Tag 23 der spanischen Ausgangssperre. Nicht einmal Spazierengehen ist erlaubt. So spüre ich zum ersten Mal am eigenen Leib, was ich abstrakt und theoretisch schon oft gelesen hatte. Dass unsere westliche Demokratie und unsere Freiheit eine Illusion seien. Da ich allein lebe, bin ich seit über drei Wochen von der Mitwelt isoliert, kann nur zum Einkaufen oder Müllwegbringen vor die Tür, und denke verzweifelt nach. Meine Stimmung schwankt zwischen hoffnungsloser Niedergeschlagenheit, unterschwelliger Angst vor dieser nicht greifbaren Bedrohung in der Luft, Unsicherheit darüber, wie es nach dem „Shut down“ weitergeht und einem Willen nach Widerstand, nach Wandel, nach Nutzen dieser Situation für mich und für unsere Gesellschaft, wenn nicht sogar für die Menschheit.
Also lese ich viel. Brauche Futter für den Geist, der sich nicht einsperren lässt. Darunter auch „Die Öko-Katastrophe“, unser erstes Rubikon-Buch, das im Oktober letzten Jahres erschien. Die Autorinnen und Autoren erklären, wie ernst die Lage für uns als Menschheit und den Planeten insgesamt ist und dass wir so schnell wie möglich einen grundlegenden Wandel unserer Lebensweise brauchen. Wie oft habe ich das schon gelesen. Diese alarmierende Dringlichkeit, die mich oft eher lähmt, als ins Handeln bringt. Doch durch die derzeitige Ausnahmesituation nehme ich diese Worte nun ganz anders auf. Verstehe sie nicht nur, sondern spüre sie regelrecht.
Was im Oktober noch trockene Theorie und absolut unmöglich schien, ist plötzlich — zumindest für die Zeit des „Shut downs“ — Realität! Auf einmal geht es. Die Mehrheit der Menschen lebt ihren Alltag mehr oder weniger, ohne das Auto zu benutzen, ohne zu fliegen, ohne irgendwelche Frühjahrsgarderobe oder andere Dinge en masse zu shoppen. Auf einmal zählt die Gesundheit und das Leben mehr als Wirtschaftswachstum und finanzielle Einkünfte. So die Begründung für den Ausnahmezustand.
Woran liegt es, dass dies jetzt möglich wurde und vorher nicht? Die Gefahr des „Coronavirus“ scheint unmittelbar lebensbedrohlich. Die Gefahr des Klimakollaps hingegen in weiter Ferne und zu abstrakt. Vor dem Virus können wir uns anscheinend schützen, indem wir anders leben und kaum noch vor die Tür gehen. Gegen den Klimakollaps reicht das ja nicht. Oder doch?
In der Evolution hat sich unser Verstand nicht sehr gewandelt. Uns fällt es nach wie vor schwer, Lösungen umzusetzen, die wir lediglich verstandesgemäß erfassen, aber nicht fühlen. So rauchen Menschen, auch wenn sie genau wissen, dass sie damit ihr Risiko immens erhöhen, an Lungenkrebs zu sterben, oder sie rasen mit 200 km/h über deutsche Autobahnen, ohne sich einer Gefahr bewusst zu sein. Bis eine Krankheit oder ein Unfall, sofern man sie überlebt, eine neue Sicht- und damit Verhaltensweise ermöglichen. Unser Gehirn scheint so zu funktionieren, dass wir erst reagieren, wenn eine Krise uns dazu zwingt. So hinterfragt ein Mensch erst sein Arbeitsleben im Bullshit-Job-Hamsterrad, wenn der Krebs oder das Burn-out ihn in die Knie zwingt, obwohl er meist schon lange vorher weiß, dass ihn seine Arbeit kaputt macht.
So wie jetzt unsere gesamte Gesellschaft durch den Ausnahmezustand feststellt, dass die vermeintliche „Sicherheit“ und das „Irgendwie geht es schon immer weiter so“ eine Illusion waren! Es ist der perfekte Augenblick, uns mit dem Klimathema und unserem Lebenswandel auseinander zu setzen. Denn gerade die Zeit dieser Krise könnte unsere Fähigkeit extrem fördern, uns für eine neue Lebensweise zu entscheiden.
Hätte uns jemand vor ein paar Wochen befragt, ob Regierungen westlicher Länder die ganze Bevölkerung einfach wochenlang einsperren können und auch würden, so hätten die meisten sicher geantwortet: Das ist unmöglich. Dass jetzt keine Debatte über die Angemessenheit der drastischen Maßnahmen stattfindet, geschweige denn eine gewisse Zahl kritischer Menschen diese überhaupt einfordert, hätten wir sicher für ebenso unwahrscheinlich gehalten.
Selbst Menschen, die das Virus für sich noch immer für sehr gefährlich halten, hätten sich vor ein paar Wochen, als in China die ersten Menschen starben, nie vorstellen können, dass wir kurze Zeit später auch hier eine Pandemie erleben, die unser ganzes Leben lahm legt.
Es ist also völlig egal, welche Ansichten ein Mensch in Bezug auf das Virus oder die Maßnahmen der Regierungen gerade vertritt: Jeder erlebt am eigenen Leib, wie schnell etwas eintritt, was er zuvor für unmöglich gehalten hatte. Das stärkt unsere Bereitschaft zum Wandel auch für andere Gefahren, die seit Langem im Raum schweben, wie den Klimawandel. Auch von der sozialen Ungleichheit sind nun viel mehr Menschen betroffen als vor dieser Krise.
Während ich „Die Öko-Katastrophe“ lese, steigt in mir der Wille, irgendwie aktiv zu werden, zukünftig weniger zu fliegen und mir zu überlegen, ob ich dann trotzdem im Ausland wohnen bleibe, während die Mehrheit meiner Liebsten in Deutschland wohnt. Ich möchte noch weniger und noch bewusster einkaufen, mehr über Permakultur wissen, vielleicht sogar in einer solchen Gemeinschaft leben. Ich möchte meine Mitmenschen anstecken mit der Freude, unsere Gesellschaft neu zu gestalten, uns auf das Wesentliche zu besinnen, weitere Inspirationen durch weitere Bücher zu sammeln, Projekte anzugehen und vorzustellen.
Vor allem möchte ich der Jugend, auf die es nun am meisten ankommt, helfen, an ihre individuelle Bedeutung und an ihre Träume zu glauben. Viele von ihnen wurden durch uns — die Vorgängergenerationen — in das materialistische Weltbild vom ewigen Konsum und Medienkonsum hineingedrängt und fühlen gar nicht, wie wichtig sie sind. Ständig wird an ihnen herumgenörgelt, über sie geredet, aber nicht mit ihnen. Ich möchte dazu beitragen, ihnen eine Stimme zu geben. Ich habe viele Ideen und ich empfehle jedem, ausgerechnet jetzt dieses wertvolle Buch zu lesen, das meine Rubikon-Kollegen als „Handbuch zu den weltweiten Klimaprotesten“ zusammengestellt haben. Das Buch steckt an.
So schreibt darin zum Beispiel Steffen Pichler:
„Aus kognitiven, ja sogar neurologischen Gründen können nur ganz junge Menschen zu einer solch radikalen geistigen Zäsur in der Lage sein. Deswegen sowie aufgrund eines in ihnen noch besonders stark brennenden Überlebenswillens liegen die Chancen der Menschheit und auch der anderen Lebensformen in einer neuen Jugendbewegung (…).
Es bräuchte dazu auch nicht nur die streikenden Schüler und Studierenden als eigentliche Kräfte in der Mitte des Schneeballes, sondern auch die treue sowie ebenfalls risikobereite Unterstützung durch dazu gewillte Professoren, Lehrer, Naturwissenschaftler und weiterer erwachsener Menschen“ (2).
Für alle, die gerade durch den Stillstand des wirtschaftlichen Lebens in finanzielle Bedrängnis geraten sind, lautet die gute Nachricht, dass wir schon seit Langem eine Aktionswoche auf Amazon geplant hatten, die nun vielleicht genau zur richtigen Zeit stattfindet: Vom 10. bis zum 16. April ist die „Öko-Katastrophe“ als eBook für nur 7,49 Euro statt 14,99 Euro erhältlich.
Nutzen wir die Energie, die die Krise in uns freisetzt, um uns bewusst zu machen, wie ernst die Lage ist, und den schon lange notwendigen Wandel endlich in Gang zu bringen. Nicht nur auf der individuellen Ebene durch eigene Lebensentscheidungen, sondern auch durch Vernetzung und ein neues kollektives Bewusstsein darüber, was unser Leben lebenswert macht.
„Trotz allem braucht es nur ungefähr 3 bis 5 Prozent der Weltbevölkerung, um die Willkürherrschaft der Mächtigen herauszufordern. Hierfür muss die Realität zunächst benannt und akzeptiert werden. Das wird nicht einfach sein. Es bedeutet, um das zu trauern, was uns unausweichlich bevorsteht: ein Massensterben. Es bedeutet, angesichts einer sicheren Niederlage trotzdem zu handeln, um den Plan derjenigen zu durchkreuzen, die uns auslöschen wollen“ (3).
Wie könnt ihr es wagen?
(Roland Rottenfußer, 9. April 2020)
Ihr ehrbaren Herren, wie könnt ihr es wagen,
So unsere Zukunft zu Grabe zu tragen.
Wie könnt ihr es wagen, ihr schützt eure Pfründe,
Wollt endlos vertagen, was dringend anstünde
Ihr ehrbaren Herren und manchmal auch Damen,
Ihr schändet die Erde in unserem Namen.
Ihr spottet der Erben, um euer Versagen,
Jetzt rosig zu färben — wie könnt ihr es wagen?
Wie könnt ihr es wagen, über Ängste zu lachen,
Nach Beute zu jagen auf den Schultern der Schwachen.
Euch stets auf die Seite der Blender zu schlagen
Und uns zu vertrösten — wie könnt ihr es wagen?
Entfesselte Händler, die wie biblische Plagen,
Die Auen zerfressen mit feistem Behagen,
Die Kloaken schaffen, wo Fische verrecken,
Und ihr wollte euch weiter hinter Phrasen verstecken.
Und Bulldozer nagen an uralten Wäldern
Es legt sich erstickend gelber Tod auf die Felder.
Wo ist noch das Türkis der kristallenen Küsten?
Es weicht alles Wilde, und es wachsen die Wüsten.
Weint ihr nicht um die Flüsse, die unrettbar verseuchten?
Aus den Blicken der Kinder verschwand schon jedes Leuchten.
Warum bleibt ihr im Vagen, wo wir Klartext jetzt bräuchten?
Ihr müsst es uns jetzt sagen: wie könnt ihr es wagen?
Während Brunnen vertrocknen, erigieren Raketen.
So wird dieser Saphir bald zum grauen Planeten.
Ihr fahrt feixend gen Abgrund, statt die Habgier zu zügeln,
Statt Kritik zu bedenken, lasst ihr Kritiker prügeln.
Ihr erstickt jeden Aufruhr und hätschelt die Braven
Was ihr wollt, ist ein Kirchhof, ein Planet voller Sklaven.
Die, was ihr tut und lasst, achselzuckend abnicken
Die es dulden und schlucken, bis sie dran ersticken.
Ihr habt nicht mehr viel Zeit, euer Dasein zu würzen.
Warum müsst ihr dann unseres mutwillig verkürzen?
Ja, ihr dient längst dem Toten, seid Verwalter des Sterbens,
Nur blinde Vollstrecker des aufhaltsamen Verderbens.
Seht ihr denn nicht die Blüten, seht ihr denn nicht die Farben?
Seht das Weinen der Mutter, ihre Haut voller Narben?
Sehr ihr nicht wie die Liebe sich in alles verströmt?
Könnt ihr wiedererschaffen, was der Erde ihr nehmt?
Seht, das funkelnde Wasser fällt in blauen Kaskaden
Und auffliegende Möwen, die im Sonnenlicht baden
Und am Waldrand das Reh, lauschend, still vor dem Sprung.
Sagt, ist all das bald nur noch — Erinnerung?
Ist das nicht eure Welt, lebt ihr hier denn nicht gern?
Sagt, habt ihr schon ein Ticket für einen schöneren Stern?
Und selbst wenn es so wäre, ich würde darauf schwören,
Ihr würdet auch den schon bald wieder zerstören.
Sagt, seid ihr des Wahnsinns, schon ganz ausgehöhlt?
Warum habt ihr so gründlich euer Menschsein verfehlt?
Und schließlich: wer sind wir, dass wir euch belehren?
Ließen wir, die jetzt klagen, euch nicht zu lang gewähren?
Wollen wir, dass die von morgen voller Hass auf uns zeigen —
Auf die Ära der Blinden, auf die Generation der Feigen,
Die, die alles verspielten, die, die immer vertagten,
Nur weil sie ein paar Irre nicht zu bändigen wagten?
Ja, jetzt muss etwas gären, es muss etwas aufbrechen
Ihr könnt uns nicht mehr knebeln, uns nicht länger bestechen.
Wir wollen Zukunft gestalten und sie nicht nur ertragen.
Uns dem Zeitgeist nicht beugen, nein, ihn überragen.
Das, was festgefügt scheint, jetzt beherzt hinterfragen,
Unsere Ängste umarmen, dabei niemals verzagen,
Und den anderen helfen, ihre Päckchen zu tragen.
Das wollen wir wagen.
Kommt, lasst es uns wagen!
Quellen und Anmerkungen:
(1) Klappentext „Die Öko-Katastrophe“, Rubikon Verlag 2019
(2) Steffen Pichler, „Abriss statt Fassadenreparatur“, Die Öko-Katastrophe, Rubikon Verlag 2019, S. 340-352
(3) Chris Hedges, „Der letzte Akt“, Die Öko-Katastrophe, Rubikon Verlag 2019, S. 369-374