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Jetzt spreche ich!

Jetzt spreche ich!

Wie wirken sich Sprachnachrichten auf unsere Alltagskommunikation aus und was (ver-)lernen wir durch sie?

Vor knapp fünf Jahren rieben sich die Nutzer des Textmessangers WhatsApp verwundert die Augen, als neben dem „Absenden“-Icon plötzlich das Symbol eines Mikrofons erschien. Sehr schnell war klar, worum es sich bei dieser Funktion handelte. Man hielt und hält das Mikrofon-Icon gedrückt und kann so lange eine Nachricht einsprechen. Mittlerweile kann man diese Taste – zumindest bei WhatsApp – mit einem Wisch nach oben einrasten lassen oder die eingesprochene Nachricht löschen. Eine Funktion war geboren, die die Digital Natives spaltet.

Versendet man eine Sprachnachricht, erlebt man nicht selten, dass man daraufhin angerufen wird und die entnervte Stimme des Kontaktierten einen anmotzt, warum man denn nicht einfach anrufe, anstatt diese dämlichen Sprachnachrichten zu versenden. Die Grundfunktion und das Dispositiv einer Sprachnachricht – dazu später mehr – sind auf den ersten Blick dieselben wie bei einem Anrufbeantworter. Nur unterscheiden sich Voice Mails und Anrufbeantworter dahingehend, dass letzterer nur verwendet wurde, wenn man die gewünschte Person telefonisch nicht erreichen konnte.

In der heutigen Zeit der permanenten – telefonischen – Erreichbarkeit ist theoretisch jeder überall zu erreichen, dennoch wird im Voraus eine Art Anrufbeantworter verwendet. Ein Kommunikationsverhalten, welches zunächst paradox anmutet, birgt tatsächlich bei näherer Betrachtung eine tiefere Sinnfunktion.

Ein neues Dispositiv durch Sprachnachrichten

Der Begriff „Dispositiv“ bedeutet in diesem Zusammenhang die raumzeitliche Wahrnehmungsanordnung von Sendern und Empfängern von (Sprach-)Nachrichten. Abgesehen von den dreißig Sekunden, die man früher für das Einsprechen auf die Mailbox verwendete, ist das Dispositiv einer Sprachnachricht etwas anders. Vereinfacht gesagt sind Sprachnachrichten Folgendes:

Das wechselseitige Zusenden von Monologen, die in ihrer Gesamtheit wieder einen Dialog ergeben, wodurch am Ende einer solchen Konversation ein Hybrid aus beidem, also ein „Diamonolog“ entsteht.

Das spezifischste Merkmal des Sprachnachrichten-Dispositivs dürfte wohl die physische Abwesenheit des angesprochenen Empfängers der Nachricht sein. Dieser ist für den Absender weder leiblich in physischer Gestalt, noch akustisch (Telefon), noch visuell und akustisch (Skype-Gespräch) erfahrbar. Als Absender hält man sich das Handy – statt ans Ohr – 90 Grad gesenkt vor den Mund und spricht quasi in den luftleeren Raum hinein. Das bedeutet, dass man als Absender weder die Reaktionen auf das Gesagte von seinem Gegenüber durch die Mimik erfährt, noch dass man von diesem unterbrochen werden kann.

Das hat zur Folge, dass das Gesagte immer gut überlegt sein muss, wenn man nach acht Minuten nicht die ganze Nachricht wieder löschen möchte. Weiter ändert sich das Dispositiv dahingehend, dass Menschen sich beim Erstellen und Anhören einer Sprachnachricht anders verhalten. Während das Schreiben und Lesen einer Textnachricht immer im Sitzen oder zumindest im Stehen erfolgen muss, damit man nicht stolpert, kann eine Sprachnachricht gehend sowohl erstellt als auch rezipiert werden (1). Das führt uns zugleich zum nächsten Punkt: zur Beschleunigung.

Eine beschleunigte Entschleunigung

Sprachnachrichten führen zu einer beschleunigten Entschleunigung. Was erst nach einem Oxymoron klingt, wird verständlich, wenn man auseinanderklaubt, was durch Sprachnachrichten beschleunigt und was entschleunigt wird. Beschleunigt wird die inhaltliche Produktion. Dazu ein simples Beispiel: Man wird von zuhause mit dem Auto abgeholt. Man erhält eine Nachricht desjenigen, dass dieser nun da sei und unten im Auto warten würde. Man möchte demjenigen antworten:

„Okay, cool. Ich komm gleich runter. Ich muss nur noch zwei Minuten warten, bis die Waschmaschine fertig ist und dann noch schnell die Klamotten aufhängen. Ich beeil mich! (Smiley)“

Diesen Text zu tippen würde ewig dauern. Jeder, der nicht gerade über spindeldürre Finger verfügt, vertippt sich auf dem Handy – und sei die Touchscreen-Tastatur noch so groß – schnell. An dieser Stelle schöne Grüße an die Autokorrektur, a neverending lovestory! Im Eigenversuch habe ich es jedes Mal geschafft, den obenstehenden Beispielsatz in normaler Geschwindigkeit in unter acht Sekunden aufzusagen. Der Zeitgewinn ist somit enorm! Nicht nur, weil das Aufsagen schneller als das Eintippen ist, sondern, weil ich die Sprachnachricht parallel zu einer anderen Tätigkeit aufnehmen kann, deren Ausübung nur eine Hand benötigt, oder auch, weil ich – wie schon beschrieben – gleichzeitig zu meinem Ziel gehen kann und nicht stehen bleiben muss.

Natürlich wird eine Sprachnachricht nicht einzig allein für profane Themen verwendet, sondern verleitet durch ihre zeitliche Obergrenze von 30 Minuten – so zumindest bei WhatsApp – dazu, auch längere, tiefgründige Konversationen zu führen, bei denen dann über mehrere Minuten andauernde Sprachnachrichten entstehen. Hierbei ergibt sich für den Rezipienten die Herausforderung, die Nachricht wirklich zu Ende zu hören und nicht voreilig auf einen drängenden Punkt direkt zu reagieren, schließlich könnte eine auflösende Information im weiteren Verlauf der Voice Mail enthalten sein.

Das wahrhaftig geistige Jonglieren besteht darin, sich alle aufgesagten Punkte zu merken, um auf diese in der darauffolgenden Sprachnachricht seinerseits einzugehen. Die Voice-Mail-Profis schreiben sich mittlerweile Themenoberpunkte, die dann abgearbeitet werden, aber die meisten dürften das frei Schnauze machen. Und hier kommen wir zu der Entschleunigung und der damit verbundenen wertvollen Gabe, die das Rezipieren von Sprachnachrichten benötigt, beziehungsweise die dadurch wieder trainiert wird: das Zuhören!

Der Nutzen von Sprachnachrichten

Sprachnachrichten seien doch eine Kommunikationsform für Narzissten, mögen viele nun einwenden. Da hört sich der Narzisst ewig lange selber reden. Ja, ja, da haben die Macher mal wieder ein wunderbares Ventil für die narzisstische Gesellschaft gefunden. Und in der Tat! Beim Einsprechen solcher Nachrichten mag man sich vielleicht wirklich wie ein Schauspieler in der Probe fühlen, der einen improvisierten Text aufsagt. Man betritt sprachlich ein komplett neues Terrain, weil man eben einen langen Monolog einspricht, der von niemandem unterbrochen wird.

Man kann sich rhetorisch austoben, mit Betonungen sprechen, die man in einem Dialog oder Telefonat so nie verwenden würde, Atempausen verwenden, aber vor allem auch das klare und deutliche Sprechen üben. Ja, Sprachnachrichten mögen bei echten Narzissten in der Tat Anklang finden. Gleichzeitig sind sie gerade für schüchterne Menschen ein wunderbares Werkzeug, um einmal aus sich selber herauszukommen und sich in Abwesenheit anderer zu getrauen, laut und deutlich zu sprechen.

Aber eine der schönsten Funktionen ist es doch, dass wir durch Sprachnachrichten wieder lernen, dem anderen gut zuzuhören. Wenn auch gezwungenermaßen, da wir nicht imstande sind, diesen zu unterbrechen. Viele von uns kennen wahrscheinlich die bittere Erkenntnis aus dem Zitat aus Fight Club:

„Wenn Menschen denken, dass du stirbst, hören sie dir richtig zu, anstatt nur … – drauf zu warten, dass sie dran sind mit Reden?!“

Herrje! Hätte Edward Norton damals nur schon die Möglichkeit gehabt, Sprachnachrichten zu versenden und zu empfangen, dann wäre die Handlung des Films wohl nicht so eskaliert. Aber Scherz beiseite! Sprachnachrichten fördern das Zuhören! Gerade dann, wenn wir diese auf guten Kopfhörern rezipieren, die Stimme des anderen uns ganz nah ist und er uns das, was er zu berichten hat, in einer schönen Erzählform rüberbringt und wir einfach mal „gezwungen“ sind, ohne Unterbrechung hinzuhören. Durch Sprachnachrichten können wir uns gegenseitig mit auf den Leib geschneiderten Podcasts beschenken und den anderen dazu bringen, unsere Sicht der Dinge besser zu verstehen.

Weiter bergen Sprachnachrichten eine Speicherfunktion. Während in Unterhaltungen Worte augenblicklich verhallen und „nur“ noch in unserem Gedächtnis weiterleben, können aufmunternde Worte, Lob, Dirty Talk und lustige Erzählungen immer wieder – auch in dunklen Stunden – von Neuem angehört werden. Und letztlich sind Sprachnachrichten der Befreiungsschlag aus der Niederung der kurzen und bündigen SMS-Sprache, die unsere schönen Sprachen mit Abkürzungen wie „hdl“, „lol“, „rofl“, „lg“ usw. verunstaltet hat. Durch Sprachnachrichten finden wir wieder zu einer schönen Sprache der gut gewählten Worte und schönen Formulierungen zurück.


Quellen und Anmerkungen

(1) vgl. Grampp, Sven (2016): Medienwissenschaft, S.47-49, 2016 Konstanz, UKV Verlagsgesellschaft mbH

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