Folge 1:
Vorworte
Vorgeschichte
Beginn Tagebuch: Erstes Treffen hinter Glas; Kein Platz für uns in dieser Welt; Welch ein herrlicher Frühlingstag im Krieg
Zu Ehren von Dr. Friedrich Lautemann
der am 30. Juni 2020 infolge der Zwangsmaßnahmen,
des staatlich verordneten Lockdown,
im Seniorenheim Haus Rixdorf, Neukölln, verstarb.
Dr. Friedrich Lautemann war Rechtsanwalt, Schriftsteller und Publizist.
In seinen letzten Lebensjahren war er an Demenz erkrankt.
Er hinterließ zwei Kinder, vier Enkel und seine
liebende Gefährtin.
Der Lockdown war ein großes Unrecht.
Mit seiner Stimme und seinem freiheitsliebenden Herzen fordere ich eine konsequente Aufklärung des Unrechts staatlicher Maßnahmen in der Corona-Pandemie und deren Folgen während des Lockdowns im Frühjahr 2020.
Sabine Lange, Februar 2021
Zuletzt
In seiner letzten Stunde ... durfte ich endlich bei ihm sein. Ich konnte seine Hand halten. Ich konnte noch einmal seine Lippen mit Erdbeermus benetzen, den er so gerne aß. Ich durfte jetzt bei ihm sein. Als es sich abzeichnete, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, ließ man mich endlich zu ihm. Aber welch ein Kraftakt war das bis dahin, welch eine Marter. Welch ein Martyrium, es bis hierher zu schaffen, bei meinem sterbenden Liebling sein zu dürfen. Mit welchen Bittgängen, mit welchen seelischen Qualen und Auseinandersetzungen und immer wieder Warten und Getrenntsein, musste ich die letzten Tage überstehen.
War es nicht schon genug, den absehbaren Tod meines Freundes vor Augen zu haben, hat das nicht schon alle seelische und körperliche Kraft aufgebraucht? Musste daneben auch noch ein völlig sinnloses Gefecht mit den Aufsehern und Technokraten des Heimes und mit Behörden ausgetragen werden?
Ich wollte, dass seine letzten Tage und Stunden voller Harmonie sind, voller Harmonie.
Und ich wollte bei ihm sein.
Im Nachhinein plagen mich Schuldgefühle, dass ich nicht rigoroser vorgegangen bin, dass ich mich am Telefon immer wieder habe hinhalten lassen. Ich spürte doch die unsagbare Wut in meinem Bauch, den Groll in meinem Herzen, die unsagbare Traurigkeit, wenn mein Wunsch, Friedrich zu sehen, mit Verweis auf die begrenzten Besuchszeiten einfach abgelehnt wurde.
Ich hätte losschlagen müssen. Schreien! Ich malte ein Schild, mit dem ich mich vor das Heim setzen wollte: „Lasst mich zu meinem Mann.“
Ich setzte mich nicht vor das Heim. Ich wartete. Ich reihte mich ein in die Wartenden vor der verschlossenen Eingangstür, hinter der man die traurigen und fassungslosen liebsten Angehörigen wie sedierte Zootiere betrachten konnte. Ich verstehe heute nur schwer mein eigenes Verhalten, meine Geduld mit den menschenunwürdigen Verboten. Ich hatte abzuziehen, so wie ein Trottel, nachdem ich meinen Schatz eine halbe Stunde habe sehen dürfen, mit Mundschutz, hinter zwei längs aufgestellten Tischen, eine Gouvernante neben uns.
Als ich die Schmach gar nicht mehr aushielt, schrieb ich einen Brief an den Pflegebeauftragten der Bundesrepublik. Ich ging zum Anwalt. Ich schrieb an die BILD-Zeitung. Ich bat flehentlich um Hilfe. Alles Bitten und Bemühen nützte mir letztendlich nichts.
Jetzt ist er nicht mehr da und ich kann nichts mehr gut machen. Nach einem Jahr, wo hier und da Fehler in der Pandemie eingesehen werden, wo man längst die Isolation der Bewohner in den Heimen während des Lockdowns anprangert, wo offen von einer humanitären Katastrophe in den Altersheimen gesprochen wird, wo von Gefängnissen mit ihren Insassen gesprochen wird, jetzt wird schmerzlich klar, mit welchem Unrecht man es im Lockdown zu tun hatte, wie Recht man gehabt hätte, wäre man vollends auf die Barrikaden gegangen. Wäre zumindest vor Gericht gezogen.
Jetzt wird so schmerzlich klar, dass auch nur ein Gran Verständnis für das Handeln der Verantwortlichen falsch war.
Manchmal neigte man in Anbetracht, des massiven Aufgebotes an Schutzmaßnahmen und Restriktionen dazu, vielleicht Verständnis für die Situation aufzubringen, die ernst zu sein schien. Man neigte für den Bruchteil einer Sekunde dazu zu glauben, das muss jetzt wirklich alles getan werden, um uns vor diesem gefährlichen Virus zu schützen! Man hatte einen solchen Wahnsinn ja noch nie vorher erlebt, eine solche Panik und Angstmache. Man neigte dazu zu glauben, das alles wäre ja vielleicht doch richtig. Das ist jetzt ernst.
Ein fataler Fehler.
Ernst war nur, dass mein Freund am Ende seines Lebens stand und man sein Ende dirigieren wollte, entsprechend der Regeln, die durch die Maßnahmen der Regierung diktiert wurden. Das war eine unaussprechliche Gewalt und Freiheitsberaubung.
Dieser freiheitsberaubende Aktionismus und Eingriff in die Persönlichkeitsrechte in den Heimen ging und geht zu Lasten der Bewohner und ihrer Angehörigen. Kann man das je gutmachen? Wer soll das wieder gutmachen?
Wie Hinterbliebene eines Flugzeugabsturzes stehen die Angehörigen jetzt überall in ihren Zimmern, fassungslos, noch immer voller Wut, vor allem mit Schuldgefühlen, vielleicht nicht das Richtige getan zu haben. Gegen diesen pandemischen Wahnsinn. Das Flugzeug ist nicht wegen technischen Versagens abgestürzt sondern auf Grund eines Anschlages.
Das war ein Anschlag auf die Menschlichkeit.
Noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte hat man Menschen von ihren sterbenden Angehörigen getrennt.
Wer diese unfassbare Grausamkeit erleben musste, wird sie ein Leben lang nicht mehr vergessen. Das ist wie ein einmal geschlagenes Loch in die Seele, aus der unablässig etwas entweicht, das man Vertrauen nennen könnte, Vertrauen in das Leben selbst.
Das hätte niemals geschehen dürfen.
Dass Menschen sich zu dieser unfassbaren Anmaßung erheben durften!
Das war ein unsäglicher Machtmissbrauch.
Das war gegen die Würde des Menschen.
Die Würde des Menschen ist unantastbar?
Ich veröffentliche mein Tagebuch für all jene, die ein Schicksal erleiden mussten, das ich selber trug. Die ihre Liebsten verloren haben unter den Bedingungen der Kontaktsperre während des Lockdowns im Frühjahr 2020 und aller weiteren, in denen sich die Situation von Isolation und Vereinsamung durch die gesteigerten „Schutzmaßnahmen“ ja teilweise noch verschärft hat. Ich bin im Einklang mit meinem lieben Schatz, auch intime Details seiner letzten Stunden der Öffentlichkeit preiszugeben. Ich weiß, dass er sich freuen würde, wenn viele Menschen von seinem Schicksal erfahren, wenn sie sich getröstet und vielleicht auch ermutigt fühlen.
Als Rechtsanwalt war er ein freiheitsliebender Mensch und versuchte stets, der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen. Und gerade als Rechtsanwalt hat er unter der Situation der Freiheitsberaubung durch die Maßnahmen besonders gelitten. Durch seine Demenz konnte er sich nicht mehr dagegen wehren und war der Situation völlig ausgeliefert, deren Beklemmung er jedoch umso mehr wahrnahm. Als dementiell erkrankter Mensch sprach und lebte er so ganz aus seinem Herzen und war auf den Kontakt mit seinen Bezugspersonen, vor allem seiner Partnerin, unbedingt angewiesen, auch auf den physischen Kontakt. Die Situation der Kontaktsperre schnitt ihn rigoros von seinen existentiellen Bedürfnissen ab, war für ihn nur unter Qualen zu ertragen. Die Maßnahmen waren eine psychische und physische Folter. Dazu zeigte das Leben sich immer mehr feindlich, mit Mundschutz und Maske symbolisierte es sinnbildlich die Verweigerung von Kommunikation und Menschlichkeit.
Ich hoffe, ich kann meinem geliebten Freund mit der Veröffentlichung meines Tagebuches gerecht werden. Es ist ein Stück Wahrheitssuche und Zeichen meiner unvergänglichen Liebe. Und auch ein Zeichen meiner Bitte um Vergebung, dass ich nicht mehr habe für ihn tun können. Vor allem verbunden mit dem Wunsch, möge sich eine solche Zeit, ein solch menschliches Desaster niemals wiederholen, für keinen Menschen.
Und doch habe ich Angst, nicht die richtigen Worte gefunden zu haben und das Gefühl, sie verbergen sich noch weit hinter dem Gesagten. Der Schmerz scheint unaussprechbar, das Geschehene nicht zu benennen. Kein Tag vergeht, an dem ich das Vergangene nicht umkreisen muss, an dem es mich weckt und wieder und wieder wachrütteln will.
Vorspruch
Dies ist ein Vorspruch zu meinem Tagebuch, das von den Umständen des Todes meines geliebten Freundes durch den Corona-Lockdown im Frühjahr 2020 im Seniorenheim handelt.
Im März 2020 habe ich ein Tagebuch begonnen, im Plauderton, als die Zeit durch Corona irgendwie brenzlig erschien, eben interessant für jemanden, der schreibt. Als die Zeit sich aber immer mehr unter das Coronavirus duckte und es enger und enger wurde, sodass man auch schreiben musste, wurde mein Tagebuch zur Rettung und Hilfe für mich selbst. Als ich nicht mehr ein noch aus wusste.
Friedrich, ich habe den Namen so gelassen, nicht verändert, weil es nicht anders geht. Ich will ihn nicht verschleiern oder anonymisieren, Friedrich steht für einen Mann, in einer Tradition von großen Namensträgern. Doch das tut nicht zur Sache. Ich will ihn so, mit seinem Namen, schreibend in mir behalten, rächen und rehabilitieren. Als Friedrich. Dem Friedensreich entnommen. Und der Reihe der großen Männer hinzugefügt. Durch sein Schicksal.
Sein Vater wurde von einer Stalinorgel getötet, im 2. Weltkrieg. Im Lazarett besuchte ihn seine schwangere Frau, den kleinen Friedrich im Bauch. Der schwer verwundete Soldat sagte, ihm gehe es schon besser. Nach ein paar Tagen war er tot. Friedrich hat seinen Vater nie gesehen und unter diesem Verlust immer gelitten. Jetzt ist er bei ihm. Sie haben sich viel zu erzählen.
Der Vater ist entsetzt, dass sein Schicksal auch seinen Sohn heimgesucht hat.
Nur war es keine Stalinorgel.
Es war der Lockdown einer ganzen Gesellschaft.
Es war ein anderes Verbrechen an der Menschheit.
Friedrich wurde Rechtsanwalt. Er lebte mit seiner Familie, Frau und zwei Kindern in Saarbrücken und arbeitete über 30 Jahre als Anwalt und Strafverteidiger. Er sagte mir einmal, dass Verbrecher immer entdeckt werden wollen. Unbewusst suchen sie die Verurteilung, sie wollen bestraft werden für das Vergehen, dessen sie sich bewusst sind, um wieder frei und gesellschaftlich rehabilitiert zu sein, sie wollen unbewusst ihre Strafe verbüßen.
Das gilt auch für die Verbrecher von heute, die im Namen der Politik handeln, geschützt durch ihr Amt, befördert und abgesichert durch die Macht.
Ich wünschte, dass auch sie eines Tages wieder in den Spiegel schauen können, weil sie ihre Strafe verbüßt haben und sich zu ihrer Schuld bekannt.
Aber das ist nicht mein erstes Anliegen.
Wir haben uns über eine Anzeige im Tagesspiegel kennengelernt, Friedrich und ich. Ich hatte annonciert. „Frau mit Musik sucht basso continuo.“ Ich bekam einen einzigen Brief. Er war von Friedrich. Er schrieb, er sei Rechtsanwalt, aber seine Tochter spiele die Bratsche in einem Orchester. Ich fand das geschickt, die Musik war damit abgegolten und: mein Interesse auch für die Tochter geweckt. Ich lernte sie kennen, als Friedrich schon im Seniorenheim wohnte. Das war 2016.
Da ich in Mecklenburg lebte und Friedrich in Neukölln, entspann sich zwischen uns zunächst eine fernmündliche Kommunikation per E-Mail. Später wurde es dann mehr, wir sahen uns regelmäßig an den Wochenenden, da ich als Klavierlehrerin in Mecklenburg arbeitete. Wir „pendelten“ sozusagen, Friedrich liebte es, in meinem Haus in Mecklenburg zu sein, besonders zur Obstbaumblüte. Er liebte die Landschaft mit ihren sanften Hügeln, die ihn an das Saarland erinnerte, aber richtig anfreunden konnte er sich mit Mecklenburg nicht.
Warum bekomme ich hier immer eine Depression?, fragte er mich einmal auf der Autofahrt vom Bahnhof Prenzlau in den Ort, in dem ich lebte. Ich sagte, es ist die Armut, die hinter der schönen Landschaft hier überall hervorschaut.
Wohl fühlten wir uns beide, wahrscheinlich, mitten auf der Strecke. Weg von Neukölln für Friedrich. Hin nach Berlin für mich! Wir pendelten im wahrsten Sinne. Mecklenburg hatte für mich auch eine „Vergangenheit“, sie hatte mit Stasi und DDR zu tun. Aber Mecklenburg bedeutete auch unberührte Landschaft und Natur für mich.
Die kleine Neuköllner Wohnung, in der Friedrich seit geraumer Zeit lebte, war für mich ein Eldorado. Ich liebte den etwas abgetragenen Glanz seiner früheren Jahre, der sich in Möbeln, Teppichen und Bildern zeigte. Von fern winkte noch der mondäne Lebensstil des Westlers herüber, in dem ich mich seltsam wohl fühlte. Das Defizit des grauen Ostens in mir, über 40 Jahre eingekerbt, füllte sich ein wenig auf, zumindest in der Illusion.
Friedrich hatte inzwischen einen illustren Lebenslauf aufzuweisen, nach mehreren Trennungen war reichlich biographisches Material angesammelt, es erzählte sich trefflich an langen Abenden mit viel Rotwein und Chips. Aus den diversen und opulenten Filmen des Lebens zogen wir dann, meist mit dem Bus zum Potsdamer Platz ins Kino. Die 41 fuhr durch. Wir mussten es nur bis zur Haltestelle schaffen. Oft hatte ich mein Auto dabei, dann war auch das kein Problem. Friedrich hatte Schwierigkeiten mit dem Gehen, nach einem Unfall mit Knie-OP.
Ich weiß nicht, mit Friedrich habe ich bestimmt hunderte Filme gesehen, wir waren kinematographisch völlig up to date. Zwischen unseren Lebensgeschichten und dem Kino waren die Übergänge oft fließend ― und die Spiel- und Lebensorte manchmal fast zu verwechseln.
Das Leben im Unterwegs war schwierig. Friedrich hatte mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen, der Anwaltsberuf war längst an den Nagel gehängt zugunsten der Träume und Überzeugungen. Das Recht spricht keine Gerechtigkeit, war seine Haltung ― und Erfahrung als Anwalt. Der Träumer und Philosoph in Friedrich wollte nun sein Recht. Sein erster Roman, der 2002 erschien, hieß „Spielkasino Liebe“ und handelte vom Abenteuer Partnersuche. Nun war mir auch klar, warum ich einen so geschickten und geschliffenen Brief erhalten hatte. Da hatte ein „Erfahrener“ geschrieben. Das Buch war ein Erfolg. Der einstige Anwalt habe alles „Juristisch-Bürokratische hinter sich gelassen“, hieß es in den Lettern.
Unser poetisches Interesse traf aufeinander und hob uns beide in eine seltene Glückseligkeit. Nie saß ein Mann so versunken bei mir am Klavier, wenn ich spielte, uns verband viel mehr als die Sehnsucht, aus den Defiziten geboren. Uns verband die Wolke.
Das wollte ich auf seinen Grabstein meißeln: „Nur eine Wolke geatmetes Schweigen im schon gelöschten Augenblick.“ Aus seinem Gedicht „Das Meer“. Es könnte für das Leben stehen. Wie kurz es ist.
Und manchmal wird es verkürzt.
2016 war ein Schicksalsjahr. Friedrich musste nach mehreren psychiatrischen Aufenthalten wegen manischer Depressionen in die Psychiatrie. Er wählte in seiner Not oft die 112. Er war schon bekannt und Stammgast in der Notaufnahme. Er konnte nicht mehr alleine sein. Die Anrufe, die ich bekam, waren flehentlich, während ich im Schloss Torgelow Eliteschüler am Flügel unterrichtete. Es zerriss mir das Herz. Sollte ich meine Arbeit aufgeben? Dass ich hier unterrichten konnte, war ein Glücksfall für mich, wie ihn sich so mancher erträumt. Und es war vor allem als Freiberufler mein Broterwerb.
Ich fuhr, so oft ich konnte, nach Berlin. Friedrich hatte inzwischen eine gerichtlich bestellte Betreuerin. Ambulante Pflege bekam er, seit ich ihn kenne, wegen der Gehbehinderung. Jetzt verfügte die Betreuerin, ihn in einer Demenz-WG unterzubringen. Das war für ihn die Härte. Seine Tochter fand für ihn eine solche WG in Zehlendorf, in der Nähe der Villa, in der sie mit ihrer Familie lebte. Der Aufenthalt war von kurzer Dauer. In so einer kleinen WG trat die Demenz der Bewohner sichtbar in den Vordergrund und wurde lebensbestimmend. Sie erfüllte den Raum und erstickte jeden noch einigermaßen „Normalen“.
Denn so dement war Friedrich nicht, dass man es ihm anmerkte, es betraf lediglich seine Vergesslichkeit und oftmals Orientierungslosigkeit. Es katapultierte ihn dort förmlich hinaus. Die Betreuerin fand ein größeres Heim in Neukölln. Friedrich bezog ein Zimmer mit Blick auf eine kleine Kirche. Am ersten Tag freute sich die Stationsschwester, als ich endlich kam. Sie konnte den großen weinenden Mann gar nicht beruhigen. Er stand in einem leeren Raum mit blauem Linoleum, Das sollte nun sein neues Zuhause werden. Ein Tisch, ein Bett, ein Schrank. Die Glocke der Kirche schlug drei Uhr. Ich umarmte meinen Schatz. Komm, sagte ich, lass uns Kaffee trinken gehen.
In der Cafeteria war Leben. Das Heim machte einen freundlichen Eindruck, es mutete eher wie ein Hotel an ― und so fühlten wir uns auch. Wie in einem Hotel.
Allmählich lebte Friedrich sich ein. Die Versorgung war gut, die Schwestern freundlich. Ich konnte meinen Schatz jederzeit besuchen. Inzwischen hatte ich seine Neuköllner Wohnung ausgeräumt und ein Großteil der Sachen ins Heim geschafft, damit er wirklich ein Zuhause bekam. Jetzt wurde es wohnlicher, die spanische Vitrine, der alte Perser, Bilder und Bücher. Zur Komplettierung unseres gemeinsamen Zuhauses kaufte ich mir bei IKEA einen Schlafsessel, ich durfte zweimal im Monat im Heim übernachten. Das Heim wollte unserer Zweisamkeit damit wohl Rechnung tragen. Man machte mich allerdings darauf aufmerksam, dass es sich hier um reine Kulanz handele, man müsse das nicht.
Ich besuchte Friedrich jede Woche. Sobald mein Klavierunterricht in Mecklenburg beendet war, fuhr ich nach Berlin, meist freitags, wir verbrachten gemeinsam das Wochenende. In Berlin stand mir die Wohnung meiner Freunde aus Irland zur Verfügung. Von Kreuzberg waren es nur drei U-Bahnstationen bis nach Neukölln. Meistens konnte ich bis Dienstag bleiben, so hatten wir meist drei bis vier gemeinsame Tage, die wir oft gemütlich im Heim verbrachten, ins Kino gingen und abends ins Restaurant. Im Sommer ließ es sich in den beiden sehr schön gestalteten Innenhöfen des Heimes gut aushalten, auf schattigen Bänken, mit den Angeboten der Cafeteria und freundlichen Mitmenschen.
Durch Friedrichs Gehbehinderung, die sich zusehends verschlechterte, hielten wir uns meist im Hause auf. Unsere Wege wurden kürzer, oft blieben wir einfach auf seinem Zimmer, waren beieinander, lasen uns gegenseitig vor oder erzählten. Die Zweisamkeit war für Friedrich das Allerwichtigste, einfach, dass ich da war. Die Mahlzeiten nahmen wir gemeinsam ein und durch die Gesellschaft der anderen, gab uns das auch ein Gefühl der Geborgenheit. Wir vermissten nichts, das Leben war freudvoll und entspannt. Der Abschied am Abend war immer schwer, aber ich war ja nur drei Stationen entfernt und komme ja am nächsten Tag wieder. Mit der Freude auf das Wiedersehen ließ sich der Abschiedsschmerz immer überbrücken.
Friedrich litt zunehmend unter seiner Vergesslichkeit. Er konnte Ereignisse nicht mehr erinnern und Verabredungen nicht einhalten. Anrufe wiederholten sich oft nach Minuten, mit demselben Anliegen, derselben Frage. Wichtige Utensilien wie Brille und Zähne waren immer verschwunden. Wir nahmen das Leben, wie es kam. Und für ihn begann das Leben, wenn ich zu ihm kam. Mit ausgebreiteten Armen stürzte er auf mich zu, immer auch zur Freude der Schwestern.
Ach mein Schatz, wenn ich das jetzt so schreibe, bewegt mich nur eine einzige Frage: warum, warum, warum?
Warum hat sich alles so verändert? Mit einem Tag? Wie eine dunkle Wolke, die vor das Leben gezogen war. Wie eine Fratze. Noch heute kann ich das alles nicht verstehen, dass sich das Leben durch eine unsichtbare Macht ändern konnte, die ich als Gewalt empfand. Jetzt steigen die „Fallzahlen“ wieder und ein Lockdown vom Frühjahr könnte sich wiederholen. Wir haben Oktober 2020. Der Virologe Drosten riet dazu, ein Tagebuch zu führen, über die Begegnungen, damit die „Cluster“ nachzuverfolgen sind. Und wir sollen nicht emotional diskutieren, sondern wissenschaftlich.
Sollen wir auch wissenschaftlich leben? Dann hätten auch einige Parameter Beachtung finden müssen, deren die Experten in der Altenpflege habhaft sein sollten. Dass man gerade ältere Menschen nicht einfach isolieren kann und sie nicht auf ihre Bedürftigkeit, Krankheit oder sonstigen Defizite reduzieren. Menschen, die am Ende ihrer Lebens stehen, sollte man die nötige Weisheit und Eigenverantwortung für ihr Leben wohl zubilligen. Vor allem in einer Facheinrichtung für Altenpflege.
Das Wort Tagebuch zündete. Hier ist mein Cluster, Herr Drosten.
Im Sommer war Friedrich oft bei mir auf dem Lande und wenn es zu viel wurde, packte ich ihn in mein Auto und wir fuhren zurück. Bis Fürstenberg Havel, von dort mit dem Zug. Damals konnte er noch immer die Stufen durch den Tunnel schaffen, wenn auch schwer. Dann saß er auf der Bank vor dem Bahnhof, während ich das Auto zum Parkplatz brachte. Noch heute zerreißt mir die leere Bank das Herz, wenn ich sie sehe. Ich machte ihm die Wege kurz, wo immer es ging.
Die Winter haben wir geschickt überbrückt, mit abendlichen Ausflügen ins Rusticana in der Herrmannstraße, wo wir schon Stammgast waren und man uns eine Pizza, schön geschnitten, wie gewünscht auf zwei Tellern servierte. Wir wechselten uns ab, in der Auswahl. Wir aßen uns sozusagen durch die Speisekarte. Du hast 51 Prozent, war einer seiner Lieblingssprüche. Und wo ich dies schreibe, laufen mir die Tränen. Ich hätte gern die 49 Prozent gehabt. Friedrich litt an Demenz und ich hatte die Führung in allem, ach mein Schatz, bei der Pizza war das nur ein schönes Spiel.
Der März war wichtig, wir mussten ihn gesund erreichen. Im letzten Jahr organisierte ich für das erste Märzwochenende eine Show, die Vivid-Show im Friedrichstadtpalast. Das gab Auftrieb, ein gutes Level an Lebensfreude und Optimismus war zu Beginn des Frühlings wichtig. Das war fast überlebenswichtig. Auch in diesem Frühjahr jubilierten wir, die ersten Schneeglöckchen steckten ihre Köpfe aus der Erde, wir haben den Winter überstanden! Und wir freuten uns schon auf den Frühsommer, den Sommer.
Wir freuten uns auf die Obstbaumblüte!
Es sollte ein besonders schöner Sommer werden.
Im Feldberger Garten, 2016
Tagebuch
15. März 2020. Heute war ich in Berlin, um Friedrich im Seniorenheim Haus Rixdorf zu besuchen. Ich hatte am Morgen angerufen und erfuhr, dass die Heime in Berlin seit gestern geschlossen sind. In Fürstenwalde auf dem Bahnhof hatte der Zug 30 Minuten Verspätung und ich googelte: Ab morgen fährt die Bahn ein Notprogramm. Also muss ich heute fahren!! In diesen Zeiten weiß man nicht, was morgen sein wird. Heute werden die Grenzen geschlossen und morgen vielleicht schon der Notstand ausgerufen! Mein Freund durfte kurz vor die Tür kommen.
Freudestrahlend und etwas erkältet kam er mir entgegen. Seine Hose war nicht mehr trocken, ich schickte ihn zurück und bat den Pfleger ihn umzuziehen. Nach einer Weile kam er wieder. Es war kalt, ein kühler Märzwind wehte. Wir drückten uns ein bisschen unauffällig von der Seite. Er wollte wieder rein, es war kein Platz für uns in dieser Welt. Keine Bank, keine Sonne, kein Auto, das uns irgendwo hinfuhr ... Wohin auch, da in Berlin alles geschlossen war. Immerhin haben wir uns gesehen, gedrückt.
Ich fuhr im Regio zwei Stunden in mein Dorf zurück. Ich hatte gelesen, dass die Fahrkarten nicht mehr kontrolliert werden. Als ich mir trotzdem eine kaufte, dachte ich, ich bin wohl ein bisschen besser geworden. Hat die Krise mich besser gemacht? Ich will nicht mehr die kleinen Vorteile des Lebens ausnutzen. Ich dachte, nein, das will ich nicht mehr. Und gerade jetzt nicht! Eine junge Frau saß mir im Zug gegenüber. Als der Schaffner durchkam, rief sie, ich zeig ihnen gleich mein Handy! Nein, brauchen Sie nicht, wir kontrollieren nicht mehr! Ich sagte, wenn ich das gewusst hätte! Der Schaffner lachte. Meine Fahrkarte fühlte sich wohl in meiner Tasche und ich mich auch. Auch die Bahn braucht das Geld, dachte ich, für die vielen, die jetzt nicht zur Arbeit können, weil sie ihre Kinder betreuen müssen. Jemand hustete scharf. Die junge Frau und ich, wir lachten uns spontan an.
Ich zog mein Halstuch vor meinen Mund und sie versteckte sich hinter ihrem Mantel, jetzt konnten wir uns das Lachen gar nicht mehr verkneifen. Wir kamen ins Gespräch. Sie erzählte mir von einem Seminar, das plötzlich abgesagt wurde, und von ihrem Staatsexamen, das wohl nun platzen würde. Und ich erzählte von einem Event, an dem ich teilgenommen hatte, mit 1000 Teilnehmern und das nun dort, wo es weiterhin stattfinden soll, überall abgesagt wird! Ich war gleich am nächsten Tag voller Begeisterung bei meinen Freund im Heim und war jetzt im Zweifel, ob ich mich nicht doch testen lassen sollte.
Fürstenwalde. Die Frau war, als ich ihr eine frohe Weiterfahrt wünschen wollte, hinter ihrem Mantel versteckt.
Auf dem Bahnhof spielte um 18.00 Uhr eine kleine Band mit einer Stepperin. Sie kamen aus Frankreich. Ich fragte sie, ob sie auch zu den Musikern gehören, die sonntags um 18.00 Uhr in den Fenstern spielen. Aus Solidarität. Sie wussten gar nichts davon, aber spielten jetzt gleich noch freudiger. Sie gehörten jetzt auch zu ihnen!
23. März 2020. Ziemlich erschöpft, kraftlos und ratlos. Bin am Wochenende wieder nach Berlin gefahren, um Friedrich zu besuchen. Es war der Tag, an dem eine Ausgangssperre beschlossen werden sollte, oder nicht. Ich hatte Panik. Ich dachte, vielleicht komme ich ja nicht mehr nach Berlin, oder auch nicht mehr zurück! Ich wusste nicht, was wird, und auch nicht, was ich denken sollte. Ich fuhr los, nachdem ich wahllos einiges zusammengepackt hatte, vor allem die Süßigkeiten für Friedrich, getrocknete Aprikosen und Rittersport. Die Straßen waren menschenleer und auch autoleer, ich fuhr über Hassleben und Gerswalde, ich hörte Autoradio, die neuesten Corona-Meldungen. Bleiben Sie zu Hause! Hunderte Tote in Spanien. In den Niederlanden hatte man auf Handy eine Warnung verschickt, auf alle Handys des Landes: Bleibt zu Hause!
Ich kam mir wie ein Verbrecher vor, wie ein Verräter, ein Ungehorsamer!
Vor der Abfahrt Pfingstberg drehte ich um. Ich fuhr in den Wald, ich musste pinkeln. Gerade dort, wo ich einigermaßen parken konnte, kam eine Wanderin. Scheiße, fluchte ich sie innerlich an, was musst Du jetzt gerade hier sein, geh doch nach Hause! Ich rief Friedrich an und erzählte ihm meine Seelenqual wegen der ganzen Coronascheiße, dass man wohl eigentlich nicht mehr außer Landes darf und dass mir schon die Knie zittern und ich nicht weiterfahren kann, dass ich jetzt zurückfahre nach Hause und dass ich ihn dann gleich anrufe.
Er akzeptierte natürlich meine Entscheidung, obwohl die Enttäuschung, dass wir uns dann heute nicht sehen würden durch jedes seiner Worte klang. Ich fuhr langsam durch die einsamen Wälder auf den stillen Straßen zurück. Nach jeder Kurve ging es mir schlechter. Mir war flau im Magen, ich würde jetzt einfach zurückfahren, aus Angst, aus einer diffusen Angst heraus, und wie würde ich mich dann erst zu Hause fühlen.
Dann kam die Bundesstraße mit der Kreuzung, wo noch einmal eine Entscheidung möglich war. Noch einmal kamen die Nachrichten durchs Radio, ich drehte sofort aus. Ich riss das Steuer herum, in Richtung Berlin. Ich jagte, meist in der Mitte der Straße. Kein Auto kam mir entgegen. Die Wälder von Wandlitz. Oh welch ein herrlicher Frühlingstag im Krieg.
Irgendwann bog ich auf die Autobahn. Nun gab es kein Zurück mehr. Nun war ich endlich in Gemeinschaft, im Sog der anderen Verbrecher oder Mutigen. Auch andere hatten sich aufgemacht! Mein Herz schlug ruhiger, jetzt war alles entschieden, mein Inneres bereitete sich auf Berlin vor. Ich kam gut durch die Stadt, die Straßen waren wenig befahren, nur in Kreuzberg war meine Straßeneinfahrt gesperrt. Die Unsicherheit kam wieder. Ein Zeichen?
Jetzt musste ich noch bis Neukölln. Alles war unsicher, aber gleich sah ich S-Bahnhof Hermannstraße, Neubritzer Tor, ich bog in die Delbrückstraße. Vor dem Heim war zum Glück viel Platz zum Parken. Der Eingang war mit Verbotsschildern zugeklebt. Ich rief die Station 4 an und bat, Friedrich herunterzuschicken. Der Herr von der Rezeption kam mir kopfschüttelnd entgegen. Hier darf keiner rein! Ich weiß, ich weiß. Friedrich kam mit seinem Rollator. Er konnte gar nicht begreifen, dass ich nicht herein konnte. Da standen wir beide hinter Glas und machten Faxen. Ich mit meinen weißen Einweghandschuhen. Ich gab mein Tütchen mit der Schokolade hinein und gelbe Forsythien, die ich unterwegs gepflückt hatte. Dann durfte ich abziehen.
Nun war ich zum zweiten Mal diese lange Strecke gefahren, um Friedrich zu sehen, und fand diese schlimmen Umstände vor, wir sahen uns diesmal nur hinter Glas. Und ganz kurz. Er konnte das alles gar nicht begreifen und wurde wieder weggeführt. Ich war so fassungslos und wie gelähmt. Ich war völlig erschöpft nach der Reise. Und noch erschöpfter, ihn dort zurückzulassen.
Jeden Tag überschlagen sich die Nachrichten, die Welt ist in atemloser Corona-Panik. Von vielen Toten in den Krankenhäusern hört man, Millionen von Schutzmasken verschwinden. Jugendliche spucken alte Menschen auf der Straße an und rufen „Corona“. Der brasilianische Präsident spricht von einer „leichten Grippe“ und in den Slums ist das Virus ausgebrochen. In einem Würzburger Altenheim gab es mehrere Tote unter den Bewohnern und 23 Infizierte unter den Pflegern. Ich darf an all das gar nicht denken.