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Giftgas in Syrien

Giftgas in Syrien

Anschuldigungen, Gegenargumente und Interessen.

Die „Unabhängige Internationale Untersuchungskommission Syrische Arabische Republik“ legte am 6. September 2017 einen Bericht über den Einsatz von Giftgas in der syrischen Stadt Khan Scheichun am 4. April 2017 vor. In den frühen Morgenstunden waren damals mehr als 80 Personen durch freigesetztes Giftgas getötet und rund 300 verletzt worden.

Noch am gleichen Tag hatte die „Unabhängige Untersuchungskommission Syrien“ gefordert, den Vorfall zu untersuchen, doch dazu kam es nicht. Stattdessen wurde am 7. April die syrische Luftwaffenbasis Shayrat (bei Homs) von US-Cruise-Missiles bombardiert. Angeblich sei der Chemiewaffenangriff von dort gestartet worden, hieß es. Eine Einladung der syrischen Regierung, sowohl die Basis als auch Khan Scheichun zu besuchen, wurde nicht umgesetzt. Die UNO – bzw. einzelne UN-Mitgliedsstaaten – hatten Sicherheitsbedenken geäußert. Khan Scheichun wird von der Nusra Front und anderen Islamisten kontrolliert.

Fünf Monate später nun macht die „Unabhängige Untersuchungskommission Syrien“ die syrische Luftwaffe verantwortlich, das Giftgas eingesetzt zu haben. Man sehe „glaubhafte Anhaltspunkte dafür, dass die syrischen Streitkräfte Chan Scheichun am 4. April gegen 06.45 Uhr mit einer Sarin-Bombe angegriffen haben.“ Ein Suchoi-Jagdbomber, den nur die syrische Luftwaffe fliege, habe vier Mal angegriffen. Auf Fotos sei eine chemische Bombe russischer Herstellung identifiziert worden.

Die syrische Regierung wies den Bericht zurück und wiederholte, man werde nie Giftgas gegen die eigene Bevölkerung einsetzen und habe es nie getan. Syrien habe seine Chemiewaffenbestände der UNO übergeben und deren Vernichtung zugestimmt. Es habe diese Waffen nicht und betrachte ihren Einsatz als „moralisches Verbrechen“, das verurteilt werden müsse.

Die syrische UN-Vertretung in Genf wandte sich schriftlich an den UN-Menschenrechtsrat und warf der „Unabhängigen Untersuchungskommission Syrien“ vor, „unprofessionell und voreingenommen“ gegen Syrien zu sein. Sie überschreite ihre Kompetenzen, denn das Thema Chemiewaffen liege in der Verantwortung der UN-Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW). Die Kommission beeinträchtige mit ihrem politisierten und einseitigen Verhalten den Versöhnungsprozess in Syrien und schade Ansehen und Glaubwürdigkeit des Menschenrechtsrates. Es fehle an Richtlinien, die verhindern könnten, dass einige Staaten den UN-Menschenrechtsrat für ihre eigenen politischen Ziele einspannen könnten.

Moskau wiederholte seine Forderung nach einer „professionellen, unvoreingenommenen und entpolitisierten Untersuchung“ des Giftgaseinsatzes in Khan Scheichun und an anderen Orten in Syrien, wo Giftgas zum Einsatz kam. Das Mindeste sei, dass OPCW-Inspektoren sowohl die syrische Luftwaffenbasis Shayrat (bei Homs) als auch Khan Scheichun besuchen sollten. Ein damals von den „Weißhelmen“ verbreitetes Video, in dem Kinder gezeigt wurden, die vermutlich an Sarin gestorben waren, wurde von der UN-Kommission nicht als Beweis analysiert. Die Fotos waren von der UN-Botschafterin im UN-Sicherheitsrat Niki Haley unmittelbar nach dem Vorfall in Khan Scheichun als Beweis für die Grausamkeit der syrischen Regierung gezeigt worden. US-Präsident Trump hatte erklärt, aufgrund der Bilder den Angriff auf die syrische Militärbasis angeordnet zu haben.

Anschuldigungen, Gegenargumente und Interessen

In einem ausführlichen Artikel von Anfang Mai 2017 zeigte die langjährige Korrespondentin und Analystin für den Mittleren Osten, Michael Jansen in der Jordan Times diejenigen Fakten auf, die bis dahin bekannt waren.

Stichwortgeber hinter den Schuldzuweisungen an die syrische Regierung waren demnach zunächst die „Weißhelme“, eine von europäischen Staaten aufgebaute und finanzierte Zivilschutzorganisation in den Gebieten der bewaffneten Opposition v.a. in Aleppo und Idlib. Sie waren in Khan Scheichun und verbreiteten am frühen Morgen des 4. April Bilder und Videoaufnahmen von Opfern. Ihre Anschuldigungen wurden vom französischen Außenministerium und der US-Organisation Human Rights Watch aufgegriffen, andere Regierungen des Bündnisses der „Freunde Syriens“ folgten. Sarin oder eine sarinähnliche Substanz sei gefunden worden hieß es. Die „Proben“ waren demnach von Regierungsgegnern in Khan Sheikhoun gesammelt und in einem „unabhängigen“ Labor in der Türkei untersucht worden.

Anfang Mai folgte ein sechsseitiger Bericht französischer Geheimdienste, der auf nicht genannten Quellen basierte. Demnach stamme das gefundene Sarin oder die sarinähnliche Substanz aus geheimen Waffendepots der syrischen Regierung und sei „typisch für die Methode, die in syrischen Labors entwickelt“ worden sei, so der französische Außenminister Jean-Marc Ayrault. Die Proben seien mit Proben vorheriger Angriffe (Sarakeb 2013) verglichen worden und trügen die „Unterschrift des Regimes“. Mangels eigener Untersuchungen konnte die UNO den Bericht nicht bestätigen.

Warum Frankreich sich auf einen Vergleich von Proben aus Khan Scheichun (2017) und Sarakeb (2013) bezog, nicht aber einen Vergleich mit den Proben des Giftgaseinsatzes im August 2013 im Umland von Damaskus (Ghouta) oder mit den später von der UNO zerstörten Chemiewaffenbeständen vornahm, blieb unklar. Nach Angaben der syrischen Regierung lagen 2013, bevor die Chemiewaffen abtransportiert wurden, ein Drittel der Depots in Gebieten unter Kontrolle der bewaffneten Aufständischen.

Wissenschaftler des Massachusetts Institute of Technology (MIT) hatten bereits die internationalen Schuldzuweisungen an die syrische Regierungsarmee für den Chemiewaffeneinsatz in der Ghouta (August 2013) in Frage gestellt und darauf hingewiesen, dass das untersuchende UN-Team mit großer Wahrscheinlichkeit mit Außenstehenden kommuniziert habe. In dem MIT-Bericht werden u.a. der CIA-Mann Charles Duelfer genannt, stellvertretender UNSCOM-Leiter im Irak 2002/03 und 2003/04 Leiter der CIA-Suche nach den irakischen „Massenvernichtungswaffen“. Auch David Kaye, ehemaliger Leiter der UN-Waffeninspektoren im Irak sei kontaktiert worden. Der Chemiewaffeneinsatz in der Ghouta von Damaskus wurde in vielen Berichten und Analysen als „Operation unter falscher Flagge“ bezeichnet. So bezeichnet man verdeckte Operationen, die von Militär und/oder Geheimdiensten durchgeführte werden, um einer unbeteiligten Seite – z.B. einer Regierung, die gestürzt werden soll – zu schaden.

Für eine „Operation unter falscher Flagge“ spricht, dass der damalige US-Präsident Barack Obama einen im September 2013 angekündigten und bereits vorbereiteten Angriff auf Syrien stoppte. Stattdessen stimmte die USA einer von Russland vermittelten Vereinbarung mit Damaskus zu, das Genfer Protokoll zum Verbot von Chemiewaffen zu unterzeichnen. Die Waffen wurden zur Zerstörung abtransportiert.

Im Dezember 2015 sagte der türkische Abgeordnete Eren Erdem gegenüber dem ehemaligen CIA-Offizier Ray McGovern, der türkische Geheimdienst MIT sei in den Transport von Sarin an Aufständische in Syrien verwickelt. Als Beweis legte Erdem Gerichtsakten vor. In dem Verfahren waren 13 Personen festgenommen, aber schon nach kurzer Zeit wieder freigelassen worden. Das Verfahren wurde eingestellt. Der US-Journalist Seymour Hersh schrieb wiederholt über Chemiewaffen in Syrien und zitierte u.a. US-Geheimdienstler mit der Aussage, die USA habe gewusst, dass die Nusra Front Sarin herstellen und in großen Mengen produzieren könne. In den deutschen öffentlich-rechtlichen Leitmedien von Funk, Fernsehen und Print blieben diese Hinweise wenig beachtet und wurden und werden als „Verschwörungstheorien“ abgetan.

Die Tatsache, dass Syrien das Genfer Protokoll unterzeichnet und seine Chemiewaffenbestände – auch in Deutschland – vernichtet wurden, scheint unerheblich und wird häufig sogar als unglaubwürdig dargestellt. Das bedeutet, gleichzeitig die OPCW, die das Verfahren begleitet und verifiziert hat, für unglaubwürdig zu erklären. Die Anschuldigungen gegen die syrische Regierung und Präsident Bashar al-Assad, in Syrien Giftgas einzusetzen, halten dagegen bis heute an. Vieles deutet darauf hin, dass sie weitere Kriegshandlungen gegen Syrien vorbereiten und rechtfertigen sollen.

Der angekündigte Krieg

Der Vorwurf gegen ein Land, Chemiewaffen zu besitzen, zu produzieren und einzusetzen, war bereits in den 1990iger Jahre gegen den Irak vorgebracht worden. Tatsächlich hatten die USA in den 1980iger Jahren den Irak mit Nervengas ausgerüstet, das während des achtjährigen Krieges gegen den Iran und Kurden im irakisch-iranischen Grenzgebiet (Halabja) eingesetzt worden war. Nach der Kuwaitinvasion 1990 und dem 1991 folgenden, von den USA angeführten Krieg zur Befreiung Kuwaits (Operation Wüstensturm) wurden die irakischen Waffenprogramme unter UNO-Aufsicht zerstört. Der Vorwurf, weiterhin Massenvernichtungswaffen zu besitzen und zu produzieren, wurde aufrechterhalten und führte 2003 zum völkerrechtswidrigen wiederum von den USA angeführten Krieg gegen Irak. Der endete mit der Zerstörung des Landes, Massenvernichtungswaffen wurden dort nie gefunden.

Die Ereignisse und Berichterstattung um angebliche Chemiewaffeneinsätze der syrischen Regierung in Syrien folgen einem ähnlichen Muster. Obwohl Syrien erwiesenermaßen seine Chemiewaffenbestände der UNO übergeben und vernichtet hat, hält sich der Vorwurf, Syrien verfüge über geheime Lager und Produktionsstätten.

Im Mai 2017 berichtete die BBC unter Berufung auf einen nicht näher bezeichneten „westlichen Geheimdienst“, Syrien unterhalte drei militärische Forschungseinrichtungen, in denen Chemiewaffen produziert würden. Chemische und biologische Munition würden in den drei Anlagen vermutlich mit Wissen Russlands und des Iran produziert: in Barzeh und Dummar bei Damaskus und bei Masyaf (Provinz Hama). Satellitenaufnahmen zeigten die angeblichen Anlagen. Der „westliche Geheimdienst“ behauptet, in zwei der drei Einrichtungen würden Langstreckenraketen und Artillerie mit chemischen Waffen ausgerüstet. Nach Angaben der OPCW handelt es sich um Niederlassungen von staatlichen Forschungszentren, in denen UN-Inspektoren im Februar und März 2017 Proben genommen haben. Ergebnisse sind bisher nicht bekannt.

Die Behauptungen des „westlichen Geheimdienstes“ gehen mit großer Wahrscheinlichkeit auf Quellen in Israel zurück. Ein angeblich hochrangiger israelischer Geheimdienstoffizier hatte bereits kurz nach dem Chemiewaffenangriff in Khan Scheichun im April behauptet, Syrien halte „drei Tonnen“ chemischer Waffen versteckt. Israelische Medien zitierten den Offizier anonym, weil das den militärischen Gepflogenheiten des israelischen Militärs entspreche. Am 6. April, zwei Tage nach dem Ereignis in Khan Scheichun und einen Tag vor dem US-Angriff hatte der israelische Außenminister Avigdor Lieberman erklärt, der syrische Präsident Assad habe mit „100-prozentiger Sicherheit“ den Chemiewaffenangriff auf Khan Scheichun angeordnet und geplant.

Meldungen in israelischen Medien über angebliche Waffenfabriken des Irans in Syrien machten kurz darauf die Runde. Die zusätzlich verbreiteten Satellitenbilder entsprachen denen, die bereits früher von den Forschungseinrichtungen bei Damaskus und Masyaf verbreitet worden waren. Am 7. September war es dann so weit. In den frühen Morgenstunden feuerten israelische Kampfjets aus dem libanesischen Luftraum Raketen auf die Einrichtung bei Masyaf. Das syrische Generalkommando bestätigte den Angriff, bei dem zwei Armeeangehörige getötet wurden und Sachschaden entstanden sei. Israel habe mit dem Angriff nicht zum ersten Mal die terroristischen Gruppen in Syrien unterstützt, so die syrische Armeeführung.

Nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters, die sich wiederum auf die „Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ (England) bezog, soll ein Munitionsdepot zerstört worden sein, in dem auch chemische Waffen gelagert worden sein könnten. In dem Lager seien häufig iranische und Soldaten der libanesischen Hisbollah gesehen worden. Andere Medien übernahmen die Darstellung und schon bald hieß es: „Israel bombardiert mutmaßliche Chemiewaffen-Fabrik in Syrien“ (Süddeutsche Zeitung, 7.9.2017). Eine offizielle Erklärung von israelischer Seite blieb wie gewohnt aus.

Erklärungen wurden anderen Stellen überlassen. Der Direktor des Instituts für Nationale Sicherheitsstudien in Tel Aviv, Amos Yadlin erklärte, die israelischen Raketen hätten eine Fabrik zerstört, die „die chemischen Waffen und Fassbomben produziert (habe), die Tausende syrische Zivilisten getötet“ hätten. Und Andrew J. Tabler vom Washington Institut for Near East Policy sagte, die Tatsache, dass in der Anlage iranische und Soldaten der Hisbollah gesehen worden seien, bedeute, dass diese Zugang zu den chemischen Waffen hätten. Der israelische Außenminister Avigdor Lieberman erklärte, Israel sei „entschlossen, dem Einfluss des Iran in der Region alles entgegenzusetzen.“ Man werde „alles tun“, um einen „schiitischen Korridor von Teheran nach Damaskus“ zu verhindern.

Einen Tag vor dem israelischen Angriff hatte die Jerusalem Post einen Meinungsartikel von Eric R. Mandel veröffentlicht. Israel müsse die USA auf einen Krieg gegen Syrien, Hisbollah und Iran vorbereiten, schrieb Mandel, der in der israelischen Lobbyeinrichtung MEPIN arbeitet, dem „Politischen Informationsnetzwerk Mittlerer Osten“. Eine ständige Präsenz des Iran und der Hisbollah in Syrien sei eine Gefahr „für Israel, Amerika und den Westen“, so Mandel. „Unter iranischer Kontrolle“ habe die Hisbollah „terroristische Stellvertreter im ganzen Mittleren Osten und in Südamerika“ (aufgebaut), die neue Dominanz des Iran untergrabe „amerikanische nationale Sicherheitsinteressen in der Region“ und fordere Israel heraus. Die Beauftragten der Trump-Administration für den israelisch-palästinensischen Friedensprozess müssten die Suche nach einer Konfliktlösung aufgeben und sich dem „wirklichen Spiel im Mittleren Osten zuwenden. Der Iran kontrolliert Syrien, das kann die gesamte Region in Brand setzen.“


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