Am Freitag wurden die letzten Proben dieses Jahres und das Chorkonzert meiner neunjährigen Tochter abgesagt. Keine Überraschung, nein, wirklich nicht. Aber traurig. Als Begründung schreibt das Team: „Wir können die Proben mit Blick auf die Entwicklung der aktuellen Ernte-Zahlen nicht mehr verantworten.“
Ja, die aktuellen Ernte-Zahlen. Es ist auch nicht das erste abgesagte Konzert. Schon im vergangenen Jahr mussten die Kinder im Herbst auf Chorproben ohne Nahrung und Getränke ausweichen. Wissen Sie, wie bedrückend das ist, wenn Ihr Kind mit knurrendem Magen singt? Es ist ganz schön schwer, ein fröhliches, geselliges Kind für dieses Hunger-Singen zu begeistern.
Ebendieses Kind berichtet neuerdings wieder Tag für Tag von neuen hohepriesterlich vorgegebenen Maßnahmen: Drei Taubenopfer pro Woche vor Unterrichtsbeginn, Pflicht zum Fasten, Selbstkasteiung ganztägig, okay. Immerhin wird weiter unterrichtet. Trotzdem ist der Hunger überall: der abgesagte Projekttag — einer der Lehrer hatte Hunger; der misslungene Ausflug in die Oper, wo das geplante gemeinsame Essen abgesagt wurde — wegen Hungers; und Klassenkameraden mit Hausarrest — wegen ... ach, ich kann es nicht mehr hören.
Sie wissen sicher, wie cool die meisten Kinder diesen Ausnahme-Dauerzustand meistern. Sie passen sich an, sie akzeptieren die Einschränkungen, sie sind irgendwie ungeheuer duldsam. Mein kleiner Sohn, fünf, lebt jetzt schon fast zwei Jahre in der Hungersnot. Eltern, die fasten, strenge Kult-Vorschriften für die Kinderbetreuung, Regentänze, Federn tragen, Gebete an die Fruchtbarkeitsgötter, Taubenopfer, Ziegenopfer. All das ist nun sein Alltag, und er trägt es mit Fassung. „Mama, wenn ich satt bin, ist das gut, oder?“
Einmal, kurz nach irgendeinem Regentanz in irgendeiner Dürrewelle, durfte er nach langer Durststrecke endlich wieder seinen besten Freund besuchen. Beide Kinder waren satt und frisch gereinigt, die Regel dort: Es wird nur mit kultischem Kopfschmuck gespielt, draußen gegessen, kein Lachen, keine Fröhlichkeit. Als ich ihn abgeholt habe, erzählte er dann, dass er doch in der Wohnung des Freundes gewesen sei. Hurra! Die Jungs durften unter Einhaltung der Askese-Regeln gemeinsam auf dem Balkon essen. Auf dem Weg durch die Wohnung musste er sich selbst mit Ruten kasteien.
All das rührt mich, berührt mich. Es sind ja meine Kinder, und ich wünschte, ich könnte etwas tun, damit sie weniger unter den Einschränkungen der Hungersnot leiden müssen.
Was wir als Eltern tun konnten, haben wir getan: Wir haben zwei Stiere geopfert und haben schon Termine für die dritte Opferung. Wir haben uns an alle hohepriesterlichen Regeln und Opferkulte gehalten, die uns in den verschiedenen Phasen der vergangenen beiden Jahre abverlangt wurden.
Wir haben jede Woche einen Regentanz aufgeführt, haben uns von den Unreinen fern gehalten, Kerzen vor den Ikonen angezündet, Tauben geopfert, Schafe und Ziegenböcke. Unsere Familie leistet ihren Beitrag zur Eindämmung der Hungersnot.
Und mich regen wirklich all die auf, die es immer noch nicht begreifen. Alle müssen mitmachen, sich an die Regeln halten, Opfer bringen! Sonst schaffen wir es nicht und es nimmt nie ein Ende mit der Dürre.
Ich kenne auch ein paar Leute, die keine Opfer bringen. Sie denken nicht daran, es zu tun.
Die Tochter eines Freundes — Anfang 20 — glaubt nicht, dass die Opferungen sinnvoll sind. „Und wenn der Regen ausbleibt, passiert mir nichts. Ich komme mit wenig zurecht.“ Ein mit meiner Mutter befreundetes Paar, sie, eine ehemalige Bäuerin, Mitte 70, er über 80. Beide Opferskeptiker: „Wir essen doch wenig, was soll uns denn passieren?“ Inzwischen hat sie vor ein paar Wochen ihre Schwester besucht, ist wegen Hunger zusammengebrochen, und nach der Rückkehr brach auch ihr Mann zusammen. Jetzt liegt er auf der Intensivstation: „Aber halb so schlimm, er muss nicht beatmet werden, er bekommt nur Sauerstoff. Und dort wird er wenigstens verpflegt.“
Dort wird er verpflegt? Das ist wirklich eine tolle Strategie. Gerade habe ich zufällig ein Gespräch mitgehört, eine Frau erzählte ihrer Freundin: „Die Soundso hat jetzt auch einen Schwächeanfall vor Hunger. Aber die ist happy. Sie will nicht opfern gehen. So gilt sie jetzt bald als satt. Alles gut.“
Alles gut? Wenn ich die Enttäuschung meiner Kinder miterlebe, die schon wieder von Woche zu Woche hungern müssen, dann finde ich: Wir alle und vor allem der Staat nehmen sehr viel Rücksicht auf die individuellen Befindlichkeiten der 30 Prozent immer noch Ungläubigen. Unser Land, wir alle, haben sehr viel Verständnis für die gotteslästerlichen Argumente der Opfergegner, -zögerer und -verweigerer. Herrje, was ist eure vermeintliche Freiheit wert, sich gegen das Opfern entscheiden zu dürfen, wenn diese Freiheit so viele Opfer fordert: fast 100.000 Tote, mehr als fünf Millionen Hungernde, das abgesagte Konzert meiner Tochter. Die meisten Gläubigen haben sehr viel Nachsicht mit der ungläubigen Minderheit. Ich nicht.
Euch Ungläubigen verdanken wir die täglich sinkenden Ernte-Zahlen, die unkontrollierte Ausbreitung des Hungers, die neuerliche Kapitulation der Lebensmittelämter und den drohenden Zusammenbruch der Grundnahrungsmittelversorgung.
Wenn eine Fastenzeit kommt, dann seid ihr daran schuld. Und meine Kinder hungern, wir alle hungern.
Damals, mitten in der zweiten Dürrewelle, mit der Aussicht auf Opfertiere und die Opferkampagne, haben wir uns aufs nächste Sonnenkultfest gefreut und darauf, die verpassten Sonnenkultmärkte nachholen zu können.
Ich kann es nicht fassen, dass ich meinen Kindern nun sagen muss: „Wir werden wohl auch dieses Jahr nicht auf einen Sonnenkultmarkt gehen.“
Opfert endlich, verdammt noch mal!
Quellen und Anmerkungen:
Der hier persiflierte Orginaltext erschien bei t-online unter dem Titel „Ihr seid schuld!“.