Uri, vor einigen Tagen hast Du auf Facebook einen Appell abgesetzt. Du beschreibst darin die herrschenden Zustände in Deiner Heimat Israel und es liest sich verheerend. In Deinem Text schreibst Du unter anderem, dass Mitmenschen von Dir, denen Du geholfen hattest als sie Studenten waren, Deine Hilfe als Übersetzer brauchten, Menschen die Du aus dem Alltag kennst, Dir jetzt, feindlich gesinnt, gegenüber stehen, weil Du Dich für Palästinenser und ihr Recht nach Rückkehr, ihrem Recht auf Heimat, auf Gleichberechtigung, stark machst. Du schreibst von einer Vergiftung die große Teile der israelischen Bevölkerung ergriffen hat. Was für ein Gift ist das?
Es ist das Gift des Hasses, des Rassismus. Keine speziell israelische Erfindung, uralt und auf der ganzen Welt verbreitet, auch heute. Der eindrücklichste filmische Ausdruck dieser Vergiftung ist für mich „La lengua de las mariposas“ aus dem Jahr 1999. Es ist wichtig, sich immer wieder vor Augen zu halten, dass jede und jeder von diesem Gift geheilt werden kann.
Wer behandelt die israelische Bevölkerung mit diesem Gift?
Da ist in erster Front die israelische Regierung. Aber diese Regierung handelt natürlich im Namen derer, die sie schicken, bzw. für die sie arbeiten. Eine der Widersprüche des Kapitalismus ist die Tatsache, dass dieses System, dessen vordergründige Ideologie ein liberale ist, den Rassismus für seine Zwecke benutzt. Die Regierung arbeitet also im Namen dieses Systems. Aber die Regierung schickt selber auch Helfer auf die Straße, bzw. ins Internet usw., die das zum Teil bezahlt, zum Teil freiwillig machen. „Freiwillig“ ist ein sehr breiter Begriff, denn ein Journalist weiß natürlich, was er am besten „freiwillig“ zu schreiben hat, wenn er seine Arbeit behalten will.
In welchen Dosen und wie wird dieses Gift verabreicht?
Die Dosierung und die spezifische Mischung hat sich in den siebzig Jahren des Staates Israel sehr geändert. Viele sehnen sich zurück in das Israel der fünfziger oder sechziger Jahre, aber das Gift war damals ein subtileres und in geringeren Dosen. Ich glaube, es genügte einfach damals eine kleinere Dosis. Heute braucht man eine größere Dosis, weil das Verbrechen einfach viel zu offen zu sehen ist.
Es wird schon seit Jahren diskutiert, hier bei uns, ob wir uns noch – vergleichsweise – in den Jahren der Weimarer Republik befinden, oder 1933 schon überschritten haben.
Ich habe prinzipiell kein Problem mit solchen Vergleichen, aber ich glaube, so eine Darstellung ist ein wenig zu schematisch und einfach. Die Faschisierung geht hier einen anderen Weg als in Deutschland, und einen anderen Weg als in Italien, oder Spanien usw. Aber je schwieriger es ist, das System aufrecht zu erhalten, desto aggressiver wird es, und die spezifische Mischung des Giftes wird gefährlicherer.
Zum zweiten Teil der Frage: Wir haben dazu hier natürlich zuerst einmal das Erziehungssystem. Kürzlich machte im Internet die Runde eines israelischen Fötus, der schon im Bauch der Mutter in Uniform steckt. Das hat natürlich eine Sturmwelle der Empörung hervorgerufen, aber Tatsache ist, dass die Kinder schon im Kindergarten auf das Militär vorbereitet werden.
Außerdem haben wir das israelische Gesetz, das zwar den Anschein gibt, demokratischen Prinzipien zu folgen, aber de facto ein durch und durch rassistisches Gesetzessystem ist. In den letzten Jahren wird auch ganz offen die Verkleidung der Demokratie abgeworfen. Danach kommen die Instanzen der Kultur, die verschiedenen Künste, der Sport usw. Hier ist ein bisschen komplizierter, weil hier vor allem die Komponente „Orient“ eine wichtige Rolle spielt, und da ein Großteil der Israelis, die als „Herrenvolk“ klassifiziert sind (also mit dem Judenstempel), „orientalische Juden“ sind, ist das komplizierter.
Du bist als Israeli mit jüdischer Abstammung, gemessen an der Situation der arabischen Israelis, bzw. der staatenlosen Palästinensern, durchaus privilegiert. Trotzdem spürst aber auch Du immer mehr Repressionen, weil Du zu einer, dem Staat gegenüber, kritischen Gruppe von Menschen gehörst. Was für ein Verhalten braucht man in Israel eigentlich um als braver Staatsbürger zu gelten?
Ja, Du hast diese Frage formuliert, bevor ich die vorige beantwortet habe, aber es ist, wie wenn Du darauf reagierst. Schön! Tatsächlich gehöre ich zu dem Teil der Bevölkerung, den ich vorhin als „Herrenvolk“ definiert habe. Aber ich gehöre zu der kleinen Minderheit innerhalb dieser Gruppe, die sich vom Zionismus scheiden ließen. Das war nicht so einfach, ich musste in diesem Scheidungsprozess auf alles verzichten.
Theoretisch besitze ich immer noch die Privilegien des „Herrenvolkes“, und die ruhigeren Teile des Establishments setzen alles darauf, uns diese Privilegien zu belassen.
Warum? Weil dies die zionistische Ideologie vorschreibt, und weil nur so das „divide et impera“ funktioniert. Aber es gibt weniger ruhige Teile, die weniger politisches Kalkül an den Tag legen, und diese Teile machen mir persönlich, physisch, Angst.
Es wird oft vergessen, dass auch israelische Juden von ihrem Staat unterdrückt werden. Es läuft nicht so offen und brutal wie gegenüber den Palästinenser, aber alleine die militärische Indoktrination die schon im Kindergarten beginnt ist im Kern Gewalt und dem freien Wesen der Menschen feindlich gesinnt. Es gibt viele jüdische Intellektuelle die sich offensiv mit diesen faschistischen Methoden auseinander gesetzt hatten. Von Theodor Adorno über Arno Gruen bis zu Hannah Arendt und Viktor Frankl. Wenn Israel sich zum jüdischen Staat schlechthin stilisiert und ein sicherer Hafen für alle Menschen dieser Konfession sein will, warum vergisst man dann auf diese großen jüdischen Denker und schlimmer noch, entehrt ihr Werk, indem der Staat so handelt wie er es gerade macht?
Hannah Arendt war nach dem Eichmann-Prozess ganz offiziell eine „persona non grata“. Eine entfernte Verwandte von mir ist die Tochter von Arndts Cousin, und Hannah Arndt kam 1967 oder 1968 inkognito nach Israel für einen Familienbesuch. Sie musste das heimlich machen. Heute ist es natürlich noch viel schlimmer. Du kannst vielleicht nicht mehr in Israel einreisen, kommt drauf an, was Du jemals in Deinem Leben unterschrieben hast. (Und der Mossad weiß alles, auch wenn Du Dich selber nicht daran erinnerst!) Der „sichere Hafen“ gehört zu diesem Gift. Tatsache ist, dass es heute kein Land auf der Welt gibt, wo es gefährlicher ist für Juden, als Juden, als in Israel. Und zwar nicht, weil wir Juden sind, sondern weil zum „Herrenvolk“ privilegiert wurden.
Die Privilegien zeigen sich ja auch deutlich in der Berichterstattung. Besonders einseitig war diese in Deutschland wo die letzten Demonstrationen in Gaza als ein Aufmarsch der Hamas stilisiert und die exzessive Gewalt der israelischen Armee als eine Form der Selbstverteidigung dargestellt wurden. Man muss sich die Zahlen einfach mal vor Augen führen, 60 Todesopfer aber über 2700 Verletzte zum größten Teil durch Schusswaffen. Wie hast Du die Demonstrationen wahr genommen und was ist aus Deiner Wahrnehmung heraus passiert?
Ich muss zugeben, dass mich das alles zutiefst deprimiert. Es ist ein Blutbad, ein unbeschreibliches Gemetzel, die Menschen werden wie Freiwild einfach niedergeschossen. Es ist so schrecklich, dass die meisten, die dagegen sind, gar nicht mehr vom Inhalt dieser Demonstrationen sprechen. Und dabei ist das Wichtigste zu betonen: Es geht nicht nur darum, dieses Blutbad zu stoppen, und es geht nicht nur um die Aufhebung der nun schon mehr als zehn Jahre langen Belagerung, die den Gazastreifen mit einer Fläche von 360 km2, das heißt weniger als das Stadtgebiet von Wien, zu einem Ghetto gemacht hat, nein, diese Demonstrationen haben das Ziel, das Recht der Rückkehr, das die Uno in ihrer Resolution 194 verbürgt hat, endlich zu erhalten. Und das vergessen die Meisten, auch diejenigen, die gegen das Massaker sind.
Die PalästinenserInnen haben ein Recht aus die Rückkehr in das Land, das seit 1949 „Israel“ heißt, und die Umsetzung dieses Rechtes bedeutet für uns Israelis keine Katastrophe. Im Gegenteil, solange dieses Recht nicht anerkannt ist, geht die Katastrophe weiter.
Der schon erwähnte Text von Dir ist in erster Linie auch ein Hilferuf. Du sprichst, schreibst und liest in hebräisch, englisch, französisch, arabisch und deutsch. Den Text hast Du in deutsch gehalten. Warum?
Na ja, ich schreibe dann und wann wiedermal auf deutsch. Solche Dinge schreibe ich gerne auf deutsch, weil sie an die Welt ausserhalb von Israel gerichtet sind. Bei Gelegenheit übersetze ich es auf englisch und französisch.
Was wünscht Du Dir von Deinen Mitmenschen aus dem Rest der Welt?
Das sollte eigentlich aus dem letzten Satz deutlich sein. Vordergründig tönt es wie eine Unterstützung der BDS-Kampagne. Allerdings sage ich immer wieder:
Ihr solltet Euch vor allem überlegen, wen ihr unterstützen wollt, und nicht, wen ihr boykottieren wollt.
Das hat einerseits mit „positivem Denken“ zu tun, und andererseits damit, dass ich Eure Unterstützung brauche. Ich bin Kulturschaffender. Wenn Ihr einfach alles boykottiert hier, dann habt ihr uns damit nicht geholfen. In meinem Buch „Nemashim“ habe ich Folgendes ausgerechnet:
„Mit dem Geld, das für einen einzigen Apache-Kampfhubschrauber ausgegeben wird, könnte unser Projekt mehr als 1500 Jahre lang finanziert werden, bzw. achtzig solche Projekte 20 Jahre lang. Das macht in 20 Jahren 10000 [hebräische und arabische] Jugendliche, die für ein Jahr in einer gemeinsamen Wohnung wohnen und mit Hunderttausenden Theater und andere Gemeindearbeit machen könnten. Ein einziger Apache-Kampfhubschrauber!"
Eure Regierungen investieren in den Krieg hier Unmengen von Steuergeldern, die Ihr bezahlt. Eure Regierungen haben ein Interesse, weil sie genauso wie unsere Regierung Handlanger Anderer sind, dass der Krieg hier weitergeht. Das ist aber nicht in Eurem Interesse. Ihr müsst dann die Millionen Flüchtlinge aufnehmen, die diese Kriege erzeugen. Es ist in Eurem Interesse, die Kräfte zu unterstützen, die die Flammen löschen wollen, die hierbleiben wollen und hier in einer lebenswürdigen Gesellschaft leben wollen.
Das Problem der Solidarität zu Menschen wie Dir, aber auch zu den Palästinensern zeigt sich ja auch schon innerhalb der deutschsprachigen Linken. Nach wie vor schmiegt man sich eher an die rechte bis rechtsextreme israelische Regierung anstatt sich mit kritischen linken Israelis oder dem Palästinensern allgemein zu solidarisieren. Vielleicht kannst Du hier nochmal die Lage allgemein beschreiben um für etwas Beistand und Motivation zu sorgen?
Der deutschsprachigen Linken geht es ähnlich schlecht, wie der israelischen.
Marx und Engels schrieben 1848: Es geht ein Gespenst um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. Seit 1914 ist es das Gespenst des Verrates – und diesmal nicht ironisch.
Dieser Verrat hat die dritte Internationale zur Welt gebracht, für alle jene, die nicht am Verrat teilnehmen wollten. Inzwischen, hundert Jahre später, nähern sich die deutschsprachigen Erben dieser dritten Internationale, was das Problem Palästina angeht, wiedermal dem Verrat, wie Gregor Gysi, ein waschechter Zionist. Ich glaube, ganz im allgemeinen, ist die Linke auf der Welt in einer sehr schlechten Lage. Wir dachten nach 1991: Na endlich, jetzt können wir den Sozialismus aufbauen. Aber wir haben uns geirrt. Der Kapitalismus hat noch nicht ausgespielt. Wir müssen ausharren und die letzte Bastion von Menschlichkeit halten, bis es endlich so weit ist.