Wenn wir vom Denken in Klassen oder in Rollen sprechen, dann geht es auch um Perspektiven. Wie viele Perspektiven werden grundsätzlich im Klassendenken zugelassen und wie breit oder schmal ist das Fenster dann noch, durch das wir schauen?
Der US-amerikanische Schriftsteller John Steinbeck, der sich während der großen Depression in den USA der 1930ger Jahre im Milieu der verarmten Bevölkerung aufhielt, äußerte damals:
„[dass] sich die Armen selbst nicht als ausgebeutetes Proletariat verstehen, sondern als vorübergehend verhinderte Millionäre.“ (1)
Er sprach damit von jenen, die in den 1920er Jahren schon einmal aus der Armut gekommen waren und am Reichtum geschnuppert hatten.
Warum wurden eigentlich große Teile der Unterschichten in jener Zeit in den USA vermögend? Weil sie ihren bescheidenen Anteil an den Profiten kassierten, welche der Erste Weltkrieg den US-Unternehmen und vor allem ihren Banken einbrachte!
Die sich aus Teilen der Arbeiterklasse bildende Mittelschicht trug ganz eindeutig die gleichen Wesensmerkmale in sich, wie die des Establishments aus Wirtschafts- und Finanzkapital.
Damit verschwanden aber für den Betrachter die eh niemals so klaren Grenzen zwischen den systemisch zweifellos existenten Klassen. Sollten wir nicht eher von Rollen sprechen, besser noch Rollen leben? Rollen sind insofern anders als Klassen, als dass man in sie schlüpfen, sich aber auch durch sie ausdrücken kann. So wie ein Schauspieler – je nach Anforderung – die Rolle wechselt und idealerweise in ihr aufgeht, mit ihr verschmilzt, weil sein eigenes Ich mitspielt. Ja, wir können sogar mehrere Rollen gleichzeitig spielen – und Klassen?
Die Diversität unseres Rollenspiels ist auch völlig normal, denn der Mensch ist ein komplexes, widersprüchliches Wesen.
Ein Kapitalist – ein Besitzer von Kapital – kann verarmen und in das Proletariat „absinken“. Doch gibt es in umgekehrter Richtung genauso Beispiele, in denen Arbeiter zu Kapitalisten „aufstiegen“. Wurden damit erstere zu besseren, geläuterten Menschen und die zweiten moralisch verkommen? Welchen Sinn hat da eine Opfer-Täter-Klassifizierung, die von einer Arbeiterklasse spricht, die sich von ihren Ketten befreien wird, in dem sie ihre Ausbeuterklasse besiegt? Wird diese Klasse dann – wir theoretisieren – tatsächlich das Eigentum gerecht verteilen? Das ist eine ziemlich fragwürdige und auch nicht bewiesene These, die den ersten Stolperstein schon mit dem Eigentumsbegriff an sich mitführt.
Diese moralische Kategorisierung von Klassen finde ich mehr als zweifelhaft. Haben wir doch allesamt die Fähigkeiten auszubeuten – und tun das auch, wenn uns das auch oft nicht bewusst ist.
Nicht der Besitz entscheidet darüber, welcher Klasse, ja ob wir überhaupt einer Klasse angehören, sondern unser Denken.
Ein Kleinanleger an der Börse, auch ein Versicherungsnehmer, der sein Geld anlegt, um für den Lebensabend zu sparen, legt ganz ohne Zweifel Kapital an. Kapital ist bewertetes Vermögen, das, einmal angelegt, Profit erwirtschaften soll. Wie das Kapital zu seiner Bewertung kommt, ist noch eine ganz andere Geschichte. Aber dieses Hantieren mit Kapital, um es zu mehren, das tun Millionen in Deutschland und so sind sie auch allesamt Kapitalisten.
Sind die jetzt alle böse?
Das Geld, was die Anleger investierten, hatten sie zuvor im Supermarkt durch „preisbewusstes Einkaufen“ erwirtschaftet. Durch Ausbeutung von Produzenten in der Dritten Welt hatten sie sich die notwendige Kapitaldecke für weitere Investitionen am Markt „besorgt“. Ausbeutung klingt natürlich nicht so fein, daher nennen wir es auch lieber kosteneffizientes Denken oder sparsames Wirtschaften.
DAS ist Kapitalismus.
Sind jetzt die Betreiber der Supermärkte schuld, dass der Arbeiter wie ein Kapitalist handelt und über seinen unempathischen Konsum Arbeiter anderswo ausbeutet? Ist es eine Frage der Höhe des angesammelten Kapitals, inwieweit man Ausbeuter oder Ausgebeuteter ist?
Aus meiner Sicht ist Klassendenken im Sinne von den „Bösen da oben“ und den „Guten hier unten“ ein Selbstbetrug.
Menschen sind es – nicht gesichtslose Klassen -, die ausbeuten, so wie es sich bei den Ausgebeuteten um Menschen handelt. Sprechen wir aber von Rollen, sprechen wir auch von einem Grad an Selbstbestimmtheit, statt von „naturwissenschaftlich begründeten“ und damit unverrückbar vorgegebenen Gesellschaftssystemen, in denen Menschen als Masse und in ihr verantwortungslos aufgehen.
In Rollen bilden wir unser Wesen ab. Es gibt Rollen, die benötigen kein besonderes Zutun unsererseits. Sie zeigen auf unsere natürlichen und erworbenen Instinkte wie auf unsere charakterlichen Schwächen – und werden für Machtinteressen missbraucht, von der Metaebene bis hinunter auf die kleinsten Strukturen sozialer Gemeinschaften. Diese Rollen gehen auf im Spiel der Macht. Macht hat über das Ansprechen des Egos etwas Klebriges. Der so Vereinnahmte findet sodann die Aussicht, in einer Machthierarchie aufsteigen zu können, höchst attraktiv. Möglich, dass er so – aus systemischer Sicht – die Klasse wechselt und mit ihr die Ideologie, nicht aber sein Klassendenken.
Man könnte sagen, die nicht selbstbestimmte Rolle, welche damit auch von Unmündigkeit und fehlender Verantwortung zeugt, ist keine wirkliche Rolle mehr, keine, in der man den eigenen aktiven und damit verändernden, vor allem nach außen verändernden Part wahrnimmt.
Klassendenken verändert die Prioritäten. Während ich eine Rolle bewusst leben und weiterentwickeln kann, was mir Freiheitsgrade einräumt, gibt Klassendenken die Ziele vor.
Während eine Rolle sich dem eigenen Ich annähern kann – nicht umgekehrt (!) -, passt sich Klassendenken der vermeintlichen objektiven Wahrheit, der vorgegebenen Ideologie an. Klassendenken lässt sich das Denken und Handeln vorschreiben und reduziert damit die Freiheitsgrade. „Dienen“ ist ein Begriff, der sehr gut in hierarchische Systeme, Machtsysteme passt. Unser Ich wird ersetzt durch etwas Fremdes, um der großen Sache zu dienen. Wir opfern uns auf und bestimmen unseren Wert über diese Fremdidentifikation, über das Aufgehen der eigenen Existenz in einer fremdbestimmten Ideologie.
Das ist Denken in der Matrix.
Die selbsternannten und leider auch so angenommenen Eliten dieser Welt sind im Klassendenken genauso verhaftet wie jene, welche diesen Eliten jede Ethik und Moral absprechen und zum Kampf gegen sie aufrufen. Was diesen Klassenkämpfern dabei nicht bewusst ist, verbindet sich mit der Tatsache, dass sie meinen, bessere Eliten zu sein.
Klasse ist Masse. Dieser Masse folgt der Klassenbewusste. Damit kann er sich mitsamt seiner Verantwortung auch in ihr verstecken – muss ihr dort allerdings auch stets folgen. Klassendenken ist eben auch bequem, bequem im Denken. Es ist das Schwarmdenken, von dem die alten und neuen Ideologen des Systems immer wieder sprechen. Das Handeln der Menschen bestätigt sie darin, dass dieses Schwarmdenken Grundlage sozialer Gemeinschaften sein muss. Es legitimiert sie damit auch moralisch, als überlegene Denker Teil einer Klasse von Eliten zu sein.
Jedes Klassendenken ist Elitendenken, bei dem sich an der Macht befindliche Eliten mit jenen im Kampf befinden, die ihrerseits Macht anstreben. Was beide Seiten dafür benötigen, sind Mitläufer, Opportunisten, Massen. Deshalb gibt es auch die Propaganda. Denn sie sucht die Vereinnahmung der Massen und stellt die eigene Klasse dabei über die andere. Beide Seiten haben triftige Gründe für ihr Handeln und beide werten die jeweils andere Seite ab, sprechen ihr somit die moralische Berechtigung auf den Machtanspruch ab.
Es geht also um Macht und diese Macht setzt auf Menschen, die ihr folgen, sich ihr unterwerfen, sich für sie aufopfern. Daher geht Macht auch immerfort in den Kampf und wirkt destruktiv. Sie sieht nicht das zu Verbessernde vor ihren Augen. Das ist ihr zu trivial. Sie möchte die große Lösung – am besten für alle. Macht ist eben auch maßlos und je besser sie die Menschen ideologisch in ihre eigene Klasse einfügt, umso besser ist sie im Kampf gegen Konkurrenten aufgestellt. So sind Klassen auch die Armeen der Macht. Klassen sind funktional – bei Rollen lässt sich das so totalitär nicht sagen.
Rollen werden ausgefüllt und dieses Ausfüllen ist mit Kreativität verbunden. Da läuft kein starres Programm sondern Selbstverwirklichung. So wie im Theater jeder Schauspieler die Rolle im Stück anders spielt. Wenn er gut ist, sind Automatismen die kleinen Hilfen, aber die Faszination seines Spiels erschließt sich aus dem Ich, das er nach außen bringt. Wie auch die Botschaft eines Dramas durch die Inszenierung auf der Bühne immer eine andere sein kann.
In irgendeiner Masse unterzugehen, um als Teil dieser dem Willen einer Ideologie zu folgen, die sich – wie das nun einmal bei Ideologien ist – für die einzig wahre, für die Wiederspiegelung der unverrückbaren, weil zweifelsfrei objektiven Realität hält, dünkt mir kaum attraktiv. Selbstaufgabe, verbunden mit der völligen Aufgabe von autonomem Denken und Handeln, macht die Welt nicht friedlicher.
Wir können vielleicht glücklicher leben, in dem wir uns selbstverantwortlich die Rolle im Leben suchen, die unserem Ich am nächsten kommt, die uns sogar hilft, unser Ich zu entdecken und so glücklicher und damit auch für andere Menschen glückbringender zu werden.
Bleiben Sie bitte schön aufmerksam.
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Quellen:
(1) 2017; Fassadendemokratie und Tiefer Staat; Jens Wernicke, Ullrich Mies; Kapitel: Kernelemente des Tiefen Staates der USA; Mike Lofgren; Promedia Verlag, Wien; ab S. 97
(Titelbild) rundes Fenster, Dunkelheit; Autor: StockSnap (Pixabay); 2.8.2017; Quelle: https://pixabay.com/de/kreis-fenster-dunkel-zimmer-klasse-2569356/; Lizenz: CC0 Creative Commons