Robert Habeck ist sauer. Die Abkehr von der 35er-Inzidenz „war politisch begründet, nicht virologisch“, gab der Grünen-Chef bei Maybrit Illner zum Besten. Die Beschlüsse vom Mittwoch, 3. März 2021, würden sich „bitter rächen.“ Was Habeck als unverantwortlich bezeichnet, könnte man auch schlicht Demokratie nennen. Virologen nämlich wurden von den Bürgerinnen und Bürgern nicht gewählt, Politiker schon — selbst wenn man über den Mehrheitsgeschmack streiten kann. Hört man dem grünen Menschenfischer derzeit zu, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, er sei aus der gleichen Klon-Vorlage hervorgegangen, die uns auch Karl Lauterbach beschert hat. Fordern Laschet, Spahn oder Söder einen langen Lockdown, so protestiert Habeck heftig — allerdings nur, weil er einen noch längeren will.
„Wir sind am Beginn einer dritten Welle und reden über Öffnungen, statt Dinge umzusetzen — zu impfen, zu testen“, sagte er im Interview mit Deutschlandfunk. Der einzige Einwand von Interviewer Philipp May: Die Politik rede sonst doch auch nicht gerade wenig über das Impfen und Testen. Darauf Habeck:
„Aber sie macht es nicht. Sie redet darüber. Vielleicht ist das das Problem, dass sie darüber redet, statt die Dinge mal einfach umzusetzen.“
Die Bundesregierung wolle „es allen recht machen“. Gemeint ist wohl, sie versuche den Lockerungsbefürwortern ein bisschen entgegenzukommen. Wäre der Grünen-Chef an der Macht, würde er es wohl nur einer gesellschaftlichen Gruppe recht machen wollen: den stählernen Lockerungs-Gegnern. Und das um buchstäblich jeden Preis — einen Preis, den vor allem Einzelhändler, Tourismusindustrie und Kulturschaffende zu zahlen hätten, die — ohnehin schon angeschossen — mit einer weiteren Verlängerung nun ihrem finalen Todesschuss entgegensehen.
Das ratlose Wahlvolk
Der Grünen-Chef, der sich anfangs durch subtile philosophische Betrachtungen einen Namen gemacht hatte, scheint zum Sacrificium Intellectus — zum Opfer des Verstandes — wild entschlossen zu sein und argumentiert entschieden unterkomplex. Warum uns seine weder originellen noch sehr weitsichtigen Äußerungen überhaupt kümmern müssen? Nun, an den Olivgrünen, die in Baden-Württemberg am 14. März wieder einmal einen triumphalen Sieg eingefahren hatten, führt derzeit kein Weg vorbei. Schwarz-Grün, Grün-Schwarz, Grün-Rot-Gelb oder — unwahrscheinlicher — Grün-Rot-Rot lauten die Optionen für Corona-Deutschland. Am Wahlsonntag wurden die Weichen von einem wieder einmal ratlos und verzagt agierenden Wahlvolk wohl endgültig in diese Richtung gestellt.
Die Deutschen — zumindest die des Südens und Westens — scheinen nicht lernfähig, wählen die, die sie immer wählen, und liefern sich ihnen auf Gedeih und Verderb aus. Wer sich aufgrund längerfristiger politischer Grundüberzeugungen trotz einiger kritischer Äußerungen zu Corona nicht mit FDP und AfD anfreunden kann und in der Linken nicht ohne Grund eher das Gegenteil einer Alternative sieht, für den bleibt nur: Mainstream oder Wahlenthaltung. In der Tat ist das Absinken der Wahlbeteiligung von etwa 70 Prozent auf 63 beziehungsweise 64 Prozent ausgerechnet im Corona-Jahr bemerkenswert. Auch der Absturz der Union bei den Wahlen war sicher „coronabedingt“.
Die Menschen stören sich zwar nicht daran, in ihre Wohnungen eingesperrt und ihrer Existenzgrundlage beraubt zu werden oder wie Anziehpuppen des Staates eine Maske verpasst zu bekommen — aber das lange Ausbleiben von Impfungen, nach denen sie sich zutiefst sehnen, sowie Amigo-Geschäfte mit Masken nehmen sie der Union übel.
Sollte die neue Partei „Die Basis“ also bis zum Herbst nicht stärker ins öffentliche Bewusstsein treten, dürften die Grünen durchmarschieren.
Die „Guten“ als Rammböcke für Negativ-Reformen
Schlimmer als jetzt kann es kaum werden, argumentieren Corona-Skeptiker. Und ein bisschen mehr Ökologie schadet ja nichts. Na, warten Sie’s ab. Einige der schlimmsten Entscheidungen der letzten Jahrzehnte wurden von den Guten getroffen. Etwa die Einführung von Hartz IV 2002 und der Wiedereintritt Nachkriegsdeutschlands in das Kriegsgeschehen beim Kosovo-Einsatz 1999.
Denken wir auch an Griechenland und den desaströsen Verrat des „linken“ Ministerpräsidenten Tsipras an seinen Wählern. Will man jede Alternative in der Politik ein für alle Mal ausknocken, werden gern diejenigen vorgeschickt, die zuvor ein progressives, linkes oder freiheitliches Programm zu verkörpern schienen — oder zumindest atmosphärisch Coolness und Aufbruch zu verkörpern verstanden. Als Alternative zu diesen „Alternativen“ bleiben dann nur Konservative, die nach einem Regierungswechsel die menschenfeindlichen Entscheidungen ihrer linken Amtsvorgänger weitertragen. Für den Bürger bleibt schwärzeste Verzweiflung, Aussichtslosigkeit, innere politische Emigration.
Der Unterschied zwischen der Wahl 2021 und jener, die erstmals „Rot-Grün“ an die Macht verhalf, besteht jedoch darin, dass wir jetzt ziemlich genau wissen, was auf uns zukommt. Verraten kann man im Grunde nur eine Weltanschauung, die man überhaupt erst einmal glaubwürdig zu vertreten wusste.
Die Grünen allerdings haben sich mit ihrer Kriegs- und neoliberalen Wirtschaftspolitik und mit ihrer fast regierungsidentischen Corona-Politik von vornherein auf ein so niedriges Niveau begeben, dass aufmerksamen Beobachtern wenigstens eines erspart bleiben könnte: Enttäuschung.
Opposition bedeutet für heutige Grüne, Regierungserweiterung zu sein. Erstaunlich ist dabei, dass die Grünenführung und deren frühere Erzfeindin Jutta Ditfurth nunmehr ein Herz und eine Seele sind — vereint in Impfsehnsucht und Querdenker-Bashing.
Partielle Freiheit gnadenhalber
Welche Corona-Politik ist von den Grünen zu erwarten? Sie sind zwar noch nicht bundesweit an der Macht, aber ein Strategiepapier, ausgearbeitet von Robert Habeck und Janosch Dahmen, gibt einen Vorgeschmack. Da ist mehr Freiheit zunächst der Aufhänger. Die Verfasser spüren die Lockdown-Müdigkeit der Menschen und werfen ihnen ein Zuckerl hin. „Wenn Beschränkungen keinen Beitrag mehr zur Eindämmung der Infektion leisten, dürfen sie nicht aufrechterhalten werden.“
Worauf die Vorschläge des Duos dann aber hinauslaufen, ist eine portionsweise gewährte Freiheit gnadenhalber, für die die Bürgerinnen und Bürger einen bitteren Preis zahlen müssten. Endgültig haben sich die Grünen damit nicht nur vom Naturrechtsbegriff verabschiedet — also von der Annahme, dass bestimmte Rechte allen Menschen von Natur aus zukommen —, sondern auch von der Grundrechtsauffassung des Grundgesetzes.
Es gebe Alternativen zum Lockdown, so die Autoren des Papiers. Jedoch müssten die „Voraussetzungen für die Alternativen“ geschaffen werden. „Ohne diese Voraussetzungen sind in der jetzigen Phase der Pandemie breit angelegte Öffnungen falsch.“ Ganz klar sagen Habeck und Dahmen also, dass ihnen die jetzigen Lockerungen — Öffnungen der Friseurgeschäfte und Baumärkte zum Beispiel — bereits zu weit gehen. Gefordert wird unter anderem ein intensiveres Fahnden nach Mutationen. Und: „Wir müssen mehr und schneller impfen.“
Auffällig ist in dem Papier, dass sich die Grünen ganz einem technokratischen und schulmedizinisch-materialistischen Geist verschrieben haben. Das Image von der Hippie-, Heilpraktiker- und Sozialpädagogen-Partei, die auf allen Feldern eine starke Affinität zu alternativen Konzepten besitzt — also auch zum Beispiel zu alternativen Heilmethoden — ist passé.
Die herbeigetestete Katastrophe
Habeck und Dahmen fordern ferner, die Bundesregierung solle eine Kommunikationskampagne starten, die klar mache, „dass die verfügbaren Impfstoffe sicher, wirkungsvoll und das einzig verfügbare Mittel sind, die Pandemie um Jahre zu verkürzen“. Keinesfalls also soll die Sicherheit und Wirksamkeit der Impfmittel infrage gestellt und überprüft werden; vielmehr soll noch zögernden Bürgerinnen und Bürgern kampagnenartig klar gemacht werden, dass diese Sicherheit und Wirksamkeit besteht.
Es ist die übliche Politiker-Arroganz: Dass wir alles richtig machen, ist klar — wir müssen es dem dummen Bürger nur einfach noch besser erklären. Wie unverantwortlich diese Haltung ist, zeigt der nächste Satz in dem Strategiepapier: „Wer eine Impfung mit AstraZeneca ablehnt, verliert den Impftermin und muss sich dann wieder hintenanstellen.“ Selbst Jens Spahn hat mittlerweile bemerkt, dass sich bei Impfungen mit AstraZeneca-Wirkstoffen beispielsweise schwere Thrombosen zeigten, und hat das Präparat deshalb aus dem Verkehr gezogen.
Eine weitere Säule grüner Gesundheitspolitik sind „PCR-Tests, Schnelltests und Selbsttests“. Der Regierung wird geraten, „durch Abnahmegarantien solche Tests in großen Mengen produzieren zu lassen“. Eine Begünstigung für die Hersteller also, die es sonst fast nirgends in der Wirtschaft gibt. Falls mehr Tests produziert als überhaupt nachgefragt werden sollten, muss der Staat — sprich der Steuerzahler — die Verdienstausfälle der Test-Produzenten tragen. Ziel müsse sein, „dass sich absehbar für die Dauer der Pandemie alle BürgerInnen mindestens zweimal in der Woche testen können“.
Obwohl hiermit nicht gesagt ist, dass die Menschen sich zweimal wöchentlich testen lassen müssen, stoßen die Grünen mit diesem Satz das Tor zu einer verschärften Gängelungshölle auf. Denn erstens könnte in Schulen, Kitas, Altenheimen und Betrieben durchaus so viel Druck aufgebaut werden, dass faktisch mehrmals pro Woche „durchgetestet“ wird; zweitens bedeuten mehr Tests natürlich auch mehr falsch positive Test und höhere Inzidenzzahlen, mehr Angst und Hysterie, eine endlose Verlängerung des psychischen Elends.
Ein Land der verschlossenen Türen
Die Idee dahinter ist wohl: Sehr viel Freiheit ist möglich — unter der Voraussetzung, dass die Menschen sich andauerndem Test-Stress aussetzen und natürlich dass die Tests negativ ausfallen. Des Weiteren soll die gescheiterte Warn-App upgedatet werden. Die Gesundheitsämter sollen „das System SORMAS“ nutzen. Die Grünen sprechen sich damit dezidiert für den Ausbau der Überwachung des jeweiligen Aufenthaltsorts aller Bürger aus. Sie fordern weiter, im Inland zu verfahren wie an der Staatsgrenze.
„Was bei den Grenzübergängen schon Praxis ist, kann dann eine differenzierte Öffnungsstrategie ergänzen.“
Allein dies ist eine krude Idee und ein Anschlag auf das Grundrecht auf Freizügigkeit. Denn Grenzen und Flughäfen sind in der Regel Hochsicherheitstrakte, wo die Menschen den Kontroll- und Selektionsbemühungen von Amtsträgern hilflos ausgeliefert sind, wo sie durchgewunken oder abgewiesen werden können wie von Türstehern am Eingang einer Diskothek.
„Wer ein negatives Testergebnis nachweisen kann, kann bestimmte Tätigkeiten wieder aufnehmen; Veranstaltungen, Besuche, Eintritt können wieder möglich sein.“
Wir gehen also einem Freiheitsparadies für Auserwählte — Testwillige und Negativgetestete — entgegen, dem eine Verbotshölle für den unwilligen oder — tatsächlich oder vermeintlich — nicht gesunden Rest gegenübersteht. Für Letztere wird sich Deutschland in ein Land der verschlossenen Türen verwandeln.
Das brüsk unser Nasenloch penetrierende Wattestäbchen wird von einer Ausnahmesituation im Krankheitsfall zum absoluten Alltag für sehr viele Menschen werden. Da tröstet es wenig, dass die Grünen diesen erzwungenen Vorgang für Geringverdiener kostenfrei gestalten wollen. Und natürlich:
„Im Zusammenspiel mit der Ausweitung von Tests ist auch eine faire Lösung für den Einsatz eines digitalen Impfnachweises möglich. Digitale Nachweise eines aktuellen Negativtests, der Nachweis von aktueller Immunität durch überstandene Krankheit (aktueller Antikörpertiter) und Impfungen sind dann gleichzustellen.“
Vom Grundrecht zum Privileg
Was bis vor kurzem noch schiere, vom Grundgesetz garantierte Selbstverständlichkeit war, soll nun zum Privileg dreier Gruppen werden: Geimpfte, Menschen, die eine Covid-19-Infektion nachweislich überstanden haben, und Menschen mit einem in engem Rhythmus aufzufrischenden Negativ-Test. Als neue Hygiene-Unterschicht verbleiben freiheitsliebende, gut informierte und kritische Menschen. Menschen, die eine angesichts der neueren Entwicklungen — AstaZeneca — ja nicht gerade absurd zu nennende Skepsis gegenüber Impfungen an den Tag legen.
Diskriminiert werden sollen sogar Menschen, die — vielleicht wegen eines guten Immunsystems und wirksamer Gesundheitsvorsorge — nie krank geworden sind, die noch keinen Impftermin bekommen haben und denen die andauernde Testerei lästig ist. Nicht zu vergessen natürlich: Die Grünen sind die Guten, denn:
„Damit wird eine rechtliche Ungleichbehandlung von Geimpften und Nichtgeimpften vermieden.“
Wer künftig am gesellschaftlichen Leben teilhaben will, dem zeigen die Grünen einen Ausweg aus dem Impfzwang: ein Leben des andauernd bedingten Zutritts, in dem Testen fast mit der gleichen Frequenz erfolgt wie Zähneputzen.
Die Grünen nennen diese Strategie „inklusiv“, als sprächen sie über Zugangsrampen für Rollstuhlfahrer und nicht über den dauerhaften Entzug von Rechten für politisch Unbequeme. „Der Staat ist in der Pflicht, die Voraussetzungen zu schaffen, damit die Rechte nicht länger als unbedingt erforderlich eingeschränkt werden.“ Das Problem an diesem gut klingenden Satz ist jedoch: Die Grünen haben in den vergangenen 13 Monaten aufs Deutlichste gezeigt, dass sie die Einschränkung sehr vieler Rechte für „unbedingt erforderlich“ halten.
Die Sagrotan-Gesellschaft
Die grüne neue Welt, die hier entworfen wird, setzt eine Tendenz fort, die schon im ersten Lockdown feststellbar war: Am gemütlichsten war es im Grunde, als noch fast alles verboten war und man zu Hause geblieben ist, unterbrochen nur durch einsame Spaziergänge. Selbst ohne Masken konnte man anfangs noch einkaufen gehen — heute eine nostalgische Erinnerung.
Dann kamen „Freiheiten“, und mit ihnen wurde das Leben beschwerlich und zermürbend: Buchhandlungen, vor denen in herausfordernder Weise Sagrotan-Sprüher platziert waren; Restaurantbesuche, bei denen man am Eingang und bei Klogängen Masken tragen musste, bei Tisch jedoch nicht; Cafés, in denen man für eine Tasse grünen Tees wegen der „Nachverfolgbarkeit“ seine Adresse zu hinterlassen hatte; Friseurbesuche mit Zwangshaarwäsche; Aufenthalte in gemieteten Urlaubsdomizilen voller Regelkataloge, bei denen man auf den leeren Gängen zwischen Schlafzimmer und Frühstücksraum Maske tragen musste …
Die neuen, von den Grünen entworfenen Regelungen würden dieses Konzept der eingehegten Freiheit nahtlos fortsetzen. Sie würden eine Welt erschaffen, in der fast alles wieder möglich ist, nichts jedoch, ohne sich einem noch dichteren Netz aus Gängelung und Drangsalierung auszusetzen. Eine Welt, in der man an buchstäblich an jeder Ecke darauf gestoßen wird, dass Corona regiert, dass die Situation ungeheuer schwierig und furchteinflößend ist, dass man sich selbst in der kleinsten Alltagsverrichtung zu benehmen hat, wie die Obrigkeit es befiehlt — und keineswegs, wie man selbst es wünscht. Es mutet fast sadistisch an, wie die Politik versucht, unseren Alltag mit immer mehr Instrumenten der Überwachung und Verhaltenssteuerung zu durchdringen. Es ist vor allem eines: totalitär.
Die elektronische Lepra-Glocke
Zu den eben genannten Beschwerlichkeiten käme dann noch verschärfter Druck, abzielend auf die Anwendung einer upgedateten Corona-App, die einen beständig warnt, man habe sich soeben einem Infizierten auf zwei Schritte genähert und sei in höchster Gefahr. Quasi hätte man damit einen elektronischen Karl Lauterbach immer in der eigenen Hosentasche mit dabei. Es käme ein ständiger De-facto-Testzwang hinzu — immer auch verbunden mit der Angst vor Krankheit und Quarantäne — oder vor einer Quarantäne ganz ohne Krankheit.
Es träte eine Gewöhnung ein an den digitalen Impfausweis, der, wenn man Glück hätte, ein großer Lebensermöglicher wäre — wenn man Pech hätte, eine Art elektronische Lepra-Glocke, mit der Kranke im Mittelalter ihr Kommen schon von Weitem ankündigen mussten, um den Gesunden rechtzeitiges angeekeltes Zurückweichen zu ermöglichen.
Wird es nun so kommen, dass sich die Buchhändlerin — zusätzlich zur geforderten Sagrotan- und Maskenbenutzung — am Eingang bedrohlich mit einem Wattestäbchen meinem Nasenloch nähern wird? Wahrscheinlicher erscheint ein Ausweisscanner vor der Tür zu jedem Laden, der den Impf- und Teststatus sofort anzeigen und mit einem grünen oder roten Lämpchen signalisieren könnte, ob Einlass gewährt wird. Für Ungeimpfte und Ungetestete hieße es dann wie für Hunde: „Wir müssen draußen bleiben.“
Zukunftsprojekt „Innerdeutsche Visumspflicht“
Wie die neue grüne „Freiheit“ aussehen könnten, zeigt ein Pilotprojekt in Tübingen. Ausgerechnet der grüne Bürgermeister Boris Palmer, bisher ja eher für gemäßigt kritische Äußerungen zu Corona bekannt, will sich an die Spitze der Gängler setzen.
Diese Nachricht ist eigentlich selbst für hartgesottene Beobachter des Corona-Geschehens kaum zu fassen: Laut dem Webmagazin Heidelberg 24 „kündigte die Stadt nun einen drastischen, aber wohl effektiven Schritt an, denn wer künftig aus einem anderen Landkreis mit einer höheren 7-Tage-Inzidenz zum Einkaufen nach Tübingen fährt, muss einen negativen Schnelltest parat haben“. Mit einem Test können Virusfreie dann ein „Corona-Visum“ erwerben und unbehelligt in Tübingen einkaufen. Die anderen gelten wohl als Schwarz-Einkäufer. Erwischt man einen Ungetesteten in der Innenstadt, drohen saftige Strafen.
Eine Visumspflicht gab es bisher nur für das Betreten ausländischer Staaten — und auch dort war sie eher eine Spezialität von Ländern, die es mit den Freiheitsrechten nicht so genau nahmen. Vorangetrieben wird auf diese Weise die Parzellierung und Spaltung des Landes. Es ist ein Tabubruch — wenn auch nicht der erste dieser Art — in Richtung Hygiene-Kleinstaaterei. Stets muss sich der Bürger dessen bewusst sein, aus welchem Landkreis er kommt und welchen Corona-Status dieser hat — hohe oder niedrige Inzidenzwerte, grüne, gelbe oder rote Ampel.
Ferner muss ihm klar sein, welchen Landkreis er zu betreten beabsichtigt und welche Sondervorschriften dort gelten. Menschen und Regionen werden auf diese Weise einander entfremdet, Bürgerinnen und Bürger sehen sich auf Schritt und Tritt in der Pflicht, ihr Nichterkranktsein gegenüber den Staatsorganen nachzuweisen. Stets schwebt die Gefahr des Bestraftwerdens über den Bürgern, selbst bei den alltäglichsten und harmlosesten Vorgängen. Der Staat inszeniert sich wohl durchaus bewusst als Angst-Popanz, der jederzeit — auch unerwartet — rächend auf seine undisziplinierten Untertanen herabfahren kann. Eine Kultur des Generalverdachts schleicht sich ein — vorangetrieben auch hier ausgerechnet von einem Grünen-Politiker.
Politisch korrekte Gefängniswärter
Damit kein Missverständnis entsteht: All das ist nicht allein die Schuld der Grünen. Es steht im Einklang mit einer sich überschlagenden technikgetriebenen Entwicklung hin zum Überwachungstotalitarismus, der sich alle Parteien willig ergeben. Auf manchen Politikfeldern wäre ein Wechsel von Union und SPD zu den Grünen sicher zu begrüßen, auf anderen verbessert sich allenfalls das Aussehen der ProtagonistInnen.
Was Corona betrifft, so würden die Grünen wohl später „lockern“ als zum Beispiel Armin Laschet. Zu traumatisierend waren für erstere die negativen Erfahrungen mit „zu spätem Reagieren“, mit halbherzigen „Lockdowns light“ und mit der Apertio Praecox, der übereilten Öffnung. Mit den Grünen gäbe es entweder den ewigen Lockdown-Winter oder Öffnungen mit stärkerem Impfdruck, verbesserter Überwachungssoftware und dichter getakteten Tests. Wären diese Voraussetzungen gegeben, könnte bei den Grünen sogar mehr erlaubt sein als bei der Union. Massen-Kuschelparty, ja, aber Schnelltest am Eingang sowie jedes Mal, wenn man auf der Toilette war und den Veranstaltungsraum wieder betritt.
Eine Regierung unter Beteiligung der Grünen, das liefe auf einen neoliberal und bellizistisch unterfütterten Gesundheits-, Tugend- und Hygiene-Totalitarismus hinaus — jedoch ohne Ausländerfeindlichkeit. Als die Grünen vor 8 Jahren wöchentlich einen Veggie-Day in Betriebskantinen einführen wollten, war das Echo vernichtend. Politische Konkurrenz und Medien warfen den Wohlmeinenden vor, eine Verbotspartei zu sein. Bei den Wahlen wurden sie abgestraft. Die so Gescholtenen ruderten reumütig zurück. Heute wäre unter den Grünen zwar der ungetrübte Genuss von Fleisch aus Qualtierhaltung vermutlich erlaubt, verboten wäre dagegen fast alles andere. Times they are a-changin‘.
Die Neigung der Grünen, besondere Rücksicht auf Minderheiten zu nehmen und gegenüber Flüchtlingen eher eine Willkommenskultur zu favorisieren, halte ich noch immer für eine ihrer starken Seiten. All das verschwimmt aber im Kontext des neuen Gesundheitsautoritarismus bis zur Unkenntlichkeit. Beraubt eine Partei alle Menschen im Land ihrer Rechte, trifft dies Flüchtlinge und andere Minderheiten natürlich ebenso. Beide Seiten — Migranten und zur Xenophobie neigende Deutsche — werden sich künftig weniger in die Haare kriegen. Aber nur, weil die Regierung sie allesamt in ihren Wohnungen einsperren oder aus allen Freizeiteinrichtungen aussperren wird.
Mit den Grünen wäre das Land ein Gefängnis mit einer Extra-Toilette für das dritte Geschlecht — aber es wäre ein Gefängnis.
Ein kleines Worst-of grüner Politik
Ich möchte hier aber nicht den Eindruck erwecken, die Grünen hätten sich urplötzlich zu ihrem Nachteil verändert oder ihr Versagen in der Coronakrise sei ein Ausnahmefall. Eher fügen sich die Puzzlestückchen in jüngster Zeit zu einem Gesamtbild zusammen. Hierzu noch einige Beispiel:
Annalena Baerbock macht schon lange Stimmung gegen eine deutsch-russische Gaspipeline Nord Stream 2 durch die Ostsee. „Die Bundesregierung macht sich zum Steigbügelhalter des autokratischen Präsidenten Putin“, sagte sie.
Steigbügelhalter? Ist es nicht normal und wünschenswert, mit Nachbarn Wirtschaftsverträge zum gegenseitigen Nutzen auszuhandeln? Hilft das nicht auch dem Frieden? Und welchem Reiter hilft Baerbock selbst aufs Pferd mit ihrer Nibelungentreue gegenüber US-amerikanischen Vereinnahmungsversuchen? Wie ist es eigentlich um die viel beschworene Überlegenheit des „freien Westens“ gegenüber den Sowjet-Nachfolgern bestellt — in einer Zeit, in der es in Russland teilweise freizügiger zugeht als in Deutschland?
Im August 2020 strichen die Grünen die Forderung nach bundesweiten Volksentscheiden kurzerhand aus ihrem Grundsatzprogramm. Lange Zeit wurde diese politische Idee pro forma aufrechterhalten. Die Grünen haben mit diesem Akt ihre Verachtung für die Bevölkerung unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Das Thema ging aber in dem allgemeinen Corona-Geklingel unter. Die Wählerinnen und Wähler dürften diesen Schlag ins Gesicht durch reichlichen Zuspruch honorieren.
Kretschmann — der brandstiftende Biedermann
Winfried Kretschmann stellte sich an die Spitze einer Kampagne gegen die Anti-Maßnahmen-Demonstrationen. Er sah „immer mehr Querverbindungen zum Rechtsextremismus und zum Rechtsradikalismus“ und geißelte Verstöße gegen Abstandsregeln und Maskenpflicht durch die Protestierenden. Auch wenn man anderer Meinung sei — sich an die Regeln zu halten gehöre „zum Wesen des Gesetzesgehorsams.“
Interessant ist an diesem Statement, dass Kretschmann offen ausspricht, was normalerweise von Politikern verschleiert wird. Es geht um Gehorsam. Gesetze und Vorschriften des Staates müssen nicht etwa nur wegen ihres berückenden intellektuellen und humanen Inhalts beachtet werden, sondern einfach, weil es der Staat war, der sie verhängt hat. Damit ist Machtausübung auf den einfachsten Nenner gebracht: Befehl ist Befehl.
Kretschmann was es auch, der Anfang März im Dialog mit einigen Studierenden in Heidelberg Depressionskranke verhöhnte und ihr Leid als Bagatelle abtat:
„Vergleichen Sie Ihre Situation mit der anderer Menschen. Dann werden Sie sehen, dass es keinen Grund dafür gibt, depressiv zu werden.“
Diese Äußerung ist typisch für die Augen-zu-und-durch-Mentalität vieler Corona-Politiker. Während schon völlig symptomlose Covid-19-Infektionen von den Medien zu einer Staatsaffäre aufgebläht werden, wird Menschen, die ganz real mit schweren psychischen Symptomen zu kämpfen haben, beschieden, für ihre Krankheit gebe es „keinen Grund“. Sie litten also quasi zu Unrecht und sollten sich nicht so haben, denn es gebe immer Menschen, denen es noch schlechter geht. Wie unter einem Brennglas verdeutlicht dieser Vorgang die Mentalität der heutigen Politikergeneration.
Klimaschonend töten
Vielleicht der absurdeste Vorstoß der Grünen in jüngerer Zeit betrifft die Militärpolitik: Die Grünen fordern eine klimaverträgliche Armee. Ja, Sie haben richtig gelesen. Laut einem Antrag der Grünen-Fraktion vom Juli 2020 will die Partei den „Beitrag der Bundeswehr gegen die Klimakrise stärken — CO2-Ausstoß der Streitkräfte deutlich reduzieren und konsequent erfassen“.
Neben anderen Maßnahmen zur CO2-Begrenzung fordern die Grünen, „Waffen- und Munitionstests nicht in oder in der Nähe sensibler und klimarelevanter Ökosysteme durchzuführen“. Wollen die Öko-Neoliberalen — sensibel wie sie sind — bei der Vorbereitung zur Tötung von Menschen etwa noch die Brutplätze des Kiebitz schützen? Dieser Plan der Grünen könnte sogar aufgehen. Aber nur, wenn sie es schaffen, besonders viele und furchtbare Kriege mitzuverantworten. In diesem Fall könnten die Schäden durch Naturzerstörung, Explosionen und Rauchentwicklung aufgewogen werden durch die CO2-Einsparung, die sich aus der Vernichtung von Menschenleben ergäbe.
Denn am Ende sind nur Tote klimaneutral, und das Militär sorgt dafür, dass es an diesen niemals mangelt.
Das ganze Schauspiel ist so abstoßend und widersinnig, dass es schwerfällt, angesichts dessen nicht in Sarkasmus zu verfallen. Leider ist eine Regierungsbeteiligung der Grünen derzeit alles andere als eine ferne Dystopie. Die Partei zeigt mit Habeck und Baerbock jetzt ein attraktives Gesicht. Die Leiden der Depressiven aber, der Suizidalen, der in den Ruin Getriebenen und tausendfach Gegängelten und Gedemütigten — sie sind ihr Bildnis des Dorian Gray. Dieses lästige Gemälde, das immer die ungeschönte Wahrheit anzeigt, steht derzeit noch im Keller, unter einem Vorhang medialer Ignoranz versteckt. Irgendwann aber wird es zum Vorschein kommen …