Rubikon: Vanessa, vor drei Jahren lagst du schwer verletzt im Koma. Heute liegt deine Geschichte in der Buchhandlung. Du stehst als Vorbild in der Öffentlichkeit, bist verlobt, Mutter eines Kindes und hilfst mit deinem Verein ausGezeichnet Menschen in aller Welt. Hättest du dir damals, als du vor drei Jahren aus dem Koma erwacht bist, vorstellen können, dass du jetzt da stehst, wo du stehst?
Vanessa Münstermann: Nein. Wenn du in so einer Situation aufwachst, oder du dich in so einer Situation befindest, denkst du zuerst: „Das Leben ist vorbei!“ Ich dachte, mich wird niemand mehr lieben. Ich musste mich damals entscheiden – möchte ich jetzt weiterleben oder nicht? Das stand im Vordergrund. Ich hätte damals nicht gedacht, dass ich einen Verein gründe. Ich dachte, dass ich einmal in die Medien gehe, um „Danke“ zu sagen, und das war es dann. Ich hab ja damals ganz große Unterstützung durch diese We Love Vanessa-Kampagne bekommen – dass ich also dafür „Danke“ sage und mich den Leuten zeige. Die haben ja alle gefragt, was mir passiert ist; wie ich jetzt aussehe? Ich dachte, nach einem Artikel ist die Sache gegessen.
Du hast gedacht, das lebt einmal auf und gerät dann in die mediale Vergessenheit?
Richtig. Ich habe niemals erwartet, dass Leute bis heute Interesse an meiner Person haben. In meinem Leben hätte ich das nie gedacht.
Du sprichst gerade davon, dass solche Themen schnell wieder verschwinden können. Doch mittlerweile rückt das Thema „Säureangriff“ scheinbar mehr und mehr in den medialen Fokus. In den letzten Jahren las man auch in der westlichen Welt leider immer häufiger davon. Da war beispielsweise der Säureanschlag auf den Innogy-Manager Bernhard Günther im letzten Jahr.
Netter Mann! Mit ihm telefoniere ich häufiger.
Du hast Kontakt zu ihm? Das wusste ich gar nicht.
Ja. Ein wirklich ganz netter Mann! Auf jeden Fall mein Beileid für all das, was er durchmachen musste! Egal ob jemand so aussieht wie ich, ob er stärker oder schwächer betroffen ist. Er macht in der Situation, in der er sich gerade befindet, alles richtig! Hochachtung auch vor seiner tollen Familie. Aktuell steht er nicht im medialen Fokus.
Das ist ja eigentlich merkwürdig, da er doch Manager eines großen Unternehmens ist.
Das hat nichts zu sagen. Das ist ja seine private Angelegenheit; es ist ihm privat passiert. Das belastet seine Familie so wie meine. Er hat eine sehr ähnliche Sichtweise wie ich. Wäre mein Fall so ausgegangen wie seiner, würde ich genauso entscheiden wie er und mich erst einmal zurückziehen.
So ein Säure-Angriff ist für die meisten Menschen ja doch etwas sehr Abstraktes. Einen Faustschlag, einen Messerstich oder einen Einschuss kann man sich – auch dank Film und Fernsehen – irgendwie noch vorstellen. Aber wie läuft ein Säure-Angriff ab? Wie muss man sich das vorstellen?
Wie einen Messerangriff. Es passiert und du musst in der Situation das Beste daraus machen: überleben! Ich glaube, davor kannte ich nur Zitronensäure, die ich mir in den schwarzen Tee gekippt habe. Ich wäre damals, bei dem Anschlag, gar nicht auf die Idee gekommen, dass das Säure sein könnte – das war ja nur nass. Die Notärzte fragten mich später, ob es sich um Lauge oder um Säure handelt. Ich hatte davor noch nie etwas von „Lauge“ gehört. In meiner Dummheit wollte ich sogar noch arbeiten gehen!
Die Dame, die mich da gefunden und die mir geholfen hat, meinte zu mir: „Du gehst jetzt nicht in die Arbeit!“ Sie merkte, dass die Säure auf meiner Haut reagiert hat. Aber ich selber war ja vollkommen klar. Ich wollte tatsächlich zu der Tankstelle gehen, bei der ich gearbeitet habe. Du realisierst das nicht. Bei einem Messerangriff steckt ein Messer in dir. Aber die Säure siehst du ja nicht. Die war so stark, dass ich sie nicht gespürt habe. Ich hatte auch keine Schmerzen.
Das hat mich beim Lesen total verwundert! Im Buch steht auch nichts von qualvollen Schmerzen nach dem Angriff. Du hast nur gemerkt, dass du eine Flüssigkeit im Gesicht hast?
Genau. Wie so eine Art Wärmedecke. Zunächst dachte ich, ich spüre aufgrund meines Adrenalins keine Schmerzen. Dann habe ich mich allerdings mit meiner Ärztin getroffen. Sie mir dann detailliert erklärt, wie die Säure gewirkt hat. Das ist, wie wenn du ein Ei in eine heiße Pfanne kippst – in etwa das Gleiche. Die Eiweiß-Strukturen kippen und zerschmelzen und dadurch sind auch die Nervenzellen tot. Deswegen habe ich auch keine Schmerzen gespürt.
Die Säure hat also zuerst die Nervenzellen angegriffen und deswegen wurden auch keine Schmerzsignale an dein Hirn gesendet.
Genau. Die Zellen waren ab dem Moment, in dem mich die Säure getroffen hat, schon tot. Man konnte von der Haut auch nichts retten. Deswegen ist das ja so bösartig: Bei einem Messer sagt man, dass man es nicht rausziehen soll, damit man nicht verblutet. Bei einer Schussverletzung soll man eine punktuelle Druckbandage machen. Von so etwas hat man schon mal gehört. Aber was machst du bei Säure?
Das wissen die meisten nicht.
Natürlich nicht! Die Dame von damals – sie tut mir so leid! – hat bis heute noch Albträume. Sie hat mir erzählt, dass sie ein halbes Jahr gegoogelt hat, was man in so einem Fall hätte machen können. Aber sie konnte da nichts machen. Rette doch mal das Ei in der Pfanne! Versuch doch mal, das wieder in die alte Form zu bringen! Das funktioniert einfach nicht! Und das ist dasselbe wie das, was mit mir passiert ist.
Es gab ja auch mal eine Säure-Anschlag-Serie in Berlin...
...mit der Wasserpistole, richtig?
Genau.
Das ist Wahnsinn! Die sind ja bis heute nicht geschnappt worden. Diese Dame hat Angst davor, auf die Straße zu gehen! Und da muss ich sagen, dass sie noch schlimmer betroffen ist als ich – die Täter sind schließlich Unbekannte. Ich hätte dann auch Angst, auf die Straße zu gehen. Das könnte ja irgendjemand sein. Ich habe den „Vorteil“; ich kann mit dem Finger auf jemanden zeigen und sagen: „Du warst das!“ Ich habe nur vor einer Person Angst. Sie kann jetzt vor der ganzen Menschheit Angst haben.
Ich habe vermutlich den gesamten Pressespiegel zu Säure-Angriffen in Deutschland durchforstet. Ich konnte leider nichts darüber finden, wie es mit der Frau aus Berlin ausgegangen ist. Ist sie genauso schwer verletzt wie du?
Wie sehr sie betroffen ist, weiß ich nicht. Ich weiß nicht, was das für eine Säure war. Ich weiß nur, dass sie psychologisch natürlich am Arsch ist – aus den Gründen, die ich soeben genannt habe. Ich glaube, dass das medial nicht so breitgetreten worden ist – so zumindest meine persönliche Empfindung –, weil es nicht aufgeklärt werden kann. Gegen wen willst du ermitteln? Und dazu kommt, dass er ja nochmal zugeschlagen hat. Wieder mit einer Wasserpistole. Wenn das dieselbe Säure wie bei mir gewesen wäre, dann hätte diese Wasserpistole gar nicht gehalten. Aber das ist egal. Selbst, wenn wir hier nur von einem WC-Reiniger reden. Niemand hat irgendjemandem irgendetwas ins Gesicht zu schütten!
Das war ein Fall, den habe ich kurzzeitig begleitet. Da ist der Kontakt leider abgebrochen. Hätte ich sehr gerne unterstützt. Weder zwinge ich jemanden, noch möchte ich mich aufdrängen. Wenn sie das heute hört oder unser Interview jetzt liest, kann sie sich gerne an mich wenden. Und dann werde ich sie definitiv mit Cremes und Spezialsalben versorgen. Wenn nicht, dann verstehe ich es auch. Vor der ganzen Menschheit Angst zu haben, ist ein hartes Schicksal. Härter als meins.
Du hast in deinem Buch sehr ausführlich deinen Heilungsprozess beschrieben. Es hat sehr lange gedauert, bis du das erste Mal in den Spiegel blicken konntest. Kannst du diesen Moment beschreiben?
Die meisten erhoffen sich bei diesem Moment wohl große Emotionen. Aber das funktioniert nicht, denn du wirst mit Opiaten abgeschossen. Auch zu deinem eigenen Schutz. In diesen Opiaten ist ein Stimmungsaufheller enthalten. Das heißt, du schaffst es gar nicht – vielleicht war es auch nur bei mir so – in so ein tiefes Loch zu fallen. Die Gedanken sind in diesem Zustand etwas schwammig. Ich habe mich nur gesehen und dachte: „Oh...Scheiße!“
Im Endeffekt – ich kann es jetzt nicht ändern. Wenn du eine OP am Knie hast, die läuft schief und die sagen dir, dein Bein sei ab. Du wirst an dieser Situation nichts ändern können! Du musst jetzt nur entscheiden: Machst du weiter oder nicht? Dein Bein wächst nicht nach. Und das war auch das, was ich gedacht habe.
Du hast deine Energie gar nicht erst dafür aufgewendet, das groß zu bedauern, sondern eher dafür, dich zu fragen, wie du jetzt mit dieser Situation umgehst?
Es lohnt sich ja nicht. Gar nicht mal speziell auf meinen Fall bezogen. Auch Leute, die nicht betroffen sind. Jeder hat seine Alltagsprobleme. Man muss sich überlegen, ob das ein Problem ist, in welches man seine Energie reinstecken möchte. Erstmal brauchst du die Energie für dich selber. Auf der Intensivstation hatte ich noch gar nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Erst in der Reha in Thüringen kam die Zeit, in der ich mit mir alleine war, mit meinen Gedanken. Davor hatte ich auch Angst. Alleine mit meinen Gedanken zu sein.
Bei deinem Heilungsprozess war ja nun nicht nur der Hautarzt von nebenan beteiligt, sondern auch richtige medizinische Berühmtheiten. Kannst du mal aufzählen, mit wem du alles zu tun hattest?
Ich hatte den besten Chirurgen, den ich mir vorstellen kann! Das ist Professor Vogt. Wenn ich den Namen nenne, traut sich auch kein anderer Arzt mehr ran. Dann Professor Merritt.
Er ist wirklich aus Dallas, USA nach Deutschland geflogen und hat mein Auge entnommen. Dann hatte ich Professor Besch. Meine Augenentnahme war in Tübingen. Da war auch mein Okularist Herr Greiner dabei – einer der besten Okularisten, meiner Meinung nach.
Ich hatte so viel Glück. Ich hatte dieses eine Unglück, aber danach kam nichts schlechtes mehr. Ich hatte im Nachhinein wirklich immer nur Glück, was meinen Fall betraf. Ich hatte immer die Besten der Besten an meiner Seite.
Wenn man das hört, stellt sich einem natürlich die Frage: Hat das alles die Krankenkasse bezahlt?
Bis jetzt ja. Natürlich! Das waren keine Schönheitsoperationen. Das war eine Augenentnahme, dann waren es Operationen, bei denen es nur darum ging, mein altes Auge zu erhalten; man hat ja versucht, darum zu kämpfen. Mein Ohr wurde rekonstruiert. Erst jetzt geht es an die Schönheitsoperationen ran – zum Beispiel an die Wiederherstellung der Augenbraue. Oder des Augenlids. Das muss noch einmal neu gemacht werden. Da sind wir uns aber zum Beispiel nicht sicher: Was sagt die Krankenkasse? Ist das eine Rekonstruktion oder ist das „gar nicht notwendig“? Oder mein Nasenloch. Durch das linke Nasenloch kriege ich nicht richtig Luft. Dann müssen die Narben glatter gemacht werden. Der Hals muss definitiv noch einmal aufgeschnitten werden. Ich befinde mich immer in einem Mittelgang. Ich habe nie das Gefühl: „Das ist jetzt der Endstand!“
Ich bin mittlerweile wöchentlich in der Diskussion mit der Krankenkasse. Was ist mit den Geldern? Was ist mit der Rente? Und so weiter. Ich führe eine massive Bürokratie. Wenn du meinen Schreibtisch siehst – Katastrophe!
Ohne diesen bürokratischen Kampf erhält man diese Hilfen nicht?
Nein. Man muss auch immer selbst zu Ärzten rennen. Ich habe ja eine Glasprotetik im Auge. Deshalb muss ich einmal jährlich zum Augenarzt gehen, mir von ihm ein Rezept geben lassen. Wenn die Protetik kaputt geht, muss ich erneut ein Rezept holen. Dann brauche ich vom Orthopäden eine Spezial-Überweisung dafür, dass ich noch zu Professor Vogt gehen kann – obwohl das ja Wiederherstellungs-Chirurgie ist. Das alles macht das Ganze so anstrengend! Ich kann mir nicht einfach einen Arzt aussuchen.
Jemand, der betroffen ist und diese Energie nicht hat, weil er psychisch zu belastet ist, schafft diesen bürokratischen Scheiß nicht! Der braucht jemanden an der Hand, der ihm sagt: „Das und das musst du beantragen.“ Ich habe schon mit meinem Verein damit angefangen, Hilfsmappen mit den vorgedruckten Formularen für den Opferschutz zu erstellen. In meinem Fall haben das meine Familie und mein Anwalt beantragt. Aber ganz im Ernst: Ich allein hätte das nicht geschafft! Dafür hätte ich keinen Kopf gehabt.
Verständlich! Man ist ja auch mit ganz anderen Sachen beschäftigt. Wir sprechen gerade über Geld. Wenn man dein Buch liest, hat man das Gefühl, dass es in Deutschland ein recht solides Gesundheitssystem gibt. Gerade auch bei schweren Verletzungen wie in deinem Falle, scheint einen das System gut aufzufangen und zu versorgen. Gleichzeitig liest man in den Medien immer wieder, dass Krankenhäuser zunehmend kommerzialisiert werden und immer profitorientierter handeln. Gab es auf der langen Strecke deiner Heilung durch unterschiedliche Krankenhäuser und Heilanstalten auch mal Stationen, an denen du das Gefühl hattest, dass hier der Patient der Profitorientierung untergeordnet ist?
In erster Linie bist du als Patient ein Produkt. Das ist keine Empfindung. Das ist mein Bewusstsein. Mir ist bewusst, dass ich als Patient ein Produkt bin. Die Krankenkasse und die Ärzte verdienen ihr Geld an mir. Das weiß jeder Mensch, der einmal logisch darüber nachdenkt. Aber ich wurde wie ein Familienmitglied behandelt. Ich hatte die besten Ärzte und die besten Schwestern an meiner Seite. Natürlich gab es die einen oder die anderen Ausnahmen. Aber niemand ist perfekt und jeder hat auch mal seinen schlechten Tag.
Ich betreue beispielsweise auch Menschen in Entwicklungsländern. Wenn ich über die Krankenkassen in Deutschland spreche, dann auf hohem Niveau. Natürlich bezahlen die mir keine Narbencreme. Die Creme, die ich meinen Leuten gebe, die kostet 50 bis 80 Euro!
Pro Tube?
Pro Tube! Da gibt es ein kleines Mädchen, das ich betreue. Sie befindet sich in der Entwicklungsphase und erhält Spezialöle. Da kostet so eine Tube auch mal 130 Euro. Für 40 Milliliter. Aber wenn die Mutter die Krankenkasse darum bittet, ob diese die Tube bezahlt – die zeigen ihr den Vogel, bildlich gesprochen! Die sagen ihr, sie solle sich doch bitte eine Nivea-Creme kaufen. Jeder hätte ja einen Euro übrig. Ich habe mal bei denen angerufen – anonym, da mein Name mittlerweile recht bekannt ist – und denen gesagt, ich hätte eine Narbe. Ich bat sie darum, in ihrem Register einmal nachzusehen, welche Cremes von der Krankenkasse übernommen werden. Keine! Keine einzige Narbencreme wird von der Krankenkasse übernommen. Ich wurde an einen Apotheken-Arznei-Notdienst weitergeleitet. Dort wurde mir wortwörtlich gesagt, dass jeder Hartz-IV-Empfänger doch einen Euro für eine Nivea-Creme übrig hätte. Und da wurde ich sauer!
Wenn eine Mutter vor mir steht und mir sagt, dass ihr Kind ein Spezial-Öl benötigt, sie es sich aber nicht leisten könne, dann stellt sich die Frage: Will man diese Tochter im Stich lassen? Und genau da setzt mein Verein an.
Hier sind wir wirklich ein Produkt! Wir werden mit Nivea-Creme abgespeist. In Indien, wo ich auch Leute behandle, freuen sich die Leute über eine Nivea-Creme. Denn die haben gar nichts! Man muss daher immer beide Seiten sehen. Ich persönlich werde so gut behandelt! Ich bin nicht mehr nur Patientin. Wenn ich als Vanessa Münstermann in die MHH gehe, bin ich jemand. Sie behandeln mich immer freundlich, sie sehen immer, ob es mir gut geht. Das muss jeder für sich herausfinden. Fühlt er sich wie eine Nummer, die aufgerufen wird, oder fühlt er sich gut aufgehoben?
Insgesamt haben wir ein sehr gutes Gesundheitssystem. Ich sage immer, auch wenn das blöd klingt, dass ich schon „die Schönste“ unter den Verbrannten bin, weil die Narben so schön geworden sind. Ich meine – es war ja alles weg! Es war nichts mehr da! Das haben die schon ordentlich hingekriegt. In anderen Ländern wäre ich tot gewesen!
Bei dir wurde ja auch sehr viel wiederhergestellt. Die ganze Gesichtssymmetrie ist wieder da. Man sieht, da waren Profis am Werk! Wir sprechen bereits von zwei Welten. Von der ersten und der dritten Welt. Du skizzierst in deinem Buch noch zwei weitere Welten: Die Welt der Gesunden und die Welt der Kranken. Kannst du mal beschreiben: was sind das für zwei Welten? Und wo ist dir diese Trennung zum ersten Mal aufgefallen?
Ich habe am Anfang einen Fehler gemacht. So wie ich mein Gesicht und meine Persönlichkeit gespalten habe, so habe ich auch die Welten gespalten: Ich bin jetzt anders, ich bin „krank“. Jetzt gehöre ich zu diesen Kranken, zu denen, die einen Leidensweg durchlebt haben. Ich habe mich dadurch etwas abgegrenzt, was allerdings gemein den Anderen gegenüber war.
Das habe ich erst in der Reha gemerkt. Das wurde dann auch nochmal durch Menschen untermauert, die krank bleiben wollen. Die leben diese kranke Welt. Die wollen dieses Opferdasein. Manche fühlen sich in dieser Opferrolle eben gut. Viele wollen das aber nicht. Ich habe gemerkt, dass mir das nicht liegt. Da rauszukommen, ging auf ein Gespräch zwischen meiner Mutter und mir zurück. Sie meinte: „Merkst du gar nicht, in welcher Welt du dich gerade befindest? Es gibt keine kranke Welt! Wir sind eine Gesellschaft. Komm nach Hause. Du wirst sehen – jeder hat sein Päckchen zu tragen. Diese Welten, von denen du sprichst, die gibt es nicht!“
Ich habe natürlich auch gedacht: „Die Gesellschaft ist schlecht. Die werden mich hassen!“ Ich bin in dieses Loch gefallen. Aber im Endeffekt war ich die Gemeine, nicht die Anderen! Ich habe sie ausgegrenzt. Das war ein Selbstschutz-Mechanismus.
Viele fühlen sich in dieser Welt der Kranken wohl. Aber dann ich bin die schlechteste Ansprechpartnerin. Ich greife auch Betroffene an, die denken, sie müssten „normal“ aussehende Menschen angreifen und sagen, diese hätten keinen Respekt vor ihnen. Aber sie selber sind dann diejenigen, die auf der Autobahn 50 fahren, um sich den Unfall auf der Gegenspur anzusehen. Wir sind nicht anders! Ich gucke Rollstuhlfahrern auch hinterher und frage mich, warum sie im Rollstuhl sitzen.
Muss man sich zumindest einmal in diesem Elend suhlen, sich selbst bemitleiden und sich dessen klar werden, dass man Opfer einer Gewalttat geworden ist, damit man wieder aufstehen kann? Muss man einmal diesen Tiefgang durchgemacht haben?
Das kann man machen, wenn man möchte. Das kommt drauf an, wie viel man zulässt. Ich hoffe, dass jedem, der eine Gewalttat erlebt hat, auch klar ist, dass ihm eine Gewalttat angetan wurde. Sonst kann ich ihm auch nicht helfen.
Ich weiß nicht, ob man sich für eine gewisse Zeit selbst bemitleiden muss. Das ist wahrscheinlich von Person zu Person unterschiedlich. Aber eigentlich bringt dich Selbstmitleid nicht weiter. Ich selber liege manchmal auch in der Badewanne und heule wie ein Schlosshund, weil alles zu viel wird. Dann bemitleide ich mich ja auch. Da habe ich manchmal auch diesen Down-Punkt. Aber dann muss ich mich wieder fangen, weil sonst das Leben nicht läuft.
Würdest du dieses Heulen als einen reinigenden Regen bezeichnen, der fallen muss, damit etwas Neues wachsen und gedeihen kann – der allerdings irgendwann auch wieder aussetzen muss, weil sonst die Deiche brechen?
Ja, genau! Man sagt ja auch manchmal: „Das Fass ist voll“. Letztens bekam ich eine Mahnung, und diese eine Kleinigkeit war mir dann zu viel. Heute komme ich mit alltäglichen Problemen nicht mehr so gut klar wie früher. Aber das ist logisch.
Ich bin traumatisiert! Ich bin kein normal denkender Mensch!
Ich erwische mich häufiger dabei, wie ich Selbstgespräche führe. Natürlich bin ich nicht mehr ganz klar in der Birne. Ich glaube auch nicht, dass jemand, der einen Säure-Angriff überlebt oder einen Unfall erlebt hat, sagen kann, er sei da vollkommen unbeschadet davongekommen. Wer das sagt, sollte sich einen Therapeuten suchen.
Definitiv! Da wird ja ganz offensichtlich irgendetwas verdrängt.
Ich verdränge auch ganz viel. Weil ich noch nicht bereit bin, das zu verarbeiten. Es gibt auch Kapitel in meinem Tagebuch, über die möchte ich nicht reden. Ich habe es noch nicht geschafft, darüber zu reden. Wenn du mein Tagebuch siehst, dann siehst du, dass etliche Seiten sehr aufgeweicht sind. Ich habe beim Schreiben so oft geheult! Und das war gut! Die Sachen, die ich dort geschrieben habe, die könnte ich dir nicht ins Gesicht sagen! Ob ich darüber in drei oder fünf Jahren reden kann, weiß ich nicht. Ich verstecke mich auch hinter diesem Buch. Das, was im Buch steht, das habe ich jetzt einmal zu Papier gebracht. Und dann konnte ich auch aufhören zu weinen. Das ist für mich jetzt erst einmal abgelegt. Jetzt ist Zeit für etwas Neues. Und wenn ich bereit bin, das alte noch einmal aufzuarbeiten, dann kann ich diesen Bereich meiner Erinnerung wieder öffnen.
Sprechen wir über deinen Verein ausGezeichnet. Bei dem Begriff dürften viele zuallererst an den Lieblingsbegriff der Simpsons-Figur Mr. Burns denken. Was bedeutet dieser Begriff, wenn man ihn so wie du ausspricht?
Die Idee hatte ursprünglich meine Schwester. Man ist gezeichnet. Es stellt sich die Frage, wer einen auszeichnet. Man ist in dem Sinne „ausgezeichnet“, indem man anders ist als die anderen, man etwas Besonderes ist. Und „Gezeichnet“ wird deswegen großgeschrieben, weil man durch etwas gezeichnet ist. Es ist eine Wortspielerei, die im Endeffekt aussagt, dass du toll bist, weil du anders bist.
Du hast vorhin schon darüber gesprochen, dass du vielen Betroffenen in anderen Ländern hilfst. Insbesondere Ländern, die nicht Teil der „ersten Welt“ sind. Welche Länder sind das?
Ich helfe in Äthiopien. Dort hatte ich meinen härtesten Fall. Außerdem Sri Lanka, Indien und USA. Indien ist da ein ganz klassischer Fall. Dort ist es besonders schlimm mit dem Kastensystem und besonders, wenn die Mitgiften nicht bezahlt werden. Ich war sehr froh, dass folgender Fall aus Europa in den Medien eine breite Öffentlichkeit erfahren hat: Es gab diesen jungen Mann, der von seiner Freundin misshandelt wurde. Das finde ich interessant, denn es gibt viele Männer, die von ihren Frauen vergewaltigt werden. Bevor ich den Verein hatte, konnte ich mir so etwas gar nicht vorstellen – dass man einen Mann vergewaltigen kann. Mittlerweile habe ich mit Betroffenen geredet. Es hat mich geschockt, wie brutal Frauen sein können. Davon gibt es auch einige, das darf man nicht vergessen. Ich fand es gut, dass dieser Mann so mutig war und es endlich ausgesprochen hat. Im Endeffekt können wir Frauen genauso böse sein.
Ihr seid mit eurem Verein ja sehr international aufgestellt. Hat die internationale Hilfsstelle für Säureopfer, der Acid Survivor Trust International (ASTI), schon mal von eurem Verein gehört?
Die sind echt cool! Ich bin mit denen auf Instagram verknüpft, ich folge ihnen. Aber meinen Verein kennen die nicht und das wäre mir auch zu groß. ausGezeichnet gibt es nun auch erst seit zwei Jahren. Ich möchte nicht, dass wir so schnell international werden. Ich betreue derzeit aktiv 15 Personen und telefoniere regelmäßig mit ihnen. Dann kommen auch immer wieder Neue hinzu, die am Anfang wirklich Zeit brauchen. Und mit denen telefoniere ich auch manchmal dreimal täglich. Da kann ich mich nicht um „ältere“ Verbrannte kümmern, die diese Narben schon länger haben. Denen sage ich auch manchmal, dass ich heute keine Zeit habe. Aber die sind dann auch glücklich, weil sie sehen, dass sie nicht alleine sind und dass ich versuche, mich auch um neue Betroffene zu kümmern.
Was übrigens auch ganz schlimm ist, sind Krankenhausnarben, die durch Krankenhauskeime entstehen. Diese Narben sind besonders schlimm, wirklich die schlimmsten, die ich je gesehen habe. Und dieses Thema wird ja total totgeschwiegen! Wir betreuen einen Herren, der diese Narben hat. Und da habe ich das Gefühl, dass die Narben von innen nach außen wachsen. Die sind sehr wulstig. Wir senden dafür Bäder und Cremes, aber da muss vor allem mit Kompressionsmasken gearbeitet werden.
Was mir auch aufgefallen ist: Je dunkler die Haut ist, desto wulstiger werden die Narben. Wir „Hellen“ haben da den Vorteil, dass die bei uns gar nicht so wulstig werden. Ich selber musste nur ganz selten Kompressionsmasken tragen. Wir haben hier wirklich großes Glück. Die Menschen in Indien oder anderen Ländern haben es physisch schwieriger. Da müssen wir auch sofort mit Kompressionskleidung anfangen!
Es ist also eine richtige Kunst, diese Narben wieder zu glätten?
Das würde ich auf jeden Fall sagen. Es macht mir aber großen Spaß, diesen Prozess zu begleiten und auch Erfolge zu sehen. Meine Vereinsarbeit bedeutet ja nicht nur, dass ich helfe. Ich bekomme ja auch so viel wieder zurück. Diese ganzen Erfolgserlebnisse, die ich miterlebe, wenn mich beispielsweise eine Betroffene anruft und mir mitteilt, dass sie jetzt wieder einen Freund hat – das freut mich dann jedes Mal riesig!
Du hast ja davor als Kosmetikerin gearbeitet. Das ist ja eine Branche, die lebt von Eitelkeiten und von einer nie endenden Jagd nach den neuesten Schönheits-Idealen. Nach dem Anschlag hast du in diese Welt nun nicht mehr so wirklich hineingepasst. Wie hat sich danach deine Vorstellung und deine Wahrnehmung von „Schönheit“ verändert?
Komplett! Als Kosmetikerin musst du ja deine Produkte leben. Du musst diesen Schönheits-Idealen hinterherrennen. Und das ist jeden Tag ein anderes. Früher war es verpönt, einen dicken Hintern zu haben, jetzt musst du aussehen wie Kim Kardashian. Aber das schaffst du nicht! Ich hatte blaue, rote und grüne Haare. Es gab immer Leute, die mich hässlich fanden. Damals hatte ich auch Minderwertigkeitskomplexe. Immer der Gedanke, nicht schön genug zu sein. Aber das konnte ich auch nicht schaffen, weil ich mich selbst nicht geliebt habe. Ich hatte Depressionen und Suizidgedanken.
Das beste, was mir dahingehend passieren konnte, war dieser Säure-Anschlag! Weil ich mich dadurch von diesem Schönheits-Ideal lösen konnte. Ich darf jetzt „hässlich“ sein. Keiner erwartet jetzt noch von mir, „schön“ auszusehen.
Es gibt eigentlich nichts Besseres: Geliebt zu werden, obwohl du hässlich bist.
Du hast die Inspiration, dein Gesicht in zwei Hälften zu teilen, um das besser verarbeiten zu können, aus den alten Batman-Filmen erhalten. Genauer gesagt, von der Figur des Bezirksanwalts Harvey Dent, der ebenfalls mit Säure angegriffen wird und sich fortan Two-Face nennt. Du unterteilst dein Gesicht in zwei Hälften. Die eine ist die „schöne“, die andere die „hässliche“. In deinem Buch schreibst du:
„Ich (…) hatte erkennen und fühlen dürfen, dass die äußere Fassade nicht ausschlaggebend war, dass Intimität über die Haut hinausging, dass ich so, wie ich war, schöner war als je zuvor. Das war die Geburtsstunde von Two-Face.“ (S. 182)
Wie ist das heute zu verstehen – Unterteilst du dein Gesicht noch immer in zwei Hälften oder haben diese Hälften mittlerweile nicht schon Frieden geschlossen?
Ich unterteile sie nach wie vor. Ich kann da nicht eins draus machen, weil beide Hälften einfach nicht gleich aussehen! Es geht nicht nur um das Äußere. Es geht um das Innere. Ich bin auch im Inneren Two-Face. Wenn ich diese Selbstgespräche führe, dann führe ich die auch mit der „alten“ Vanessa. Die existiert in meinem Kopf noch. In den Gesprächen geht es dann darum, wie sie das heute sehen würde und so weiter. Wie ich vorhin schon sagte: ich bin nicht ganz klar in der Birne.
Und das mit Harvey Dent: Das ist eigentlich aus einem Witz entstanden. Ich habe den Film gesehen und mir gedacht: „das ist jetzt mein Beuteschema. Und ich bin jetzt quasi auch ein Two-Face.“ Und es hat mir so sehr geholfen, dieses Two-Face zu entwickeln. Was soll ich denn mit der linken Hälfte versuchen? Ich schminke ja auch nur die rechte Seite. Die linke fasse ich gar nicht an.
Du meinst, die „alte“ Vanessa lebt noch in deinem Kopf – und schreibst auch in deinem Buch, dass die alte Vanessa es sich nicht vorstellen konnte, mit einem Mann zusammen zu sein, der zur Hälfte verbrannt ist. Wie war es für dich, das erste Mal andere Menschen mit Entstellungen zu treffen?
Schön! Ich habe mich richtig gefreut, dass ich nicht alleine bin. Es war ein gutes Gefühl!
Es kam ein Gemeinschaftsgefühl, ein Zugehörigkeitsgefühl auf?
Genau. Und das wird auch immer so sein. Ich fühle mich gut mit Leuten, die anders sind. Warum soll man auch nicht gemeinsam auf die Straße gehen und sich gemeinsam angaffen lassen?
Ich habe mich nach dem Anschlag zunächst nicht geliebt gefühlt und mich im Inneren gefragt: „Wäre ich denn bereit, jemanden zu lieben, der so aussieht?“ Und ich habe das mit „Nein“ beantwortet. Und wenn ich nicht in der Lage bin, mich zu lieben, wer sollte es dann sonst tun? Deswegen hatte ich auch diese Krise in der Reha. Der erste Kuss im neuen Leben war ein sehr intensiver Moment. Ich konnte nicht fassen, dass ein Mensch sozialer und netter war, als ich es jemals sein würde.
Du warst so baff, weil du festgestellt hast, dass er dich mehr mochte als du dich selbst?
Richtig. Ich hätte mich selbst nicht angefasst. Und das ist leider die Wahrheit. Deswegen bin ich eine Person, die man entweder liebt oder hasst. Es gibt keinen Mittelweg. Ich greife deshalb auch Betroffene an, die behaupten, die Welt sei böse. Du musst dich aber erst einmal mit dir selber auseinandersetzen. Und er, in der Reha, war eher dazu in der Lage, mich zu lieben, als ich das war.
Und dir hat das gezeigt: Wenn andere das können, dann kann ich das doch auch?
Richtig. Ich bin anscheinend liebenswert. Er war die Hoffnung und der Anfang für meine Selbstliebe. Bis dahin dachte ich ja, es würde mich niemand mehr lieben.
Dazu muss man ja auch sagen, dass die Narben damals noch viel heftiger waren.
Ja! Ekelhaft! Mein Ohr war schimmelig und hat sehr gerochen. Das ist ja abgestorben. Das sieht aus, als würdest du Speck anbraten – aber zu lange, sodass es schon richtig schwarz wird. Die Narben waren rot. Und alles war eitrig. Das Auge hat gesifft. Und von daher: Hochachtung ihm gegenüber. Er ist wirklich ein toller Mensch, der darüber hinwegsehen konnte. Ein Penis lügt ja schließlich nicht: Mein Freund liegt nicht nur auf mir und stöhnt: „Du hast so einen tollen Charakter!“ Und von da an konnte ich natürlich umdenken. Er hätte mir sagen können, ich sei die Schönste auf der Welt – aber wenn man in die Intimität geht, ist das eine ganz andere Geschichte.
Du beschreibst in deinem Buch, wie unterschiedlich die Personen auf dein Äußeres reagiert haben. Die Krankenschwestern auf der Intensivstation hatten ja gar keine Berührungsängste mit dir. Dann beschreibst du aber auch eine Situation: Du willst ein Paket bei der Nachbarin abholen und die schlägt dir erst einmal vor lauter Schock die Tür vor der Nase zu. Andere Verletzungen, die entweder mit einer Krücke, einer Schiene oder einem Pflaster geheilt werden können, versetzen nicht so sehr in Furcht. Du hast dich sicherlich schon sehr intensiv mit dieser Thematik auseinandergesetzt, dir diese Frage gestellt und vielleicht auch eine Antwort darauf gefunden: Warum lösen Narben bei anderen Menschen Ängste aus?
Es waren nicht meine Narben. Es war mein Auge.
War das noch das schwarze Auge oder schon dein neues?
Es war mein aktuelles Auge. Im ersten Moment ist so eine Situation natürlich ein Schock für die Menschen. Ich war natürlich traurig, weil ich ja anscheinend so furchteinflößend aussah. Aber im Nachhinein verstehe ich meine Nachbarin. Vielleicht hat man mal irgendwo gelesen, dass es so einen Fall einmal irgendwo in Deutschland gab – und dann steht auf einmal so ein Säureopfer vor der Tür. Da würde ich mich auch erschrecken! Ihr kann ich gar nicht böse sein. Im Nachhinein lachen wir heute beide darüber.
Ihr habt mittlerweile auch noch Kontakt?
Natürlich! Sie hat es mir erklärt und hat sich auch entschuldigt. Ich habe das vollkommen verstanden, aber im ersten Augenblick war ich total traurig. Das sage ich auch immer den Betroffenen: Die sollen das gar nicht so nah an sich rankommen lassen. Die Reaktionen der Anderen sagen ja nichts über einen selber aus.
Kehren wir noch einmal zum Comic-Charakter Harvey Dent zurück. Der verhält sich nach seinem Säure-Anschlag ganz anders als du. Er gründet keinen Hilfsverein für entstellte Bürger aus Gotham City, sondern wird nach dem Angriff zu Batmans Gegenspieler. Siehst du in der modernen Unterhaltungsindustrie – Filme, Serien, Bücher – eine Mitschuld, dass Menschen mit vernarbten und entstellten Gesichtern immerzu mit bösen Eigenschaften assoziiert werden?
Man muss schon ein sehr dummer Mensch sein, um davon beeinflusst zu werden. Das Geilste wäre, wenn sich ein Filmteam bei mir melden würde und mich als Säure-Opfer casten möchte. Da wäre ich sofort dabei! Aber letztendlich hat diese Verknüpfung – entstellter Mensch = Böse – wieder mit unseren Schönheitsidealen zu tun. Das ist ja bei der Karriere genauso. Ein attraktiver Mensch wird immer intelligenter eingeschätzt. Wenn jemand „hässliches“ vorbeikommt, denken wir sehr schnell: „Der kann nichts!“ Der muss sich erst einmal beweisen. Wir Menschen sind so voll mit Vorurteilen! Man sah es ja auch bei Daniel (Vanessas Ex-Freund, Anm. d. Red.) und bei mir. Er ist wunderschön! Aber er ist die böse Person!
Du schreibst auch, dass Daniel sich im Endeffekt die Säure selber ins Gesicht geschüttet hat. Zwar hast du die Narben davongetragen, aber auf lange Sicht kamen deine schönsten Seiten zum Vorschein. Kann man sagen, der Anschlag ist nach hinten losgegangen?
Total, er hat sich definitiv selber verbrannt! Bei mir siehst du es zwar, von ihm aber weiß nun jeder, was für ein Mensch er ist. Am Ende kann nur er beantworten, ob ihm das die erwünschte Genugtuung gebracht hat.
Letzte Frage: Was kannst du den Lesern dieses Interviews mitgeben, die zu denen gehören, die morgens in den Spiegel blicken und nicht mit dem zufrieden sind, was sie dort sehen?
Ihr müsst damit anfangen, euch so zu lieben, wie ihr seid. Ihr werdet niemals diesen gesellschaftlichen Schönheitsidealen entsprechen; aber das schafft keiner! Auch eine Naomi Campbell wird dem Schönheits-Ideal nicht immer gerecht. Man muss sich entscheiden: Möchte ich in Trauer und in Depression leben, weil ich mir von jemanden etwas vorschreiben lasse? Dass ich nicht schön bin oder dem Schönheits-Ideal nicht entspreche?
Oder möchte ich jetzt glücklich werden? Möchte ich mich jetzt selber lieben? Habe ich das etwa nicht verdient? Das sollte man sich immer fragen! Jeder muss sich die Frage stellen: Mache ich so weiter wie bisher und bleibe unglücklich, oder verändere ich etwas in meinem Leben? Das kann man letztlich selbst! Es hilft wenig, das Glück bei jemand Anderem zu suchen. Das machen Frauen sehr gerne. Sie versuchen, einen Partner zu abzubekommen, um glücklich zu werden. Das funktioniert nicht und das ist auch gemein!
Du musst dich selber glücklich machen! Dieses Glück kannst du weder von einer Firma produzieren lassen, noch von einer anderen Person erhalten – es kommt aus Dir!
Vanessa, ich danke dir für das Interview!
*Das Buch – 259 Seiten, ISBN 9783499633782, 10 Euro – erschien am 19. Februar 2019 im Rowohlt-Verlag. *
Redaktionelle Anmerkung: Auch die Redaktion des Rubikon würde sich freuen, wenn Sie den Verein von Vanessa Münstermann zur Hilfe von entstellten Menschen unterstützen würden.
Jugendredakteur Nicolas Riedl erhielt zur Vorbereitung für das Interview freundlicherweise eine Druckfahne des Buches vom Rowohlt-Verlag.