Wieder geht ein Jahr zu Ende. Es ist weit mehr als ein Jahr. Es ist eine Epoche. Wir stehen am Ende einer Zeit, die uns alles abverlangt. Immer stärker spitzt sich die Lage zu, immer schmaler wird der Grat, auf dem wir uns noch halten können. Wie in dichte Nebelschwaden gehüllt setzen wir einen Fuß vor den anderen. Hinter uns liegt eine Welt, die wir nicht mehr wollen, vor uns eine Welt, die wir noch nicht kennen. Manchmal scheint es uns, als würden wir im Tunnel steckenbleiben und niemals das Licht an seinem Ende erblicken.
In diesem Geburtsprozess geht es um Leben und Tod. So beschreibt es der amerikanische Philosoph Charles Eisenstein (1). Gleichzeitig Mutter, Hebamme und das neue Leben, das sich den Weg bahnt, riskieren wir, an der Herausforderung zu zerbrechen. Immer unerträglicher wird die Situation, immer explosiver die Lage. Immer enger zieht sich der Schraubstock zu. Noch kürzer werden die Tage, immer länger herrscht Dunkelheit. Kaum noch bekommen wir die Sonne zu Gesicht. Mit langen Fingern greift die Kälte nach uns und treibt uns in unsere vier Wände.
Geradeaus
Es ist Advent. Als die vier Sonntage vor Weihnachten wird diese Zeit definiert. Von der Vorbereitung auf die Ankunft des Herrn spricht die Kirche. Im Gegensatz zu dem kalkulierbaren Futurum bedeutet das lateinische Wort Adventus ursprünglich das Herankommen, Zugehen auf etwas nicht Planbares, nicht Prognostizierbares. Es ist dem Adventure verwandt, dem Abenteuer, dem Unvorhersehbaren, dem, was in der Zeit der herrschenden Zahl aus der Mode gekommen ist.
Bei uns finden Abenteuer vor allem auf der anderen Seite des Bildschirmes statt. Den Thrill holen wir uns anstatt aus unserem eigenen Leben aus künstlichen Welten.
Wir wollen ganz genau wissen, was der nächste Tag bringt und verlieren bereits die Orientierung, wenn die Wettervorhersage nicht stimmt. Alles wird im Voraus geplant: die Karriere, die Familie, der nächste Urlaub, die Altersvorsorge, die letzte Ruhestätte. Für jeden Lebensbereich brauchen wir Versicherungen und Garantien.
Nach unserem Weltbild ist das Leben wie auf einer Linie angeordnet. Unser Fortschritt verläuft geradeaus und ist kalkulierbar. Überraschungen und Spontaneität haben bei uns nicht viel Platz. Unvorhergesehenes ist unerwünscht. Was wir auch anfassen: Wir bauen in rechten Winkeln und geraden Linien (2). So sind wir Experten darin geworden, Raster, Gitter und Käfige herzustellen. Sicherheit ist unser Credo, Berechnung unser Gott. Hinter tausend Stäben sehen wir keine Welt. Denn wir lassen uns nicht mehr berühren, sind nicht mehr empfänglich, nicht mehr wirklich präsent, und trotten immer weiter geradeaus in eine aussichtslose Zukunft.
Gefangen
In einem eindrucksvoll bewegenden Vortrag bringt die Kulturwissenschaftlerin Hildegard Kurt diese Unberührbarkeit mit dem Schmerz und den Schuldgefühlen in Verbindung, die wir oft ein Leben lang mit uns herumschleppen (3). Wir alle sind verletzt worden. Alle haben wir Unrecht erlebt und tragen Leid mit uns herum — unser eigenes oder das unserer Vorfahren. Die meisten von uns haben gelernt, sich zu betäuben und abzulenken — und nicht, den Rucksack abzunehmen und zu schauen, was sich darin befindet.
Doch nur, wenn wir hierzu bereit sind, werden wir frei für die Gegenwart. Erst wenn wir sehend werden und uns annehmen mit dem, was geschehen ist, können wir uns von den Fesseln lösen, die uns an die Vergangenheit binden. Sind uns die alten Verletzungen nicht bewusst, sind sie es, die das Steuer in unserem Leben übernehmen. An unsichtbarer Leine werden wir immer wieder dorthin geführt, wo wir etwas zu lösen haben. So lange tappen wir in dieselben Fallen, erleben Schmerz und Leid ähnlicher Resonanz, bis wir uns dem Verborgenen widmen.
Viele Stimmen hindern uns daran, in unsere innere Dunkelheit vorzudringen. „Es ist alles in Ordnung so.“ „Das ist normal.“ „Bitte, gehen Sie weiter. Es gibt nichts zu sehen.“ Sie profitieren davon, dass wir weiter in unserem Schmerz gefangen bleiben, und beziehen ihre Energie aus unserer Unbewusstheit. Wie viele Menschen heute fremdbestimmt und wie ferngesteuert vor sich hinvegetieren, zeigt die Akzeptanz der Maßnahmen zur Vorbereitung eines globalen Gefängnisses. So hängt von der Entscheidung, uns um unsere Innerlichkeit zu kümmern, nicht nur unser individuelles Wohlsein ab, sondern das physische Überleben der gesamten Menschheit.
Verstecktes Potenzial
Nur eine radikale seelische Veränderung des Menschen, so formulierte es auch Erich Fromm, kann uns aus diesem Gefängnis befreien. Solange sich unser Bewusstsein nicht entwickelt, schreibt Hildegard Kurt auf ihrer Webseite, wird alles Handeln nichts Neues bewirken (4). Zerdrückt unter dem Gewicht unseres Rucksacks schaffen wir immer wieder das Gleiche in neuem Gewand. Anstatt zu erfinden, waten wir mit unseren Kopien und Wiederholungen durch denselben Sumpf.
Das starre Korsett, in das wir uns haben zwängen lassen, hat uns nicht nur unbeweglich gemacht, sondern auch derart zukunftsunfähig, dass wir heute vor unserer eigenen Auslöschung stehen.
Wir wissen nichts mehr von der Freiheit des Seins und den Fähigkeiten, die ihm entspringen. Um erneuten Zugang zu ihr zu finden, müssen wir an unseren Rucksack heran. Wir müssen präsent werden für das, was uns in der Gegenwart bewegt, für unsere Gefühle und Empfindungen. Erst wenn wir auch den Schmerz an uns heranlassen, kann sich die Resonanz des Vergangenen in uns wandeln. Hier verbirgt sich unser Potenzial. Nur wenn wir diesen Königsweg wählen, kann sich das in uns befreien, was uns zu schöpferischen Wesen macht: unsere Imagination, Inspiration und Intuition.
Nehmen wir es in die Hand! Lassen wir die Gitterstäbe hinter uns, die Automatismen und geraden Linien, und werden wir wieder lebendig. Stehen wir der Gegenwart Rede und Antwort. Leben wir Ver-Antwort-ung.
Aus einer neuen resonanzfähigen Geisteshaltung heraus, so Hildegard Kurt, bekommt der Begriff Nachhaltigkeit eine neue Bedeutung. Es geht hier um weit mehr als ein Handlungsprinzip zur Ressourcen-Nutzung, die Gewährleistung einer dauerhaften Bedürfnisbefriedigung durch Bewahrung der natürlichen Regenerationsfähigkeit der beteiligten Systeme (5). Es geht um die Schaffung eines neuen Grundmusters, das nicht von geraden Linien bestimmt wird, sondern von Kreisen mit offener Mitte.
Emergenz
Wie Sonnen zeichnet sie Hildegard Kurt auf ihre Präsentationstafel: große Sonnen, kleine Sonnen, viele Sonnen, die nebeneinander existieren und sich überschneiden. Sie werden durch nichts begrenzt und durch niemanden geleitet. Was sich in einem neuen Möglichkeitsraum gestaltet, funktioniert ohne Chef, ohne Guru, ohne einheitliche Weltanschauung, ohne fertiges Konzept, ohne Manifest, ohne Programm. Nur aus der offenen Mitte heraus entwickelt sich das, was als Emergenz-Phänomen bezeichnet wird: das Auftauchen neuen Wissens und neuer Erkenntnisquellen und das Entstehen höherer Seinsstufen durch neu auftauchende Qualitäten.
Hier kommt sie zum Wirken, die Ko-Kreativität, die dialogische Intelligenz, die soziale Plastik, die der Gesellschaft eine neue Gestalt gibt. Aus einem kreativen, generativen Wir entsteht ein zukunftsfähiges Gewebe, das nicht nach Autorität und Kontrolle sucht, sondern nach einem freien, friedlichen und freudvollen Ausdruck.
Somit wird klar, dass Zukunftsfähigkeit in Wirklichkeit Gegenwartsfähigkeit ist. Alles entscheidet sich im Jetzt, im Augenblick des Erlebens.
Die Linien der Zeit verschwinden. Mit dem Wörtchen einst verfließen Vergangenheit und Zukunft ineinander, denn es bezieht sich gleichzeitig auf etwas, was vor langer Zeit stattgefunden hat und auf eine ferne Zukunft. Indem wir uns an unsere Ahnen erinnern, treten wir aus dem verengenden und beschränkenden Erfassen von Zeit heraus und erahnen eine höhere Dimension des Lebens. Wir spüren, dass noch etwas anderes möglich ist als das, was wir schon kennen.
Chaos aushalten
Um diesen Königsweg gehen zu können, müssen wir zum König über unser inneres Reich werden. Wir erkennen, dass es keinen Sinn macht zu fliehen oder zu kämpfen, und akzeptieren den Prozess der individuellen und kollektiven Bewusstseinsprüfung. Hierzu benötigen wir das, was der britische Dichter John Keats, ein Zeitgenosse Johann Wolfgang von Goethes, negative capacity nannte: die Fähigkeit, Nichtwissen und Unsicherheit auszuhalten und Chaos zuzulassen. Das Neue kann nur entstehen, wenn wir nicht sicher sind. Es ist nicht vorhersehbar, kalkulierbar, kontrollierbar.
Nur gentechnisch veränderte Organismen sind das. Man kann sie patentieren und so programmieren, dass sie ihrem Hersteller möglichst viel Profit einbringen. Mit ihnen endet die Evolution. Neues kann sich hier nicht entwickeln. Natürliche Organismen hingegen sind offen für Überraschungen. Wohl wissen wir, dass aus einem Apfelkern ein Apfelbaum und aus einem Weizenkorn Getreide heranwächst — doch wir wissen nicht, wie die Ernte sein wird und wie die Frucht schmeckt.
Das Heranwachsende geht seinen eigenen Weg. Es nützt nichts, an den jungen Sprösslingen herumzuziehen, damit aus ihnen eine bessere Pflanze wird. Wir können nur den Boden nahrhaft gestalten und versuchen, Schadhaftes fernzuhalten. Ansonsten bleibt uns, der Pflanze beim Wachsen zuzusehen und von ihr zu lernen. Damit sie ihr volles Potenzial entfalten kann, muss der Samen vergehen. Er muss bereit sein, sich aufbrechen zu lassen und zu sterben. Seine Erinnerung ist in der Pflanze enthalten, so wie das Potenzial der Pflanze in ihm enthalten war.
Mit leichtem Gepäck reisen
Diese Art von Hingabe ist jetzt gefragt. Es ist keine Resignation, keine Opferhaltung, kein Kopf-in-den-Sand-Stecken, sondern die klare Entscheidung dafür, das Lebendige nicht weiter zu behindern. Verlassen wir die aufsteigende Gerade, die uns nur an einen immer tieferen Abgrund führt, und geben wir uns dem Zyklischen hin. Schaffen wir Klarheit in uns und strahlen wir sie aus. Werden wir zu Sonnen. Niemand wird uns in dieser Situation retten. Leben werden wir nur dann, wenn wir uns auf das Licht in uns besinnen und uns mit Gleichgesinnten zusammenschließen.
Bringen wir den Energien, die uns nach unten ziehen, dem Verlogenen, Heuchlerischen, Feigen, Selbstgerechten ein deutliches Nein! entgegen. Wer jetzt nicht sehen will, der hat seine Entscheidung getroffen. Respektieren wir sie. Lassen wir uns nicht von denen behindern, die einen anderen Weg vor sich haben. Sie allein sind für ihr Spiegelbild verantwortlich, für ihr Gewissen und das, was sie in ihren Rucksack geladen haben. Lösen wir uns von ihnen und reisen mit leichtem Gepäck, ohne Groll, ohne Urteil, ohne Bitterkeit.
Tragen wir niemandem etwas nach, egal was er getan hat. Überlassen wir jedem seine eigene Last. Schleppen wir sie nicht denen hinterher, die schon genug Unheil angerichtet haben.
Beschweren wir uns nicht, sondern machen wir uns leicht. In der Gewissheit, dass jeder das bekommt, was er gegeben hat, können wir uns leichten Herzens und frischen Mutes an die Arbeit machen.
Initiativen hierzu gibt es viele. Wir müssen nur die Augen öffnen.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.rubikon.news/artikel/schwere-geburt
(2) https://www.rubikon.news/artikel/mut-zur-rundung
(3) https://www.youtube.com/watch?v=AwgwM2rA3AU
(4) http://hildegard-kurt.de/de/kulturwissenschaft.html
(5) https://de.wikipedia.org/wiki/Nachhaltigkeit