue Gesetzgebung ermutigt Eltern, ihre Kinder schon ab vier Monaten in die Ganztages-Kita zu geben. Viel zu früh, findet sie.
Einerseits klingt es verlockend, vor allem für Frauen: Mütter können schon kurz nach der Geburt ihres Kindes in das Arbeitsleben zurück, ihre Karriere nimmt keinen Schaden. So soll die berufliche Benachteiligung gegenüber Männern eingegrenzt werden. Welche emanzipierte Frau würde sich gegen eine solche Möglichkeit stellen?
Andererseits entstehen Probleme, die sich vor allem auf die Kinder negativ auswirken: In den ersten Lebensmonaten bilden sie noch eine Einheit mit der Mutter und sind viel zu klein, um in Stundenpläne, Entwicklungsraster und Checklisten gepresst zu werden.
Dazu kommt, dass vielen Kitas Zeit, Geld und Personal fehlen und die Kinder nicht altersgerecht betreut werden können.
An den Bedürfnissen der Kinder vorbei
Durch die immer umfangreicher werdenden und teilweise absurden administrativen Aufgaben, mit denen Erzieher heute zunehmend fertig werden müssen, fehlt ihnen Zeit für ihre eigentliche Arbeit. Die betreuten Gruppen sind oft so groß, dass viele Kinder praktisch eingesperrt werden. Die Betreuer können einfach nicht so viele Babys oder Kleinkinder anziehen, um sie nach draußen zu lassen.
So bekommen die Kinder oft nicht das, was sie vor allem brauchen: viel Bewegung an der frischen Luft, möglichst in freier Wildbahn, im Kontakt mit der Natur. Auch mit der Fürsorge hapert es. Durch hohe Fehlzeiten gibt es immer wieder Personalengpässe, die es unmöglich machen, sich um die Bedürfnisse der kleinen Menschen zu kümmern.
Förderung um jeden Preis
Von klein auf werden die Kinder von ihren Emotionen abgeschnitten und können sich oft nur noch in die Apathie oder in Verhaltensauffälligkeiten flüchten. Proteste gibt es wenige. Erzieher werden von ihren Aufgaben erdrückt, Eltern glauben, das Beste für ihr Kind zu tun, wenn sie es von klein auf „fördern“ lassen und die Stimme der Kinder wird durch frühes Hineinpressen in Normen und Raster von Anfang an erstickt.
Das Modell funktioniert, weil viele Eltern ihr schlechtes Gewissen, ihre Kinder so früh abzugeben, durch den Glauben besänftigen, dass frühe Bildung der Schlüssel zum Erfolg ist.
So soll später das Schlimmste vermieden werden: der soziale Abstieg. Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit – wer könnte dagegen sein?
Fortschreitende Entfremdung
Doch während zumindest in der Theorie bestimmte Kompetenzen gezielt gefördert werden, verlieren die Kinder nach und nach den Kontakt zu ihren Eltern und Geschwistern, zu der Natur und zum freien Leben, und schließlich zu sich selbst. Nicht die individuelle Förderung der Kreativität, Neugierde und vorhandener Talente stehen im Mittelpunkt des erzieherischen Auftrages, sondern ein möglichst protestloses Sich-Eingliedern in ein immer unmenschlicher werdendes Räderwerk.
Denn es geht in erster Linie nicht um die Interessen der Kinder und die Bedürfnisse der Familien. Es geht nicht um gemeinsame Erziehungsziele oder eine Vision für eine friedlichere und gesündere Welt. Es geht um Zahlen und finanziellen Gewinn. Ziel ist es, die Interessen gigantischer multinationaler Unternehmen zu wahren, denen alles gesellschaftliche Leben untergeordnet wird.
Ursula Wesseler spricht mit Jens Lehrich über die Fragwürdigkeit und die Absurdität von Verordnungen, die den Menschen noch bevor er sich aufgerichtet hat in den Wettlauf schicken, die Verstrickungen zwischen Wirtschaft und Politik und die Scheinheiligkeit der Bertelsmann-Stiftung, die vorgibt, sich für das Wohl aller einzusetzen.