Redaktionelle Vorbemerkung: Das Rubikon-Team diskutiert die "Abschaffung der Schulpflicht", die vor einigen Tagen an dieser Stelle gefordert worden ist. Teil 1 finden Sie hier, Teil 2 hier, dies hier ist der 3. Teil. Sven Böttcher hat abschließend in seinem eigenen Blog erwidert.
Ganz schnell sind also einige Begriffe im Raum, die eine Diskussion beenden sollen, anstatt sie zu führen. Letzteres ist aber eine der Grundideen von Rubikon. Also nicht nur um die eigenen Positionen zu kreiseln, sondern auch andere Positionen zu Wort kommen lassen, um sich so der Herausforderung zu stellen, den Widerspruch genauer zu formulieren, und dabei die eigenen Ambivalenzen nicht unter den Tisch fallen zu lassen.
Von daher ist der Text und der Widerspruch eine Gelegenheit, unser Versprechen einzulösen, auch „unsere“ Texte mit der Werkzeugkunde anzuschauen.
Ich muss einschränkend sagen, dass ich nicht mitten in den Themen Kindererziehung, Elternrechte und Schulsysteme stecke.
Ich werde also nur einen kleinen Teil der notwendigen Debatte ansprechen.
Dass Sven Böttcher einem empathischen Menschenbild folgt, ein Bildungs- und Schulsystem vor Augen hat, das nicht der Umsetzung kapitalistischer Anforderungen dient, sondern der Entwicklung von freien, kritischen und vielseitigen Menschen, ist hoffentlich unstrittig.
Was hingegen sofort ins Auge sticht, ist die unnötige Weise, wie er die Schulpflicht historisch kontaminiert: Sie beginnt bei ihm 1938, als die Nazis den „Schulzwang“ eingeführt hatten.
Warum verschluckt er aber die Geschichte der Schulpflicht, die lange vor den Nazis eingeführt wurde? So schreibt die Weimarer Verfassung 1919 eine allgemeine Schulpflicht fest.
Indem Sven Böttcher diesen Teil der Geschichte weglässt, die Nazis zu den Gründern und Erfindern des „Schulzwanges“ macht, hat er genau die Affekte, die er den anderen vorwirft: Wer will jetzt noch den „Schulzwang“ verteidigen, wenn ihn die Nazis erfunden haben? Das ist eine mehr als unnötige Nötigung … und eine Verkürzung der Geschichte.
Denn wenn Sven Böttcher die Frage um Schulpflicht auf die Zeit davor datieren würde, würde man neben dem Bedürfnis des Staates, seine Untertanen zu „bilden“, auch die Kämpfe und Klassenverhältnisse sichtbar machen, die mit der Frage der allgemeinen Schulpflicht verbunden waren und sind.
Dass die Reichen und Mächtigen sich seit jeher privat gebildet haben, es ein Privileg der Mächtigen war, in den Genuss von Bildung zu kommen, eine übergroße Mehrheit hingegen weder das Geld, noch die Zeit dazu hatte, geht in Sven Böttchers geschichtlicher Herleitung vollkommen verloren. Un noch etwas geht damit unter: Es hat viele Kämpfe gekostet, dass Bildung/Schule ein Recht wurden, das vor allem jene in Anspruch nehmen, die sich das ansonsten nicht leisten konnten. Ein Recht, das weder von der Familie, noch vom Einkommen abhängig ist.
Wenn man all dies mit in die Debatte wirft, also dort auch berücksichtigt, dann hat die berechtigte Frage, woher diese PISA- und Bologna-getackerten Menschen kommen, auch den notwendig vielschichtigen Hintergrund.
Sven Böttchers Kampf gegen den Schulpflicht einzig und verkürzend auf Nazipolitik zusammenzudampfen, führt zu einem „antistaatlichen“ Kampf, dem ich nicht unbedingt folgen kann und will: An die Stelle des „totalitären“ Staates - womit Sven Böttcher völlig unnötig und unsinnig Faschismus und bürgerliche Demokratie gleichsetzt - will er die Fähigkeiten und Kompetenzen der Familie setzen und verweist dabei auf Humboldt, der den Staat dazu aufrief, „sich aus Familie und Ehe heraushalten und diese Bereiche der ‚freien Willkür der Individuen und der von ihnen errichteten mannigfachen Verträge gänzlich überlassen’“.
Ganz ehrlich gesagt: Genau „diese freie Willkür der Individuen“ will ich nicht. Vielleicht mag das ein besonderes Einzelschicksal sein (das ist ein Scherz), aber ich möchte nicht die Familie zu dem Hort machen, wo all das passieren soll, woran es uns allen mangelt. Ich möchte diesen Familien (auch den guten) nicht diese Macht geben. Denn auch bei der Familie geht es nicht um einen weltlosen sozialen Zusammenhang, sondern ebenfalls um eine machtvolle Institution, man könnte auch sagen, um die „Keimzelle des Staates“.
Und auch hier fehlt mir bei Sven Böttcher, dass er mitbedenkt, dass sich auch durch die Familien-Trutzburgen Klassenverhältnisse ziehen … also vieles, wozu auch sie gar nicht mehr in der Lage sind, gar nicht in ihrer Macht steht.
Das Glück von Kindern, die Möglichkeit der Bildung möchte ich weder dem „Staat“, noch der „Familie“ überlassen. Denn das, was Kinder, also auch wir lernen sollen und können, sollte frei sein - von der Macht des Staates wie der der Familie.
Meine Eltern haben diese Macht weidlich genutzt: Als ich ihnen nicht mehr gepasst habe, haben sie mich als Eigentümer meines Lebens von der Schule genommen. Ich musste mich erst volljährig erklären lassen, um mich - mit viel Glück und Wohlwollen staatlicher Institutionen (in diesem Fall war es das Lehrerkollegium) – wieder auf der Schule anmelden zu können.
Hurra, hurra, die Schule brennt…
Das war ein Song aus den 80er Jahren, das wir gerne gehört haben – auch wenn er ein bisschen zu poppig war, eben Neue Deutsche Welle. Diese reichte dennoch aus, um die öffentlich-rechtlichen Sender dazu zu bringen, den Song von ‚Extrabreit’ nicht auszustrahlen, da sie darin einen Aufruf zur Brandstiftung sahen.
Abgesehen davon hat dieser Song natürlich eine Stimmung wiedergegeben, die so das ziemliche Gegenteil vom dem ist, was heute in Schulen und Universitäten vorherrscht.
Damals hatten wir zwar keine Schule angezündet, aber wir haben uns dort alles andere als Lernschafe gefühlt. Wir haben angekündigt, bei Prüfungen abzuschrieben und haben dies gemacht. Wir haben uns langweiliger „Pflichtstoffe“ verweigert. Wir haben unseren eigenen Lernstoff auf den Lehrerpult geworfen. Wir haben die Form des Lernens verändert.
Und wir hatten gelernt, was eine Klasse für eine Macht sein kann, wie hilflos ein Lehrer ist, wenn er nicht gestylten Ich-AG‘s gegenübersteht.
Wir haben uns also – in einem gewissen Maße - die Schule so gemacht, wie wir sie haben wollten und haben uns gefreut, von zuhause weg zu sein.
Ich würde vorschlagen, dass wir uns darin ermutigen. Dann würde sich das mit der Schulpflicht von alleine erledigen.