Gewolltes Chaos
von Jonathan Cook
Roberts Fisks Bericht über Duma macht die Vorwände für die Luftangriffe auf Syrien zunichte
Es scheint, als übersähen viele, die die Luftangriffe auf Syrien am Wochenende befürworten, die Bedeutung des gestrigen Berichts von Robert Fisk aus Duma, dem Ort des angeblichen Giftgaseinsatzes von letzter Woche.
Fisk war der erste westliche Reporter am Ort des Geschehens und der erste, der mit den Menschen dort sprach. Einer von ihnen ist ein Oberarzt, der die Opfer dessen behandelte, was ein Video als Chemiewaffeneinsatz der syrischen Regierung ausgab. Dieser Vorfall wurde als Rechtfertigung für die Luftangriffe benutzt, die gemeinsam von den USA, Großbritannien und Frankreich durchgeführt wurden.
Der Arzt sagt, das Video sei echt, es zeige jedoch nicht die Folgen eines Angriffes mit Chemiewaffen, sondern etwas anderes. Der Arzt äußerte sich im Bericht wie folgt:
„Ich hielt mich in dieser Nacht mit meiner Familie im Untergeschoss meines Hauses auf, etwa 300 Meter von hier entfernt, aber alle Ärzte wissen, was geschehen ist. Es wurde viel geschossen [durch Regierungstruppen], und nachts flog immer die Luftwaffe über Duma – aber in dieser Nacht wehte der Wind große Staubwolken in die Untergeschosse und Keller, in denen Menschen lebten. Nach und nach kamen Menschen hier an, die an Hypoxie, also Sauerstoffmangel litten. Dann rief jemand – ein Weißhelm – an der Tür: ‚Gas!‘, und eine Panik brach aus. Die Menschen begannen, einander mit Wasser zu übergießen. Ja, das Video wurde hier gefilmt, es war echt, aber was man darin sieht, sind Menschen, die an Sauerstoffmangel und nicht an einer Gasvergiftung leiden.“
Auf meinen Social-Media-Seiten gibt es jede Menge Maulhelden, die erbost die Wichtigkeit dieses Berichtes leugnen und dies damit begründen, dass entweder der Arzt sich die Geschichte ausgedacht habe oder Fisk wohl ein Sprachrohr des Assad-Regimes sei – wenn nicht gar beides zutreffe.
Dies ist aus eigentlich ganz offensichtlichen Gründen nicht schlüssig – und wird es sogar selbst dann nicht sein, wenn sich die Zeugenaussage später als unwahr erweist.
Die Luftangriffe auf Syrien am Wochenende waren schlicht und einfach völkerrechtswidrig. Dies wäre selbst dann der Fall, wenn es einen Giftgasangriff in Duma gegeben hätte – zum Teil auch deswegen, weil unabhängige Ermittler erst hätten herausfinden müssen, ob die syrische Regierung und nicht die Dschihadisten vor Ort für den Angriff verantwortlich gewesen sind.
Die Luftangriffe wären auch dann illegal gewesen, wenn man beweisen hätte können, dass es einen Chemiewaffenangriff gegeben und Assad persönlich ihn angeordnet hatte. Der Grund dafür ist, dass ein Luftangriff erst durch den UN-Sicherheitsrat bewilligt werden muss. Dafür gibt es ja das Völkerecht: Es regelt die Angelegenheiten zwischen Staaten, um einerseits einen Militarismus der Marke „der Stärkere hat Recht“ zu verhindern, der Europa vor 80 Jahren beinahe zerstört hätte, und andererseits, um unnötige Konfrontationen zwischen den Staaten zu vermeiden, die im nuklearen Zeitalter katastrophale Auswirkungen haben könnten.
Hätte man beweisen können, dass Assad schuldig ist, wäre Russland unter enormen internationalen Druck geraten, Maßnahmen gegen Syrien zu genehmigen – ein Druck, dem standzuhalten Russland sehr schwer gefallen wäre.
Wenn es diesem Druck jedoch widerstanden hätte, hätten wir mit seinem Veto im Sicherheitsrat leben müssen. Und aus gutem Grund! Israel, die USA und Großbritannien haben im Mittleren Osten Munition aus angereichertem Uran eingesetzt, und Israel und die USA benutzten weißen Phosphor. Wer von uns würde es jedoch als gerechtfertigt ansehen, wenn Russland oder China nun einseitig Vergeltungsschläge gegen Fort Detrick (USA), Porton Down (GB) oder Nes Ziona (Israel) ausführten und diese Aktion damit rechtfertigten, dass die USA und Großbritannien im Sicherheitsrat gegen jegliche Schritte gegen sie selbst oder ihre Verbündeten ein Veto einlegen würden? Wer würde kriegerische Angriffe gegen diese souveränen Staaten als „humanitäre Intervention“ verteidigen wollen?
Dies ist jedoch alles gar nicht wichtig, weil die angeblich so unanfechtbaren Informationen über den Chemiewaffeneinsatz letzte Woche – in deren Besitz die USA, Großbritannien und Frankreich zu sein behaupten – in etwa so vertrauenswürdig sind wie die Behauptungen über die irakischen Massenvernichtungswaffen im Jahr 2002.
Fisk muss gar nicht beweisen, dass seine Darstellung auf jeden Fall wahr ist – genauso wenig wie ein Angeklagter auf der Anklagebank seine Unschuld beweisen muss. Er muss nur nachweisen, dass er genau und ehrlich berichtet hat und dass die Zeugenaussage, die er wiedergab, plausibel war und übereinstimmte mit dem, was er selbst wahrnahm. Fisks Vorgeschichte und auch dieser Bericht geben keinen Anlass, daran zu zweifeln.
Fisks Bericht zeigt, dass es eine höchst glaubwürdige alternative Erklärung dafür gibt, was in Duma geschehen ist – eine Erklärung, der man nachgehen muss. Das bedeutet aber auch, dass kein Angriff hätte stattfinden dürfen, bevor die Inspekteure ermittelt und ihre Ergebnisse bekannt gegeben hatten.
Stattdessen kamen die USA, Großbritannien und Frankreich den Inspekteuren mit Luftangriffen zuvor – nur Stunden, bevor die UN-Inspekteure ihre Arbeit in Syrien beginnen sollten. Zum Zeitpunkt der Luftangriffe hatten die Aggressor-Staaten weder eine juristische noch eine auf Beweisen beruhende Rechtfertigung für ihr Handeln. Sie hatten sich einfach auf die Berichte von Gruppen wie den Weißhelmen verlassen, die ein Eigeninteresse am Sturz der syrischen Regierung haben.
Wie wir nun ohne jeden Zweifel wissen, haben unsere politischen Führungskräfte über den Irak und Libyen gelogen. Manche von uns warnen schon längere Zeit, dass wir höchst skeptisch sein sollten bei allem, was unsere Regierungen uns über Syrien erzählen, bevor es nicht von unabhängigen Beweisen bestätigt wurde.
Wir alle haben eine moralische Verpflichtung, endlich damit aufzuhören, einfach alles zu glauben, was unsere Regierungen und die Propagandisten in den Konzernmedien uns erzählen – sei es nun aus einem reflexartigen, obrigkeitshörigen Impuls heraus, oder sei es, weil wir der romantischen aber wirklichkeitsfremden Vorstellung nachhängen, dass unsere Oberhäupter immer die Guten sind und die Oberhäupter der anderen immer die Bösen.
Betrachten wir nur kurz die Beteiligung Großbritanniens am entsetzlichen Krieg Saudi-Arabiens gegen den Jemen, oder den Mantel des Schweigens, den die US-Politiker über das israelische Massaker an unbewaffneten Demonstrierenden in Gaza gebreitet haben. Unsere politische Führung ist moralisch nicht überlegen – in ihren außenpolitischen Entscheidungen geht es um Öl, Rüstungsaufträge und geostrategische Interessen und nicht darum, Zivilisten zu schützen oder „gerechte“ Kriege zu führen.
Wie übel Assad auch immer ist – und er ist ein Diktator –, er ist für wesentlich weniger Todesfälle und wesentlich weniger Leid im Mittleren Osten verantwortlich als George W. Bush oder Tony Blair.
Stephen Kinzer, ein ehemaliger Korrespondent der New York Times, legt einen sehr plausiblen Grund für die fortwährende Einmischung der USA, Großbritanniens und Frankreichs dar. Es geht nicht um Kinder oder Chemiewaffen. Es geht darum, die syrische Regierung und Russland daran zu hindern, die Dschihadisten zu besiegen – und sie waren ja schon nahe dran.
Diese westlichen Staaten widersetzen sich hartnäckig einer friedlichen Konfliktlösung in Syrien, schreibt Kinzer, weil diese:
"(…) möglicherweise dazu führen könnte, dass sich die Stabilität dann auch bis in benachbarte Länder ausbreitet. Heute haben die Regierungen von Syrien, dem Irak, dem Iran und dem Libanon zum ersten Mal in der modernen Geschichte ein gutes Verhältnis. Eine Partnerschaft dieser Länder könnte das Fundament für einen neuen Mittleren Osten legen. Dieser neue Mittlere Osten würde sich dann allerdings keiner US-amerikanisch-israelisch-saudischen Koalition unterwerfen. Aus diesem Grund sind wir fest entschlossen, sein Entstehen zu verhindern. Manche argumentieren, es sei doch viel besser, diese Länder in Elend und Konflikt zu halten, als ihnen zu gestatten zu gedeihen und den USA zu trotzen. (…) Aus Washingtons Sicht ist Frieden in Syrien ein Horrorszenario. Frieden würde in den Augen der USA bedeuten, dass unsere Feinde ‚gewonnen‘ hätten: Russland, der Iran, die Regierung Assad. Wir sind fest entschlossen, das zu verhindern – egal um welchen Preis, den die Menschen dann zu zahlen hätten.“
Update:
Fisks Bericht wird durch einen weiteren Reporter bestätigt, der sich dort aufhält: Pearson Sharp vom konservativen Nachrichtensender One America. Im Gegensatz zu Fisk, von dem ich weiß, dass er eine lange Vorgeschichte als höchst glaubwürdiger Reporter im Mittleren Osten hat, kenne ich Sharp nicht. Es ist jedoch bedeutsam, dass er – wie auch Fisk – sagt, dass niemand, mit dem er gesprochen hat, nicht einmal in der Gegend, wo der Angriff stattgefunden hatte, sich dessen bewusst zu sein schien, dass dort Chemiewaffen zum Einsatz gekommen waren.
Jonathan Cook ist Autor und Journalist und Autor. Er veröffentlicht auf http://www.jonathan-cook.net/.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Robert Fisk’s Douma Report Rips Away Excuses for Air Strike on Syria“. Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam korrigiert.