Das chinesische Wort „Krise“ setzt sich aus den beiden Begriffen „Gefahr“ und „Gelegenheit“ zusammen. Das Leben in dieser Welt fragt uns nach dem Sinn unseres Seins. Wenn es ihn gibt, dann besteht er darin, Weiterleben möglich zu machen, möglich zu halten. Das geht nur in Kooperation, in Solidarität. Die Basis dafür besteht darin, dass mensch gerne lebt. Dadurch entsteht das Motiv, achtsam mit dem Lebensraum umzugehen. Der Mensch lebt nicht gerne alleine.
Die Bewegungen, die sich in unseren Tagen für die Umwelt, die Demokratie, den Frieden und gegen die soziale Ungerechtigkeit einsetzen, können das Glücksgefühl des eigenen Sinns nähren. Sie sind ein erfreuliches Zeichen der Hoffnung. Bewegungen, die am Hambacher Wald, in München, im Ruhrgebiet, auch beim Solidaritätskonzert in Chemnitz und bundesweit vielen Städten teils zehntausendfach für ein friedliches, soziales und Umwelt-Zukunfts-verträgliches Leben aktiv sind, bringen ein wichtiges Gegengewicht gegen den Militarismus, den Ultranationalismus und den Rassismus ein. Sie stehen gegen die Auswüchse des neoliberalen Kapitalismus. Und dies tun sie in einer Zeit, in der das kapitalistische System die Menschheit mit wachsendem Tempo an den Abgrund katapultiert.
Der neue zehntausendfache Aufschwung der Bewegungen kann ein Schritt in die Richtung eines Notausgangs für die Menschheit sein, um den Zukunftsgefährdungen vielleicht doch noch zu entgehen. Allerdings sind noch viel deutlichere und auch beharrlichere Schritte in diese Richtung notwendig. Rückschläge, die den Weg zum Erfolg immer auch mit begleiten, dürfen den Mut der Engagierten und ihrer WeggefährtInnen nicht lähmen. Sie können auch ermutigen, die Anstrengungen weiter zu verstärken. Das ist die Kraft des Trotzdem-Lebens.
Die Gefahr der Vernebelung der Gefahrenursachen
Das Kernproblem besteht aus einem Problemmix: Die politische Demokratie kann die im Kapitalismus unlösbaren Widersprüche zwischen der Entkoppelung von menschlicher Arbeit einerseits und der Wertschöpfung in der Ökonomie andererseits nicht lösen, da der betriebswirtschaftliche Vorteil der mannarmen Produktion die Grundlage aller Entscheidungen ist.
Zugleich erwartet die Bevölkerung von der Politik aber genau diese Lösung in der Zeit der Digitalisierung. Solange die Lösung dann im Regierungswechsel gesucht wird, droht die Dynamik der gesellschaftlichen Verhältnisse und ihrer Entwicklung immer unsicherer und chaotischer zu werden. Das ist nicht nur eine notwendige Gelegenheit für die Kräfte, die an die Wurzel der Probleme gehen wollen — das bedeutet „radikal“ sein —, also für die Bewegung gegen das System der Konkurrenz bei der Jagd nach Profit zugunsten der immer weniger werdenden, immer reicheren Kapitalbesitzer. Es ist auch die Stunde der Sündenbock-Prediger/innen, die mit schwarz-weiß-Denken Gift in die Gehirne träufeln, die Juden, die Flüchtlinge, die Kommunisten, die 68er und so weiter seien schuld.
Krieg gegen die Natur
Während die Rechten von Brasilien über Japan bis Italien an Stärke zulegen, intensiviert der Kapitalismus den Krieg gegen die Natur und gegen die Solidarität der Gegenkräfte, der Mehrheit der Gesellschaft. Statt die Entwicklungen umzukehren, die zu einem immer schnelleren Abschmelzen der Eisgebiete der Erde führen, zu einer Ausdehnung der Wüstengebiete, zu Überschwemmungen und Zerstörungen durch Hurrikane, Orkane, Tropenstürme und ähnliche ungewöhnliche Wetterereignisse, statt das Experiment mit der Zufügung klimaverdächtiger Verbrennungsabgase in die Atmosphäre so schnell wie möglich zu beenden, verfolgen beispielsweise die großen Energiekonzerne wie RWE am Hambacher Wald eine Politik des Tabula-Rasa gegen einen der letzten unwiederbringlichen Wälder mit jahrtausendealten Bäumen und seltenen Tierarten, um die CO2-intensive Braunkohleverstromung weiterführen zu können. Sie rechtfertigen das mit einer Milliardenrechnung, die sie sich nicht entgehen lassen dürfen (1).
In den letzten Tagen war am Hochhaus-Turm der RWE-Verwaltung in Essen ein Transparent zu sehen mit dem Text, es sei für den Hambacher Wald zwei vor zwölf. Die Industrie hat die letzten Jahre vertan, ohne eine nachhaltige Energieversorgung, die auch Arbeitsplätze mit sich bringt, auf- und auszubauen. Das Argument, man schütze die Arbeitsplätze der mit der Braunkohleverstromung befassten Beschäftigten, ist vor diesem Hintergrund vorgeschoben und eine Ausflucht für die eigentlichen Versäumnisse, die auch den Netzausbau und die Energiespeichertechniken betreffen.
Die Kohlekommission der Bundesregierung, die den sperrigen Namen trägt „Kommission für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“, hat die Aufgabe, eine klimaverträgliche Lösung auf dem Weg in eine zukunfts- und lebensverträgliche Energienutzung mit erneuerbaren Energien, Einsparungen und Kraft-Wärme-Kopplung zu finden. Zum Stopp der Waldzerstörung in Hambach und zum möglichst radikalen Ausstieg aus der Braunkohle, die eine besonders schmutzige Energiegewinnung darstellt, muss auch das Ende der Kriminalisierung der Umweltschützerinnen und -schützer und weiterer GegnerInnen der kapitalen Ausbeutung von Mensch und Natur kommen.
Die Hetze gegen die „Radikalen“ hat in Deutschland eine lange Tradition, deren Opfer beispielsweise schon die 68er-Bewegung in der Springerpresse und anderen Medien war. In den Jahrzehnten davor erklärte Thomas Mann den Antikommunismus zur Grundtorheit des 20. Jahrhunderts. Wir erleben eine solche Stimmungsmache derzeit auch aus Teilen der Öffentlichkeit gegen die Friedensbewegung, der Antisemitismus vorgeworfen wird, wenn sie die Regierung Israels zum Beispiel wegen ihrer ungerechtfertigten Härte gegen Palästinenser und Araber kritisieren.
Gefahr des finalen Krieges
Das ist tragisch, denn die ökologische Existenzbedrohung der Menschheit findet in der Kriegsgefahr ein Pendant höchster Gefährlichkeit. Die US-Armee hat schon vor 15 Jahren den Zusammenhang von Naturzerstörung, Krieg und Flucht gesehen (2).
Wie notwendig das Engagement der Friedensbewegung ist, das zeigt beispielsweise die Tatsache, dass die Nuklearwissenschaftler/innen die Uhr zur Warnung vor dem Atomkrieg auf zwei vor zwölf vorgestellt haben. Sie begründen das unter anderem mit der neuen Stufe der Atomrüstung, vor allem der für Westeuropa vorgesehenen und für die NATO-Führung als viel gebrauchsfähiger eingestuften Wasserstoffbombe B 61-12 mit Zielfindungssystem (3); hinzu kommt der Zerfall der internationalen Ordnung, der vor allem durch Kriege verursacht worden ist, die von Staaten des NATO-Gebiets eröffnet, geschürt oder indirekt als Resultat vorheriger Kriege ausgelöst wurden. Weltweit wird Gewalt auch unterhalb der Schwelle zum Krieg weitestgehend mit Waffen ausgefochten, die aus Fabriken der NATO-Staaten stammen.
Die Situationen werden immer unübersichtlicher: Wer versteht beispielsweise das Geschehen in Syrien zwischen den USA, Russland, Saudi Arabien, der Türkei, Israel, dem Iran, dem IS, der Freien Syrischen Armee, kurdischen Kämpfern und der Regierung Syriens? Das Risikopotential ist so intensiv und schnell gestiegen, dass eine weitere Dynamik zum Inferno führen kann. Dies auch dadurch, dass Krisenmanagern verwickelter Staaten die Nerven durchgehen können.
In dieser Weltlage befassen sich die Militärs vermehrt mit Strategien, die bis zur Führung eines Atomkrieges an Wahnsinn kaum zu überbieten sind. Sie knüpfen an den US-Militärstrategen Colin S. Gray an, der in den 1980er Jahren berühmt wurde, als er den Atomkrieg als führbar und gewinnbar bezeichnete. Man brauche eine schlagkräftige Angriffs-Raketen-Flotte, einen möglichst perfekten Raketen-Abwehr-Schirm gegen feindliche Atomraketen und einen guten Zivilschutz, um die eigenen Verluste kontrollierbar zu halten (4).
Die Kalkarer Strategieschmiede „Gemeinsames Luftwaffen-Kompetenz-Zentrum“ befasste sich vor zehn Jahren in seiner Jahreskonferenz 2008 in Kleve mit einem so genannten expeditorischen Krieg, der vor allem durch den Einsatz von Drohnen geführt wird.
Konferenzen dieses Kalkarer NATO-Zentrums waren bereits seit der Jahreskonferenz 2006 zum Thema Drohnen an der Entwicklung der Strategie des NATO-Drohnen-Krieges direkt beteiligt. Mit unbemannten Flugobjekten, die kurz in ein Land fliegen, Raketen absetzten und dann umkehren, verwischen NATO-Staaten schon jahrelang die Grenzen von Krieg und Frieden, sie untergraben das Völkerrecht und die Menschenrechte.
Es handelt sich um Krieg ohne Kriegserklärung. Sie haben für diese Verbrechen noch nicht einmal eine Frontlinie. Dazu schrieb Ingeborg Bachmann einst:
„Der Krieg wird nicht mehr erklärt,
sondern fortgesetzt. Das Unerhörte
ist alltäglich geworden. Der Held
bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache
ist in die Feuerzonen gerückt.“ (5)
Welche Feuerzonen die Herren und Damen in der Messe Essen einkalkulieren, das zeigt schon alleine das Auswertungs-Skript ihrer letztjährigen Konferenz zum Thema „Abschreckung“. Dort steht auf Seite 13, man sollte die Absenkung der Schwelle zum Atomkrieg in Erwägung ziehen, um Kosten für konventionelle Rüstung zu sparen (6). Schon das Wort „Abschreckung“ ist Manipulation: Die NATO erklärt sich zum guten Sheriff und ihre möglichen Gegner zur Achse des Bösen und so weiter. Abschreckung mit Atompotentialen beinhaltet die Option ihres Ersteinsatzes. Das hat der Internationale Gerichtshof 1996 als Völkerrechtsbruch gekennzeichnet (7).
Der ehemalige Essener Bundespräsident Heinemann sagte dazu:
„Die neuen sogenannten Waffen sind die prinzipielle Außerkraftsetzung allen Kriegsrechts, sind das Ende aller Errungenschaften abendländischer Kultur“ (8).
Die diesjährige NATO-Konferenz in der Messe Essen trägt den Titel „Der Nebel des Tages Null an der Frontlinie von Luft und Weltraum“.
Schon alleine der reißerische Konferenztitel ist ein Schlag gegen das Friedensgebot des Grundgesetzes und des Völkerrechts, es ist ein Stoß in unser aller Herz. Er erinnert erneut an Ingeborg Bachmanns genaues Bild von einer Welt:
„wenn nichts mehr geschieht,
... wenn der Feind unsichtbar geworden ist
und der Schatten ewiger Rüstung den Himmel bedeckt.“ (5)
Diesen Nebel im Himmel zu verhindern ist die Aufgabe des großen Bündnisses, das ein Gebot unserer Zeit ist. Dazu gehören Sammlungsbewegungen, die Gewerkschaften, die Solidaritätsbewegung — alle Bewegungen gegen die Auswüchse des Systems.
Das große Bündnis
Die demokratischen Bewegungen kämpfen gegen die Diffamierung der Friedenskräfte in der medialen Öffentlichkeit. Sie verlangen außerdem von den Behörden, die Unterstützung von Konzernen einzustellen, die sich — wie beispielsweise die „Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke“ [RWE] — in der Logik des Systems primär um ihr Milliardengeschäft sorgen und nicht um die Gesundheit der Natur und damit auch der Menschen, geschweige denn um die Zukunft des Lebens.
Demonstrationen für das Leben gewinnen derzeit an Unterstützung; das ist für Mächtigen problematisch, veranlasst sie zu einer Stimmungsmache, die die alternativen Kräfte von weiterer Unterstützung durch die Bevölkerung abschneiden soll. Es ist interessant zu beobachten, dass die Herrschenden nach der Weltwirtschaftskrise auf die Nazis setzten und dass auch seit der Wirtschaftskrise 2008 rechtsextreme Kräfte Aufwind erleben.
Der Staat und damit auch die Polizei dürfen nicht Erfüllungsgehilfen der Profiteure sein. Kapitalistisches Denken und Handeln verletzt unsere demokratischen, sozialen, ökologischen und menschlich-humanen Lebensbedürfnisse.
Die Friedens-und Umweltbewegung sind natürliche Partner, die mit den Gewerkschaften Lösungen finden müssen, die eine maximale Übereinstimmung zwischen der Zukunft der Gesellschaft und der Familien eröffnen.
Dafür ist ein gesellschaftliches Klima der Kooperation und Solidarität von hoher Bedeutung, denn Menschen, die sich in einer solidarischen Atmosphäre gegenseitigen Respekts für sinnvolle Ziele einsetzen, können die nach Albert Schweitzer notwendige Ehrfurcht vor dem Leben entwickeln, da sie gerne leben und deshalb das Leben schützen und bewahren wollen. Wir können das als Gattung nur dann schaffen, wenn es die einzelnen Menschen sehr mehrheitlich wollen.
In unseren Tagen wird das gesellschaftliche Zusammenleben durch Ultra-Nationalisten, durch Rassismus und Hass gegen Andersdenkende sowie durch Fremdenfeindlichkeit und Militarismus vergiftet.
Aufstehen wird nicht genügen. Es müssen Schritte folgen, die das Potential der Überwindung kapitaler Gefahren zusammenführen. Danach erwarten uns Aufgaben auf dem Weg zum heute fast unmöglich erscheinenden nachkapitalistischen System.
Wir haben allerdings im 21. Jahrhundert nur eine realistische Chance, nämlich die, das anzustreben, das vielen — vielleicht auch uns — unmöglich erscheint.
Unser Nein zum Krieg gegeneinander, gegen die Natur — ist ein Ja zum Leben.
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt.milliardenkosten-bei-verzicht-rwe-haelt-an-rodung-im-hambacher-forst-fest.e6549ff9-6f50-4571-bb13-06df84d02669.html
(2) http://halfgeek.net/weblog/special/gwreport/Pentagon.html
(3) http://www.bits.de/public/researchreport/rr12-1-1.htm
(4) https://www.forum.lu/wp-content/uploads/2015/11/1418_67_Anonym.pdf
(5) https://www .lyrikline.org/de/gedichte/alle-tage-265
(6) https://www.japcc.org/wp-content/uploads/JAPCC_Conf_2017_Proceedings_screen.pdf S. 13
(7) https://buechel-atombombenfrei.jimdo.com/international/igh-urteil-gegen-atomwaffen/
(8) Niederschrift Protokoll Bundestag 25.3.1958