Ich schreibe als ein „Wessi“, der bis zum Ende der DDR dort familiäre und politische Kontakte hatte und der sich regelmäßig und gerne in der „Zone“ aufhielt, also sein Leben in beiden deutschen Staaten leben durfte.
Im Diskurs über die DDR überwiegt der typisch westdeutsche Standpunkt eines kriminellen Straßenräubers, der das Eigentum seines Überfallopfers zusammenraffte und den Darniederliegenden wegen dessen Mittellosigkeit auch noch verhöhnt. Die Forderung, den Staat DDR als „Unrechtsstaat“ auszugeben, weil er ein Zwangssystem organisiert habe, in dem das Recht des Individuums nichts galt, finde ich indiskutabel. Sie ist in dieser generalisierten Form eine propagandistische Maßlosigkeit. Was machte die „Stasi“ Schlimmes, das nicht die westdeutschen Geheimdienste heute in noch größerem Umfang vollführen, nur filigraner und perfektioniert, unauffälliger, aber weit effektiver? Welche widerwärtigen Morde und Attentate auf politische Gegner des Systems, die nicht ihre Entsprechung im Westen gehabt hätten?
DDR-Bürger konnten regimekritische Bemerkungen nicht äußern, ohne schwerwiegende Nachteile für sich, ihre Familie und ihren Alltag befürchten zu müssen. Falls das wirklich ein Alleinstellungsmerkmal der DDR war: Heute können sie ihre Meinung frei äußern. Bloß hört ihnen niemand zu.
Es gab keine schrankenlose Reisefreiheit in der DDR. Heute können die Bürger in alle Welt reisen — falls sie das Geld dafür haben. Haben sie es?
Offen aktive Systemgegner der DDR kamen dort in Haft. Dokumentiert ist nicht, um wie viele Fälle es sich handelt, westliche Schätzungen liegen bei 200.000. Unsäglich! Blicken wir bitte einmal auf den deutschen Staat westlich des Zauns und auf die Zeit nach 1956, so stellt sich die Frage: Wie verhält es sich mit den 280.000 Kommunistinnen und Kommunisten, die nach dem verfassungswidrigen KPD-Verbot entweder in westdeutsche Zuchthäuser wanderten, verfemt ins soziale Elend gestürzt wurden oder sich zur Emigration gezwungen sahen?
Waren die sogar im Jahre 2004 noch durchgeführten 1,4 Millionen Überprüfungen auf „Verfassungstreue“ zur BRD, die insgesamt 11.000 Verfahren wegen „Verdachts verfassungsfeindlicher Bestrebungen“ und die annähernd 2000 ausgesprochenen Berufsverbote ein bundesrepublikanischer Nachweis für besondere Rechtsstaatlichkeit? Wie viel rechtsstaatliches Bewusstsein bewies die Bonner Republik bei der strikten Überwachung, geheimdienstlichen und polizeilichen Verfolgung und gesellschaftlichen Ächtung von abertausenden DKP-Mitgliedern und dem Drangsalieren ihrer Angehörigen – unter Missachtung des Grundrechts auf Schutz der Wohnung, des Briefgeheimnisses, der Unverletzlichkeit der Würde des Menschen und so weiter? Politische Gesinnungskontrollen sind hierzulande auch heute noch nicht abgeschafft, sie führen in aller Stille ihr Unwesen weiter ...
Mit unserer Geschichte können wir nicht zürnen, wir müssten aus ihr lernen. Die „double standards“, das heute übliche verlogene Messen mit zweierlei Maß, die sollten uns empören.
Die Mauertoten und die Todesopfer an den Sperranlagen? Grauenhaft. In einem Vierteljahrhundert starben dort an die 200 Menschen. Staatlich veranlasstes Unrecht, fraglos. Aber: Sind die seit 1990 an den Außengrenzen des deutsch geführten Westeuropa gewaltsam gestorbenen 30.000 Mitmenschen keine Opfer staatlichen Unrechts? Auch nicht die tausenden Toten des völkerrechtswidrigen NATO-Krieges gegen Jugoslawien, in dem die BRD eine Vorreiterrolle spielte? Welches Maß zählt hier? Wessen Maß?
Mit welchen Mitteln hätte wohl die Bundesrepublik reagiert, wenn die DDR in der Lage gewesen wäre, Millionenbeträge aus dunklen Kanälen hervorzuholen? Wenn sie mit hohen Kopfprämien tausende Ärzte und Ingenieure aus dem Westen in den Osten gelockt hätte? Die Gefahr eines Zusammenbruchs der Gesundheitsfürsorge heraufbeschworen und die westdeutsche Wirtschaft vor den Kollaps gesteuert hätte?
Denkt niemand beim Urteilen über den Mauerbau mehr darüber nach, dass zuvor die DDR auch materiell ausgesaugt wurde? Westlicher, offiziell geduldeter Schwarzmarktkurs: Für 1 DM gab es bis zu 6 Mark der DDR! Butter aus dem Osten ließ sich zum dreifachen des Ost-Einkaufspreises im Westen wieder verkaufen, Fleisch- und Wurstwaren zum fünffachen, Schallplatten mit klassischer Musik sogar zum neunfachen. Der auszehrende Warenschmuggel von Ost nach West erlebte in jener Zeit eine nie gekannte und später nie mehr erreichte Hochblüte.
Mag heute niemand mehr berücksichtigen, dass dieser fürchterliche Mauerbau in Berlin und die menschenverachtenden Sperranlagen durchs ganze Land auf Druck aus Moskau entstanden und letztlich einen Krieg der USA gegen die Sowjetunion auf deutschem Boden verhindern halfen?
Ich habe in der DDR viele Menschen gekannt, aber nicht einen, der Sorgen gehabt hätte, seinen Arbeitsplatz zu verlieren und keine Zukunft mehr zu haben. Nicht einen, der sich darüber Gedanken hätte machen müssen, wie er seine „Arztnebenkosten“, die sogenannten IGeL-Leistungen, bezahlen, die Kindergartenrechnung begleichen, die Wohnungsmiete aufbringen soll.
Ich kannte Bäuerinnen mit einer Fünf-Tage-Woche und einem Acht-Stunden-Tag, Gymnasiasten, die auf dem Land wohnten und zur Schule gingen, Mütter, die nach der Geburt und dem Babyjahr das Recht zur Rückkehr auf ihren alten Arbeitsplatz hatten, nicht nur auf einen „vergleichbaren“. Ich kannte Frauen, die nicht einen Gedanken an Gleichstellungsfragen zu verschwenden brauchten, weil sie eine Souveränität besaßen, um die sie heute beneidet würden — wenn bundesdeutsche Frauen das politische Bewusstsein dafür beziehungsweise davon Kenntnis hätten.
Ich sah ein Bildungssystem, das dem des Westens weit überlegen war und deshalb von Finnland kopiert wurde; finnische Kinder führen bis heute bei allen Pisa-Studien. Ich wusste, dass der Durchschnitts-DDR-Bürger pro Jahr 11 gute Bücher las, während sich im Westen gerade mal der Trend zum Zweitbuch entwickelte.
Ich erlebte das SERO-System, eine Recycling-Wirtschaft, die aus der Not eine ökologische Tugend zu machen verstand, von der wir heute Meilen entfernt sind mit unserem betrügerischen Grünen Punkt und Gelben Sack.
Und das Wichtigste von allem: Ich erlebte friedenswillige Menschen. Ihr Staat schickte seine Armee nicht zu Mord und Totschlag in fremde Länder und ließ keine fremden Städte bombardieren, wie es die Bundeswehr unter Bruch des Völkerrechts und des Grundgesetzes längst gewohnheitsmäßig macht.
Wenn ich zu meinen jährlichen längeren Aufenthalten in die DDR fuhr, traf ich Freunde und Bekannte wieder, die sich selbst nach einem Jahr beim Wiedersehen an Details meines westlichen Alltags, meiner Angehörigen, Freunde und Kollegen erinnern konnten, von denen ich ihnen erzählt hatte. Ich erlebte in der DDR eine Zugewandtheit, mitmenschliches Interesse und Solidarität, von denen wir im bundesdeutschen kalten, entsolidarisierten Alltag Lichtjahre entfernt sind.
Nach der Selbstauflösung der DDR ging das Volksvermögen von mehr als 620 Milliarden DM an die von Detlev Karsten Rohwedder geführte Treuhand über. Rohwedder entwickelte den Plan, dieses Vermögen an die DDR-Bürger auszuzahlen, in Anteilen von je 30.000 DM pro Kopf. Der Plan war kaum geboren, da kam Rohwedder bei einem bis heute nicht restlos aufgeklärten Attentat ums Leben. Seine Nachfolgerin Birgit Breuel verwarf Rohwedders Konzept, ließ die Vermögenswerte der DDR von westdeutschen Firmen plündern und erzielte letztlich Treuhandschulden von mehr als 180 Milliarden DM, die heute in schwarzen „Nebenhaushalten“ versteckt sind.
Die DDR sei „marode“ gewesen, sagen die begnadet Bornierten heute dazu und übersehen dabei geflissentlich, dass die Bundesrepublik mit 2.1 Billionen Euro verschuldet ist, während das reine Geldvermögen in privater Hand auf 6 Billionen Euro wuchs.
Ich besaß ein kleines Vorderkajütboot aus Holz. Es wurde auf einer DDR-Werft in der Nähe von Schwerin gebaut. Kürzlich habe ich es jungen Leuten geschenkt, die damit glücklich sind. Noch heute ist es schön, stabil, zuverlässig, ein „Hingucker“. Trotz unsäglicher Auseinandersetzungen mit der Wasserschutzpolizei und den Wasser- und Schifffahrtsbehörden und einem bis hinauf in die zuständigen Ministerien für Verkehr und für Justiz getriebenen Schriftwechsel fuhr ich das Boot grundsätzlich unter der Flagge der DDR. Unter dem Symbol eines deutschen Staates, der im Unterschied zu allen vor und nach ihm keine Kriege führte. Und der, bei allem behördlichen Missbrauch, größeren sozialen Frieden nach innen kannte, als es die Bundesrepublik zustande bringt.
Diese BRD darf sich ihrer zwei Millionen Kinder in Armut schämen, denen oft das Geld für eine warme Mahlzeit fehlt. Ihrer sieben Millionen Empfänger von „Stütze“. Und darf stolz sein auf ihre 120 Multimilliardäre und 1,4 Millionen Multimillionäre.
Ich bin ein „Wessi“, aber wenn das Wort „Unrechtsstaat“ fällt, denke ich nicht „DDR“, sondern schaue vor unser aller gemeinsame Tür.