„Dumme Gans“, sagte die Hexe, „die Öffnung ist groß genug,
siehst du wohl, ich komme selbst hinein“, krabbelte heran
und steckte den Kopf in den Backofen. Da gab ihr Gretel einen
Stoß, dass sie weit hinein fuhr, machte die eiserne Tür zu und
schob den Riegel vor… Gretel lief fort und die gottlose Hexe
musste elendlich verbrennen.“ — Jacob und Wilhelm Grimm, Hänsel und Gretel, 1819
Sozialstaat: Erst Knusper-Häuschen, jetzt Virus-Ghetto
Noch so fundamentale Beschreibungen und Analysen halfen bislang nicht zu der Erkenntnis und Einsicht, dass der deutsche „Sozialstaat“ nicht eine Moderation oder gar Korrektur des Profitprinzips des Globalkapitalismus ist, sondern dessen deutsche politische Form selbst. So wird auch über alle Parteien und Milieus hinweg dieser Sozialstaat regelrecht angebetet oder mindestens als nutzbringend betrachtet.
Erst der Corona-Putsch gegen die Bürgerrechte wie Freizügigkeit, Versammlungs-, Meinungs- und Informationsfreiheit, Berufs- und Gewerbefreiheit, Lehr- und Forschungsfreiheit et cetera hat gezeigt, wie unter dem Vorwand des Seuchenschutzes, also sozialstaatlicher Daseinsvorsorge, die bestehenden Beschränkungen für Polizei-, Militär- und Sicherheitsaktionen sowie Wirtschaftsdirigismus unterlaufen werden (1).
Beinahe über Nacht zeigt der Sozialstaat jetzt wieder seine hässliche Fratze als Polizeistaat, der er seit seiner Konzipierung im wilhelminischen Kaiserreich stets war: eine „giftige Frucht des Kapitalismus“.
Die gravierenden Einschränkungen der Mobilität für Millionen von Hartz-IV-Empfängern (2) wurden bisher von der deutschen Mehrheitsgesellschaft mit ihrer Abwertung von Langzeitarbeitslosen beziehungsweise Hilfenempfängern als „Überflüssigen“ nicht nur akzeptiert, sondern eher noch forciert.
Jetzt aber breiten sich sehr zügig die Erkenntnis und die Einsicht auch in den „Leistungsmilieus“ der deutschen Gesellschaft aus, dass der Corona-„Schock“, in Bezug auf Naomi Klein, durch Untersagung, Einschränkung oder Unterbrechung der globalen, nationalen und regionalen „Wertschöpfungsketten“ zu einer enormen Vernichtung an Produktivpotential führt. Dessen Wiederherstellung aber wird anderen, vor allem internationalen Kapitalaggregaten und deren Wertschöpfungsnetzwerken wie Amazon, nicht aber den bisher in Deutschland vorherrschenden Wirtschaftsakteuren zu erneuter und noch höherer Profitgenerierung verhelfen (3).
Dies nährt gerade in den „Leistungsmilieus“ den nicht unbegründeten Verdacht, dass zumindest die Darstellung und die Bearbeitung der angeblichen Pandemie durch Politik und Medien interessengesteuert erfolgen. Es ist nicht neu, dass sich das Profitprinzip, wenn es an seine Grenzen stößt, mit Kolonialismus, Imperialismus, Weltkriegen, „Terrorbekämpfung“ und jetzt eben mit Gesellschaftszerstörung durch „Seuchenbekämpfung“ neue Anwendungsfelder erschließt.
Es liegt nahe, den gegenwärtigen Corona-Putsch als eine zumindest nachträgliche „Konzertierte Aktion“ (4) besonders aggressiver „Schöpferischer Zerstörung“, in Anlehnung an Joseph Schumpeter, von Wirtschaftsstrukturen und Lebensverhältnissen zu verstehen, die den internationalen Finanz- und Kapitalgruppen, aber auch den Hegemonialstaaten hinderlich sind.
Deutschlandbezogenes Denken steht in dieser Situation vor einer mehrfach schwierigen Aufgabe: Es war ja der westdeutsche Sozialstaat, der unter der von Anbeginn irreführenden Parole „Soziale Marktwirtschaft“ nicht nur die produktiven Schichten dazu brachte, mit ihren Sozialbeiträgen und den daraus fondierten Sozialversicherungen sich weiterhin selbst zu verbilligen. Dieser Sozialstaat war es auch, der mit der „Dynamischen Rente“ Konrad Adenauers die Duldung und Zustimmung der produktiven Schichten zum Aufbau einer US-Helotentruppe „Bundeswehr“ erreichte.
Selbst unsozialste „Reformen“ wie die Durchsetzung einer Teilkasko-Pflegeversicherung durch Norbert Blüm oder die Schaffung einer riesigen Niedriglöhner-Reservearmee durch Hartz IV ließen vermeintlich immer noch so viel alltagsvorteilhafte, wenn auch letztlich selbstfinanzierte „Sozialleistungen“ übrig, dass auch nach der sogenannten Wiedervereinigung dieser Sozialstaat vor allem den ostdeutschen Hänseln und Greteln als erstrebenswertes „Knusper-Häuschen“ erschien.
„…als sie ganz nahe herankamen, so sahen sie, dass das Häuslein aus Brot gebaut war und mit Kuchen gedeckt, aber die Fenster waren von hellem Zucker. „Da wollen wir uns dranmachen“, sprach Hänsel, „und eine gesegnete Mahlzeit halten.“… Da ging auf einmal die Türe auf, und eine steinalte Frau kam heraus geschlichen. Die Alte sprach: „Kommt nur herein und bleibt bei mir, es geschieht euch kein Leid.“
Die Alte hatte sich nur freundlich angestellt, sie war aber eine böse Hexe, die den Kindern auflauerte und hatte das Brothäuslein bloß gebaut, um sie herbeizulocken. Wenn eins in ihre Gewalt kam, so machte sie es tot, kochte es und aß es, und das war ihr ein Festtag.“ — Jacob Grimm; Wilhelm Grimm, Hänsel und Gretel 1819
Im Märchen landete nur Hänsel als zukünftiger Braten im Maststall der alten Hexe. In der Wirklichkeit nach der „Wiedervereinigung“ waren es beide ostdeutschen Hänsel und Gretel, die sich hinter einer so infamen wie unsichtbaren Ghettomauer „Neue Bundesländer“ wieder fanden, von der sogenannten Treuhandanstalt ihres Produktionspotentials beraubt, häufig in verödeten Regionen auf ein Leben als Konsumkreaturen für Waren aus der westdeutschen Wirtschaft reduziert, als kostspielige, aber nutzlose DM-Transferempfänger verachtet und gedemütigt.
Zwar haben die Geschwister im Märchen die Hexe im Backofen verstaut, aber in der Wirklichkeit des Vierten Regimes Merkel dürfen die ostdeutschen Hänsel und Gretel nicht einmal mehr auf die Straße gehen. Nach realer Grenzmauer und später „Neuen Bundesländern“ sitzen sie 2020 nun im Virus-Ghetto ihrer Wohnungen — diktiert im Zuge des „Größten Rechtsskandals der Bundesrepublik Deutschland“, so Rechtsanwältin Beate Bahner, unter dem Vorwand sozialstaatlich-gesundheitlicher Daseinsvorsorge.
Wahltriumphe: Der Osten sprengt das Ghetto
Zu den schlimmsten Ghettomauern des Merkel-Staates gehört das Niederschweigen von Problemen und Konflikten seiner Insassen — insbesondere im Ostsektor des Ghettos. Das erzeugt auch seelische Verwüstungen (5).
Die Strategie der „Alternativlosigkeit“ hat mit dem gegenwärtigen Corona-Putsch einen Gipfelpunkt erreicht.
Undiskutiert werden die Lebens- und Arbeitsverhältnisse vor allem der Arbeitsabhängigen und der Einkommensbeengten dramatisch verschlechtert, wenn nicht gar zerstört (6). Gegen die hierzu vorgetragenen Halbwahrheiten, Lügen und Fälschungen hat sich allerdings rasch Widerstand zunächst aus Ärzteschaft und Gesundheitswissenschaft aufgebaut (7).
Angriff und Gegenangriff in der Politik fallen zeitlich nicht immer zusammen. So war es bezüglich der Putsch-Angriffe des Merkel-Regimes der Wahltriumpf der „Alternative für Deutschland“ (AfD) vor allem in den Ostbundesländern bei der Bundestagswahl von 2017, der angekündigt hat, dass das Merkel-Regime seiner zumindest moralischen Beseitigung entgegeneilt. Die Alternative für Deutschland war zur drittstärksten Fraktion im sogenannten Bundestag gewählt worden (8).
Bis der Bevölkerung klar wird, welche schon lange gehegten Absichten unter dem Vorwand der angeblichen Virus-Pandemie nun gegen sie durchgesetzt werden, Einführung von Arbeitspflicht, Verlängerung der Wochen- und Tagesarbeitszeit, Begünstigung von Kurzarbeit und Heimarbeit, Abbau von Kommunalleistungen et cetera (9), wird es noch dauern. Allerdings werden Wut und Hass auf den Merkel-Staat weiter steigen.
Das klägliche Verkommen weiter Teile des kulturellen Linksmilieus und vor allem der politischen Links-Partei zu einer Jubelperser-Brigade des Berliner Regimes böten den neurechten Intellektuellen und Medien, den neurechten Initiativen und der alternativen Deutschlandpartei die einmalige Chance, die vom Berliner Bundespräsidenten angedrohte „nach dieser Krise andere Gesellschaft“ zunächst zu analysieren und dann zu kontern (10). Zu hören ist allerdings nichts.
Ost-Hänsel und Ost-Gretel haben das angebliche Knusper-Häuschen satt
Souveräne Intellektuelle wie der Psychiater und Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz haben den Wahltriumpf der AfD in den Ostbundesländern zutreffend als politischen Protest der dortigen Wähler und Wählerinnen bezeichnet. Als Rückgewinnung der eigenen Identität durch „Nein“-Sagen (5). Ähnlich sieht das die Psychoanalytikerin Annette Simon. Die Stimmen für die Alternativ-Partei seien ohne Zweifel nicht nur eine Quittung der Ostdeutschen für ihre anhaltende Blamierung und Dominierung durch Westdeutschland, die Westdeutschen und deren Wirtschafts- system. Es sei auch eine nachträgliche Überwindung der Gräben zwischen den politischen und sozialen Lagern in der vormaligen Deutschen Demokratischen Republik (11).
Sofern das Merkel-Regime darauf hofft, hinter der Corona-Nebelwand seine „andere Gesellschaft“, gemeint ist wohl die von der Bundeskanzlerin schon vor einiger Zeit geforderte „Marktkonforme Demokratie“ widerstandslos exekutieren zu können, weil dann die in die „Wiedervereinigung“ hineingeratene Generation der Ostdeutschen zunehmend abgestorben sei, so könnte dies ein großer Irrtum sein.
Eine gründliche Studie über die politischen Einstellungen der ostdeutschen und der westdeutschen Generation, die nach der „Wiedervereinigung“ geboren ist, spricht eine andere Sprache.
Bei den ostdeutschen Wahlberechtigten zwischen 18 und 29 Jahren ist die Politikverdrossenheit deutlich ausgeprägter als bei den gleichaltrigen westdeutschen. Diese ausgeprägte Politikverdrossenheit geht einher mit einem deutlich niedrigeren Vertrauen der ostdeutschen Befragten in die Bundesregierung, als dies für die westdeutschen Befragten gilt.
Mit deutlich höheren Werten konstatieren die Ostdeutschen auch eine wachsende soziale Spaltung in Deutschland, die durch höhere Steuern auf Hocheinkommen und Vermögen geschlossen werden müsse. Es verwundert kaum, dass deutlich weniger ostdeutsche als westdeutsche Wahlberechtigte der Nachwendegeneration die „Demokratie“ als beste Staatsform anerkennen — sie kennen sie vorwiegend nur als Angela Merkels Demokratie der „Alternativlosigkeit“ (12). Eine Neufassung des Märchens der Gebrüder Grimm ginge folglich so:
Anonym. Ost-Hänsel und Ost-Gretel haben die Hexe in eine Wahlkabine gesperrt. 2017
Sozialstaatskolonisierung durch „Sozialunion“
Nach der Herstellung der Freizügigkeit zwischen beiden deutschen Staaten im Herbst 1987 wurde eine Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen West- und Ostdeutschland beschlossen.
Dabei hat die Hauptaufgabe der sogenannten Sozialunion zunächst darin bestanden, durch eine Extension des westdeutschen Sozialversicherungssystems auf das Territorium und die Bevölkerung der vormaligen Deutschen Demokratischen Republik die Beitragsrücklagen der westdeutschen Sozialversicherungen für eine Finanzierung der Folgen der Liquidierung und Privatisierung des ostdeutschen Produktionspotentials verfügbar zu machen.
In Ostdeutschland war durch den Schock der „Wiedervereinigung“ ein Millionenheer von Arbeitslosen ohne Lohneinkommen entstanden, gleichzeitig waren die Nach-Löhne, das heißt, die Renten der ostdeutschen Ruheständler und Ruheständlerinnen zu bezahlen und für alle Bevölkerungsgruppen war die Gesundheitsversorgung zu finanzieren.
Gemäß der Politiklinie der christlich-liberalen Koalition in Bonn, nämlich einer Minimierung der Steuerlasten für Großvermögen, Unternehmen und Hocheinkommen, sollten die Folgekosten der Wirtschaftsdestruktion in Ostdeutschland nicht aus einer Besteuerung des durch den zusätzlichen Ostkonsum ermöglichten Wirtschaftsbooms in Westdeutschland finanziert werden.
Die Finanzierung der Kosten der „Wiedervereinigung“ erfolgte vielmehr aus den Rücklagen der westdeutschen Sozialversicherungen, das heißt den Lohnfonds der westdeutschen Erwerbstätigen. Nach dem raschen Aufbrauchen dieser Rücklagen
stiegen dementsprechend die Sozialversicherungsbeiträge, das heißt die Neben-Löhne der Beschäftigten in Westdeutschland stark an. Im Jahre 1990 betrugen die Sozialbeiträge bereits 35,6 Prozent gegenüber 26,5 Prozent im Jahre 1970.
Dies führte in Ostdeutschland zu einer regelrechten Flucht der Unternehmen aus der Tarifpolitik und aus den Tarifverträgen mit einer entsprechenden Verschlechterung der Lohnposition der Beschäftigten. In Westdeutschland flüchteten Unternehmen und Beschäftigte in den stark wachsenden Sektor von Prekärarbeit und Minijobs. Das Ergebnis war eine fortschreitende Schwächung der Beitragsbasis der Sozialversicherungen.
Deutschland war nun eine in ihrem Alltag erneut gespaltene und dadurch der Willkür des Altparteienkartells ausgesetzte Sozialstaatskolonie mit zwei sehr unterschiedlichen Arbeits-Ghettos geworden: Der Westsektor war dabei zunehmend durch Geringfügigbeschäftigung mit niedrigen Lohnkosten und entsprechend niedrigen Sozialsicherungs-, vor allem Alterssicherungsaussichten, der Ostsektor war zwar durch Vollzeitbeschäftigung, aber auf niedrigem Lohnniveau und daher auch mit entsprechend niedrigen Sozialsicherungsaussichten geprägt. Beide Varianten dienten der „Niedrig-Lohnaufrüstung“ des neuen Deutschland.
Die angebliche Corona-Pandemie bietet nun im deutschen Virus-Ghetto „Sozialstaat“ eine ganz enorme Chance zur absoluten Mehrwertsteigerung und Extraprofitgenerierung: Die geplante Rückkehr zum 12-Stunden-Tag und zur 60- Stunden-Woche.
Gewerkschaften? Welche Gewerkschaften?
Quellen und Anmerkungen:
(1) Jens Wernicke, Der Staatsstreich, https://www.rubikon.news/artikel/der-staatsstreich-
(2) Albrecht Goeschel, Klaus M. Skubich, Mobilitätsarmut: Ghettoisierung der Überflüssigen, In: Das Blättchen, 18. August 2014
(3) Hannes Hofbauer, Andrea Komlosoy, Post Corona — Organisierter Kapitalismus
In: Telepolis, 3. April 2020
Peter Mühlbauer, Pandemiegewinnler Amazon, In: Telepolis, 15. April 2020
(4) https://de.wikipedia.org/wiki/Konzertierte_Aktion_Wirtschaft
(5) Jens Bisky, Schweigen und Gebrüll sind Geschwister, In:
Süddeutsche Zeitung, 27. September 2017
Hans-Joachim Maaz, Zur Psychoanalyse von Protest und Gegenprotest
Vortrag in Dresden, 5. Februar 2015
(6) Rene Arnsburg, Nein zum 12-Stunden-Tag und zur 60-Stunden-Woche, https://www.change.org/bundesregierung-nein-zum-12-stunden-tag
(7) Laufend dokumentiert auf jens.wernicke@rubikon.news
(8) Süddeutsche Zeitung, 25. September 2017
(9) Süddeutsche Zeitung, 14. April 2020
(10) global news 3785 14. April 2020
NN. Das Monster vor der Tür: Der Corona-Kapitalismus, https://www.labournet.de/internationales/das_monster_vor_der_tuer
(11) Anette Simon, Wut schlägt Scham, https://www.blaetter.de/archiv/jahrgang/2019/Oktober/
(12) Rainer Faus, Simon Storcks, Im vereinten Deutschland geboren –
In den Einstellungen gespalten? Hg. Otto Brenner Stiftung
Frankfurt am Main 2020
Literatur:
- Albrecht Goeschel, Sozialstaat: Giftige Frucht des Kapitalismus. In: Tumult, Herbst 2016
- Albrecht Goeschel, EU-Sozialpolitik “Formierung“ einer einheitlichen Klassengesellschaft der billigen Arbeit, Bergkamen 2015
- Naomi Klein, Die Schock-Strategie, Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus, Frankfurt am Main 2007
- Ferdinand Kroh, Wendemanöver — Die geheimen Wege der Wiedervereinigung, München 2005
- Joseph Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Bern 1950
- Wodarg et al., Wider den Corona-Mainstream, https://www.altersdiskriminierung.de/themen/artikel.php?id=11157