Redaktionelle Vorbemerkung: Das Rubikon-Team diskutiert die "Abschaffung der Schulpflicht", die vor einigen Tagen an dieser Stelle gefordert worden ist. Teil 1 finden Sie hier, Teil 2 ist jener hier, der 3. Teil erschien soeben hier. Sven Böttcher hat abschließend in seinem eigenen Blog erwidert.
Trotzdem sprechen meines Erachtens etliche Überlegungen gegen eine Abschaffung der Schulpflicht. Dabei möchte ich mit den ganz praktischen Auswirkungen beginnen, auch wenn diese nicht für alle von der Schulpflicht Betroffenen gleichermaßen relevant sind:
1.
Nach meinen persönlichen Erfahrungen gibt es erstaunlich viele "spinnerte" Eltern, die mystischen und/oder religiösen Wahnvorstellungen anhängen. Viele dieser Eltern (womit ich nicht Sven Böttcher meine!) kämpfen schon jetzt für ein "home schooling", damit sie ihre Kinder ohne jeden "schädlichen Einfluss von außen" permanent in ihrem Sinne indoktrinieren können.
2.
Schule kann auch im wahrsten Sinne des Wortes Schutzraum sein. Das gilt zumindest für die in ihren Elternhäusern oft geschlagenen und/oder sexuell missbrauchten Schüler/innen. Eine Abschaffung der Schulpflicht würde in diesen Fällen einem vollständigen Entzug jeder Rückzugsmöglichkeit gleichkommen.
3.
Ein ebenfalls nicht angesprochenes Problem stellt die Beschulung behinderter Kinder dar, wobei es in diesem Zusammenhang mehr um die für die Eltern gegebene Entlastungsfunktion geht. Insbesondere bei einem Vorliegen körperlicher und/oder geistiger Behinderungen dürften viele Eltern froh sein, wenn sie für einige Stunden am Tag von den damit verbundenen Betreuungspflichten befreit sind.
4.
Statt der in Aussicht gestellten Verringerung des bürokratischen Personals wird es wohl eher zu einer Aufgabenverlagerung kommen. Zumindest im Fall des von Eltern oder Privatlehrern durchgeführten Unterrichts stehen viele Einzelprüfungen an, für die ein großes Kontingent an Kontrolleuren vorgehalten werden muss.
5.
Bei der von Böttcher vorgeschlagenen Neuschaffung freier Schulen für diejenigen Eltern, die für die Wahrnehmung der Bildungs- und Erziehungsaufgaben auf umfassende Unterstützung angewiesen sind, wurde nicht bedacht, dass sich daraus ganz schnell eine neue (und vielleicht sogar besonders schlimme) Form der Stigmatisierung entwickeln könnte: Denjenigen Kindern, deren Eltern klug oder vermögend genug für eine selbst durchgeführte oder eigenständig organisierte Ausbildung ihres Nachwuchses sind, stünden diejenigen Kinder gegenüber, die in dem Bewusstsein aufwachsen müssen, mit in jeder Beziehung minderbemittelten Eltern geschlagen zu sein. Fremd- und Eigenwahrnehmungen dieser Art könnten dazu beitragen, dass die neu geschaffenen freien Schulen - und zwar ungeachtet aller beabsichtigten Verbesserungen - unversehens in den Ruf zweitklassiger Resterampen geraten.
6.
Unter diesem Blickwinkel hätten wir es am Ende mit einem (von Böttcher auch selbst so bezeichneten) "Zwei-Klassen-Bildungssystem" zu tun, das den bislang ohnehin nicht sonderlich erfolgreichen integrativen Bemühungen vermutlich vollends den Garaus machen würde. Denn das brächte der Wegfall der Schulpflicht ja auch mit sich: Die Kinder der Reichen, die schon jetzt mit ihren Eltern in eigenen (und zunehmend auch abgeriegelten und/oder bewachten) Vierteln leben, hätten gar keinen Kontakt mehr mit den aus unterprivilegierten Verhältnissen stammenden Kindern. Das heißt, dass die dann auch optisch vollzogene Spaltung der Gesellschaft einer Restaurierung feudaler Lebensverhältnisse bedenklich nahe käme.
Alles in allem fällt auf, dass die von Böttcher vorgetragenen Argumente trotz ihrer "prokindlichen" Ausrichtung zumindest teilweise an neoliberale Diskussionsmuster erinnern, mit deren Hilfe der Ausbau öffentlich finanzierter Privatschulen forciert werden soll. Hier wie dort heißt es, dass freie Schulen ganz besonders im Interesse der benachteiligten Kinder lägen. Dazu passt, dass Böttcher an anderer Stelle seines Beitrags darauf hinweist, dass unter dem Deckmantel von Schlagwörtern wie "soziale Gerechtigkeit" und "Gleichheit" bislang nur eine Nivellierung nach unten erreicht worden sei.
Da vieles von dem, was Böttcher an Kritik am heutigen Schulsystem vorbringt (Wettbewerbsorientierung, Mehrgliedrigkeit, Benotungspraxis etc.), absolut berechtigt ist, handelt es sich bei dem von ihm verfassten Text um eine sehr verführerische Vision, der meines Erachtens aber gerade deshalb mit Skepsis begegnet werden sollte.
Hinzu kommt, dass die bestehende (von Böttcher übrigens unkorrekt datierte) Schulpflicht bei einem entsprechend vorhandenen Willen grundsätzlich immer mit einem allseitig fördernden Unterricht einhergehen kann. Anders ausgedrückt: Selbst eine aus einem totalitären Geist heraus geborene Schulpflicht kann in einer sehr demokratischen und auf das Wohl der Kinder bedachten Weise praktiziert werden.
Ich persönlich plädiere aus den zuvor genannten Gründen sowohl für eine Beibehaltung der Schulpflicht als auch für eine Beibehaltung des öffentlichen Schulwesens. Statt einer (teilweise wörtlich zu nehmenden) Privatisierung des Bildungs- und Erziehungssektors sollten wir uns noch intensiver als bislang für eine "kinderfreundliche Grundsanierung" unseres Schulwesens einsetzen.