Zum Inhalt:
Karge Zukunft

Karge Zukunft

Für einen großen Teil der Bevölkerung wird die gesetzliche Rente sozialen Abstieg bedeuten. Exklusivabdruck aus „Altersarmut — Zukunft für die Hälfte aller RentnerInnen?“.

Noch bis vor kurzem stand die Bundesregierung an der Spitze der Leugner des Problems.

„Die Altersgruppe der über 65-Jährigen ist durchschnittlich etwas seltener armutsgefährdet als die Gesamtbevölkerung“, schreibt sie in ihrem 5. Armuts- und Reichtumsbericht und fährt fort:

„Vielmehr stellt sich die materielle Versorgung der heute über 65-Jährigen sogar insgesamt günstig dar“ (1).

Die Bundesregierung stützt ihre Argumentation auf zwei Zahlen:

  1. Nur 544.090 RentnerInnen, gerade drei Prozent, bezögen Grundsicherung wegen Alters (2).
  2. Die Einkommenssituation der Seniorenhaushalte sei ausgesprochen gut. Alleinstehende Frauen verfügten über durchschnittlich 1.611 Euro, alleinstehende Männer über durchschnittlich 1.828 Euro, Ehepaare über durchschnittlich 2.971 Euro (3).

Bei so rosiger Sicht der Dinge ist kein Problem zu erkennen und die Sorge sehr vieler Erwerbstätiger über ihre Zukunft im Alter hält man für falsches Bewusstsein.

„Obwohl der Umfang von relativ niedrigen Einkommen im Alter aktuell unterhalb des Bevölkerungsdurchschnitts liegt, wird das Risiko der ‚Altersarmut‘ in der Bevölkerung als sehr hoch wahrgenommen. So sehen zwei von drei Personen ein hohes und sehr hohes Risiko, zukünftig in der Ruhestandsphase von Armut betroffen zu sein. Insbesondere im mittleren Erwachsenenalter, also bei Personen im Alter von 35 bis 64 Jahren, ist diese Einschätzung weit verbreitet“ (4).

Wer hat nun „falsches Bewusstsein“? Die Bundesregierung oder die Erwerbstätigen? Der Artikel will dazu beitragen, diese Frage zu klären.

Vorweg sei aber schon gesagt, dass die Zahlen der Bundesregierung sehr fragwürdig sind. Bei der Zahl der Bezieher von Grundsicherung im Alter unterschlägt sie die Renten wegen Erwerbsminderung. Das sind noch mal 514.737. Hinzu kommen nach allgemeiner Schätzung noch einmal ungefähr eine halbe Million RentnerInnen, die Anspruch auf Grundsicherung haben, aber keinen Antrag stellen. Es sind also eher 1,5 Millionen Personen, die nach der Definition der Grundsicherung in Armut leben, also circa 7 Prozent.

Darüber hinaus leugnet die Bundesregierung die Dynamik der Entwicklung. Im Zeitraum von 2004 bis 2017 ist die Zahl der Bezieher von Grundsicherung bei Männern um 86 Prozent gestiegen, bei Frauen sogar um 121 Prozent (5). Der Paritätische gibt die Zahl der Alten, die in Armut leben, mit 16 Prozent an (6). Aber auch das ist noch zu wenig. Rechnet man aus der Statistik, die diesen Zahlen zugrunde liegt, die Beamten heraus, liegt die Anzahl armutsgefährdeter RentnerInnen schon bei 19,5 Prozent. Das ergab eine Untersuchung von Gerd Bosbach und Matthias Birkwald. Die Süddeutsche Zeitung zitiert Birkwald:

„Fast jeder fünfte Mensch, der in einem Rentnerhaushalt lebe, sei arm und müsse von weniger als 999 Euro leben, betroffene Paare von weniger als 1.499 Euro“ (7).

All das gibt hinreichend Anlass zur Beunruhigung. Die Angaben über die Haushaltseinkommen, die die Bundesregierung macht, sind ebenfalls methodisch unzulässig. Auch hier wird nicht auf rentenversicherungspflichtige Arbeitnehmerhaushalte abgehoben; es werden vielmehr alle Seniorenhaushalte herangezogen. Dadurch bekommt man natürlich höhere Werte. Dass diese die Realität der Erwerbstätigen widerspiegeln, ist eher unwahrscheinlich. Doch dazu später mehr.

Altersarmut — neue Untersuchungen

Seit circa drei Jahren mehren sich auch in der bürgerlichen Forschung und Presse Stimmen, die anerkennen, dass Altersarmut existiert und wächst. 2017 veröffentlichte die Bertelsmann Stiftung eine Analyse zur Altersarmut, die weite Verbreitung fand. Die Analyse gibt eine Prognose bis 2036.

„Unsere Analysen zeigen, dass das Armutsrisiko über die Zeit ansteigt. Auf Basis der Simulationen finden wir, dass die Armutsrisikoquote von etwa 16 Prozent in den Jahren 2015 bis 2020 auf 20 Prozent in der zweiten Hälfte der 30er Jahre zunimmt, also um 25 Prozent. Die Grundsicherungsquote steigt im gleichen Zeitraum von etwa 5,5 Prozent auf etwa 7 Prozent. Der relative Anstieg im Vergleich zum Ausgangsjahr liegt damit bei der Grundsicherungsquote bei gut 27 Prozent“ (8).

Einen Monat später legte das Deutsche Institut für Altersvorsorge (DIA) eine Untersuchung vor, die zu ähnlichen Zahlen führte. Danach wächst die Altersarmut ebenfalls, aber nur unter der Voraussetzung, dass die Betroffenen keine weitere Vorsorge für das Alter treffen. Altersarmut könne sogar ganz vermieden werden, wenn die unteren Schichten mehr Sparverträge abschlössen und/oder länger arbeiteten (9). Das Ergebnis verwundert nicht, wenn man die Auftraggeber des Instituts kennt.

„Das DIA wird von Unternehmen der Finanzwirtschaft, die mehr Eigeninitiative und Sicherheit im Alter als entscheidende gesellschaftliche Aufgabe sehen, getragen“ (10).

Beide Untersuchungen sehen fast ausschließlich das sogenannte Prekariat als die von Altersarmut bedrohte Gruppe an. Als Lebensrisiken, die zur Mangelversorgung im Alter führen, gelten Arbeitslosigkeit, Krankheit, Minijobs, Teilzeitbeschäftigung (vor allem unter 20 Stunden), Leiharbeit, unstete Arbeitsverhältnisse und Brüche in der Erwerbsbiographie.

Da ein Anwachsen des Prekariats, das gegenwärtig auf 20 bis 23 Prozent der Bevölkerung geschätzt wird, nicht prognostiziert wird, kommen die Autoren zu relativ geringen Wachstumszahlen gegenüber dem jetzigen Zustand der Altersarmut. Dass die Lohnarbeit von heute Altersarmut von morgen produziert, wird von den Autoren nicht gesehen. Deswegen verharmlosen beide Untersuchungen das Problem stark.

In jüngster Zeit gibt es mehrere Untersuchungen, die auch Vollerwerbsarbeit als eine Quelle von Altersarmut identifizieren.

Martin Brussig, Dominik Postels und Lina Zink untersuchten die Jahrgänge 1940 bis 1947 auf ihre rentenversicherungspflichtige Lebensarbeitszeit und kommen zu dem Ergebnis, dass jede fünfte Rente aus vieljähriger Versicherung (mindestens 30 Jahre rentenrechtliche Zeiten) eine niedrige Rente sei (2014 maximal 766 Euro netto). Ursächlich für niedrige Renten seien längere Unterbrechungen zum Beispiel durch Kindererziehungszeiten, wiederholte Arbeitslosigkeit, besonders in Ostdeutschland, späte Berufseinstiege, längere Krankheitszeiten und Erwerbsminderung (11).

Eine Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) kommt zu dem Ergebnis, dass 69 Prozent der RentnerInnen ihren Konsum ohne private Versicherungen und Vermögen nicht decken können, wenn nur Anwartschaften aus der gesetzlichen Rentenversicherung vorliegen. Mit privaten Rentenanwartschaften sinke die Zahl auf 67 Prozent, mit einzusetzendem Vermögen auf immerhin noch 51 Prozent (12).

In diesen Untersuchungen wird anerkannt, dass nicht nur prekäre Lebens- und Arbeitsbedingungen Altersarmut erzeugen, sondern auch trotz langjähriger Arbeit Altersarmut oft nicht vermieden werden kann. Diese These wollen wir untermauern, indem wir aufzeigen, welche Renten beim gegenwärtigen Lohnniveau heute erreicht werden können.



Quellen und Anmerkungen:

(1) Lebenslagen in Deutschland. Der Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Kurzfassung Seite 34
(2) Vergleiche Rentenversicherung in Zeitreihen (RViZ) Oktober 2018, Seite 274
(3) Lebenslagen in Deutschland. Langfassung Seite 432
(4) Ebenda Seite 440
(5) Alle Zahlen aus RViZ 2018, 2018, Seite 274
(6) Altersarmut: Ausmaß und Dynamik. Kurzexpertise. Paritätische Forschungsstelle, November 2017
(7) Süddeutsche Zeitung vom 21.02.2019
(8) Entwicklung der Altersarmut bis 2036. Trends, Risikogruppen und Politikszenarien. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Zentrum für Europäische Wirtschafts¬forschung im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, 06/2017, Seite 7
(9) Dr. Reiner Braun und Lorenz Thomschke, Altersarmut — Heute und in der Zukunft. Deutsches Institut für Altersvorsorge 07/2017
(10) Deutsches Institut für Altersvorsorge (DIA) www.dia-vorsorge.de/ueber-uns
(11) Martin Brussig, Dominik Postels und Lina Zink: Niedrigrentenrisiko trotz vieljähriger Versicherung — zur Rolle des sozialen Ausgleichs in der gesetzlichen Rentenversicherung. Deutsche Rentenversicherung Zeitschrift 1/2018, Seite 39 ff.
(12) Markus M. Grabka, Timm Bänke, Konstantin Göbler, Anita Tiefensee: Rentennahe Jahrgänge haben große Lücken in der Sicherung des Lebensstandards, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, DIW Wochenbericht 37, 2018

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch von Tobias Weißert (Autor), Bündnis Rente zum Leben (Hrg.): Altersarmut — Zukunft für die Hälfte aller RentnerInnen?1. Auflage, 2019 Bündnis Rente zum Leben; 40 Seiten

Creative Commons Lizenzvertrag
Dieses Werk ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen Sie es verbreiten und vervielfältigen.