Stieg Larsson wurde mit seinen „Ver“-Büchern — „Verblendung“, „Verdammnis“, „Vergebung“ — berühmt; Götz Eisenberg schuf eine „Zwischen“-Trilogie. Nach „Zwischen Amok und Alzheimer“ und „Zwischen Arbeitswut und Überfremdungsangst“ erschien nun in der Edition Georg-Büchner-Club der dritte Band seiner Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus: „Zwischen Anarchismus und Populismus“.
Niemand muss jedoch die beiden ersten Bände gelesen haben, um den dritten zu verstehen — obgleich viele sie vielleicht werden lesen wollen, wenn sie diesen herausragenden Essay-Band durchgearbeitet und genossen haben. Die Kapitel folgen keiner thematischen Gliederung, es ist eine Sammlung von längeren und kürzeren Aufsätzen, die der Autor in verschiedenen Webmagazinen zwischen 2016 und 2018 veröffentlicht hat. Die Reihenfolge ist chronologisch — nach ihrer Entstehungszeit. Gewichtige Essays wechseln sich mit literarischen Miniaturen — „Ethnologie des Inlands“ — ab.
Seelenvolle Analyse
Nun denken Leserinnen und Leser vielleicht: Da könnte ja jeder kommen — seine Artikel einfach sammeln und als Buch veröffentlichen! Ja, theoretisch könnte jeder kommen; praktisch jedoch findet kaum ein Journalist dafür einen Verlag — und bei weitem nicht bei jedem wäre die Lektüre derart lohnend. Die thematische Abwechslung wirkt sich erfrischend auf die Aufnahmefähigkeit der Lesenden aus und macht dieses Werk, das es seinen Lesern nicht im anbiedernden Sinne leicht macht, streckenweise zu einem veritablen Pageturner. Man ist begierig zu erfahren, welche blitzenden Analysen und Stilblüten Eisenberg wohl zum nächsten und übernächsten Thema einfallen.
Vor allem aber hat „Zwischen Anarchismus und Populismus“ etwas Seltenes vollbracht: seelenvolle Analyse und einen linken Diskurs, der sich nicht mühsam und strohig liest.
Zu diesem Buch fasste ich spätestens auf Seite 29 Vertrauen, wo der Autor über Pokemon-Jäger und Smartphone-Wischer im Botanischen Garten lästert.
„Man sollte den Botanischen Garten mit einer Haltung betreten, mit der man früher eine Kirche betrat: mit Demut und Respekt vor der Größe und Vielfalt der Natur. Wir scheuen die Aura solcher alten Worte und so können wir das von ihnen gemeinte nicht mehr vermitteln. Was bekommen die Leute denn mit von den verwirrenden Düften und der Fülle der Farben, wenn sie nur auf die Geräte starren?“
Biophilie und Maschinensturm
Hier zeigt Eisenberg, der Meister des gehobenen und doch ungemein lebensnahen Essays, seine biophile Grundhaltung, die es ihm ermöglicht, rechte wie linke, historische wie neue Fehlentwicklungen mit Hilfe eines klaren ethischen Koordinatensystems einzuordnen. Gleich zu Beginn ruft er zu einem neuen „Maschinensturm“ gegen den digitalen Wahnsinn auf, der derzeit von Innovationsopportunisten jeder Couleur vorangetrieben wird — völlig abgekoppelt von der Frage, ob mehr Technik für den Menschen auch mehr Glück bedeutet.
„Wir müssen die Reißleine ziehen, den Generalstreik ausrufen gegen die Überwältigung des Lebendigen durch das Tote, das Maschinell-Mechanische. ‚Künstliche Intelligenz‘, Roboter und Algorithmen rauben uns Arbeit, Erfahrung und die Kontrolle über unsere Daseinsbedingungen.“
Dieser Diskurs ist eigentlich eine aktualisierte Version der klassischen „Nekrophilie“-Kritik Erich Fromms. Der „senkrechte“ Dualismus — Dienen wir eher dem Lebendigen oder dem Toten? — vermag Weltanschauungen auch dort noch treffend zu beschreiben, wo der „waagrechte“ Gegensatz von Links und Rechts versagt, wo sich Neoliberale und Kommunisten wie feindliche Brüder gleichermaßen dem technokratischen Materialismus verschrieben haben.
Gesunde Technikfeindlichkeit
Daher ist „Anarchismus und Populismus“ ein Ausdruck gesunder Technikfeindlichkeit — im Sinne einer Gegenwehr des Humanen gegen die Menschenfeindlichkeit der Apparate.
„Irgendwann könnte es zu spät sein, nämlich dann, wenn es der Maschinenwelt gelungen ist, die Menschen nach ihrem Bild und ihrer Logik zu formen. Unter dem Stichwort ‚Selbstoptimierung‘ sind viele Menschen bereits dabei, sich an das Maschinen-Ideal anzupassen und sich zu Maschinenmenschen zu entwickeln. (…) Wie Lemminge stürzen wir uns von der digitalen Klippe.“
Technik-Kritik erfolgt bei Götz Eisenberg im Namen der „Sinnlichkeit“, der unmittelbar-ganzheitlichen Wahrnehmung der uns umgebenden Welt, offline und ohne technologische Filter.
Bildschirmmedien wollen uns die Welt scheinbar nahebringen und trennen uns in Wahrheit von ihr wie auch voneinander. Wir sind im Begriff „digitale Autisten“ zu werden. Technik-Skepsis erwächst aus der Priorität des Lebens selbst und des menschlichen Glücks, das viele im politischen Diskurs schon nicht mehr einzufordern wagen, aus Angst, als egozentrisch und naiv wahrgenommen zu werden. Herbert Marcuse hatte diesen Mut zur Einfachheit noch, als er sagte:
„Alles, was dem Leben, besonders dem glücklichen Leben dient, ist gut. Reduktion der repressiven Erlebens- und Lebensbedingungen ist schließlich das Ziel der erotischen Instinkte. (…) Das Kriterium ist das, was lebensbejahend ist, was der Entfaltung menschlicher Fähigkeiten, menschlichen Glücks und Friedens dient.“
Kein rot lackierter Ökonomismus
So ist Eisenberg zwar ein rhetorisch brillanter Kapitalismuskritiker, jedoch kommen seine Bewertungskriterien weniger vom orthodoxen Marxismus als vielmehr von Ernst Bloch, der die Geschichte als Wechselspiel zwischen einem „Kältestrom“ und einem diesem entgegengesetzten „Wärmestrom“ interpretierte. Das hebt die Diskussion merklich über die eher schematische Denkweise in Klassengegensätzen hinaus und vereint die Gedankenschärfe eines „Linken“ mit einer ganzheitlich-emotionalen Wärme, die sonst eher im konservativen Milieu zuhause ist. Ein quasi-romantischer Protest gegen die Überbetonung der Ratio in der sozialistischen Denktradition. Eisenberg kann ihn sich leisten, weil seine rationalen Fähigkeiten im Buch mehr als deutlich hervortreten.
Der Autor leugnet, dass eine Herzamputation Zugangsvoraussetzung für die Aufnahme in links-intellektuelle Kreise sein muss.
Denn eben diese reduzierte Menschlichkeit sieht er als schlimmsten Kollateralschaden der kapitalistischen Megamaschine. Sozialismus muss daher mehr sein als rot lackierter Ökonomismus, er muss die Reduktion aller menschlichen Interaktionen auf „Tauschverhältnisse“ überwinden.
„Unter der Herrschaft des Tauschwerts verkümmert die Erfahrungsfähigkeit des Menschen. Sie werden zynisch-pragmatische Tauschmaschinen, deren Verkehr untereinander von störenden Gefühlsbeimengungen gereinigt wird. (…) Ihre Kälte ist eines ihrer prägnantesten Merkmale — kalt fremdem Leiden gegenüber, aber auch sich selbst gegenüber. Aus der Härte gegen sich selbst, leiten sie die Berechtigung ab, hart gegen andere sein zu dürfen.“
Romantischer Protest gegen das Zweckdenken
So war der zweite Moment, in dem ich großes Vertrauen in Götz Eisenbergs Buch schöpfte, jener, in dem er das Hauff-Märchen „Das kalte Herz“ (1827) als Beleg anführte. Jene symbolträchtige Geschichte, in der ein armer Köhler sein Herz einer Teufelsgestalt, dem Holländer-Michel, verkaufte und sich stattdessen einen Stein in die Brust setzen ließ. In der Folge „funktionierte“ er ökonomisch weitaus besser und brachte es zu Reichtum — eine frühe literarische Vision des den Menschen deformierenden und erkalten lassenden Kapitalismus. Hauptfigur Peter Munk repräsentiert uns alle — jedenfalls die meisten von uns.
„Die Menschen leiden unter der zunehmenden Entfremdung, die sich wie Raureif auf Menschen und Dinge legt.“
Auch der Frühromantiker Novalis verlieh ja seinem berühmten Gedicht einen fortschrittskeptischen und antitechnokratischen Unterton:
„Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren sind Schlüssel aller Kreaturen …“.
Was hätte der Dichter zur heutigen Lindnerisierung der politischen Landschaft gesagt: zur totalen Fetischisierung der Zahl durch die Hohepriester der Digitalisierung? Immer mehr Lebensbereiche werden uns nur noch über den Filter ihrer Umrechenbarkeit in Zahlen zugänglich — angefangen bei „smarten“ Kühlschränken und Autocomputern über algorithmengestützte Gesundheitsvorsorge bis hin zum smarten Töten via Killerdrohnen.
Kälteschatten im Kinderzimmer
Besonders grauenerregend ist dabei der frühe Zugriff des Kältestroms auf die Kinderseele, die Eisenberg zu einigen seiner eindringlichsten Passagen inspiriert:
„In der Beziehung einer Mutter zu ihrem Kleinkind hat sich zum Beispiel lange eine an Bedürfnissen orientierte Produktionsweise gehalten, ohne die aus Neugeborenen keine Menschen mit menschlichen Eigenschaften geworden wären. Können wir das angesichts neuartiger Formen von ‚digitaler Kindsaussetzung‘ noch umstandslos annehmen?
Gegenwärtig werden im Namen von Mobilität und Flexibilität die Bedingungen der Sozialisation der Neugeborenen und Heranwachsenden radikal verändert und zerstört. Die Kinder sind von Apparaten und Bildmaschinen umgeben, eine Gerätesozialisation löst die Erziehung durch lebendige und leiblich anwesende Bezugspersonen ab. (…) Was nach außen manchmal noch wie eine Familie aussieht, ist im Innern oft eine einzige Szenerie von Indifferenz und Kälte, das bloße Nebeneinander von Einsamkeiten.“
Man kann nicht mehr leugnen, „dass auf heutige Kindheiten ein massiver Kälteschatten fällt“. Das Computer- und Algorithmenzeitalter als Endsieg des Kältestroms.
Diese Grundausrichtung — Kritik am Kältestrom und der strukturellen Nekrophilie der digitalisierten Warengesellschaft — wird in Götz Eisenbergs Buch aufgefächert in verschiedenste Symptome ein- und derselben kollektivpsychischen Erkrankung: Die Palette der Themen reicht von Amokläufen über den für Europäer schwer zu verstehenden Trumpismus in den USA bis hin zum momentanen Rechtsruck in Deutschland. Die Infantilisierung mittels immer perfekter werdenden Technikspielzeugs findet ihren Platz im Gesamtpanorama ebenso wie Fußball als Kriegsersatz oder „pharmakologischer Seelenmord“.
Eisenbergs Werk ist nah am Puls neuester (Fehl-)Entwicklungen, er widmet sich in längeren historischen Diskursen jedoch auch den Wurzeln heutiger Wahnsysteme und den Möglichkeiten ihrer Überwindung. So in Kapiteln über den Spanischen Bürgerkrieg und die Tradition des sozialistischen Anarchismus, über die bayerische Räterepublik und den Tod Rudi Dutschkes, über die russische Revolution und den 200. Geburtstag von Karl Marx.
Befreiende Erkenntnis
Nichts wäre falscher als dem Autor einen zu hohen Abstraktionsgrad in seiner Art der Darstellung zu unterstellen. Götz Eisenberg ist ein aufmerksamer, scharfsinniger wie -züngiger Flaneur, der aus der Beobachtung kleiner Details die großen Entwicklungsströme unserer Zeit herauszulesen vermag. Eine Mutter mit Kinderwagen, die auf ihr Handy starrt und dem Baby liebevolle Resonanz verweigert. Die wie besessenen Pokemon-Go-Spieler im Stadtpark. Der Obdachlose, der im Eingangsbereich einer Bank auf dem Boden liegend starb, nachdem mehrere Kunden achtlos über ihn gestiegen waren. Dank seines ungemein beweglichen Geistes wechselt der Autor spielend von der Frosch- zur Vogelperspektive und zurück und belegt das Allgemeine schlüssig durch das Besondere.
Natürlich ist Eisenberg ein Adorno-Zitierer, der viel gehobenen Lesestoff in seine Betrachtungen einfließen lässt; jedoch bringt uns seine Art des lebendigen Dialogs mit Geistesgrößen die Adornos, Blochs und Marcuses tatsächlich nahe, ohne seinen eigenen Text in die Regionen erhabener Schwerverständlichkeit zu rücken.
Sein Buch bereitet Freude, soweit die oftmals bitteren Erkenntnisse, die es vermittelt, das zulassen. Die Freude, die entsteht, wenn Fehlentwicklungen, die man selbst nur diffus geahnt hat, so klar beim Namen genannt werden, dass man auf einmal leichter an ihnen trägt. Weil man Verantwortung an die eigentlichen Urheber der Misere zurückgeben kann. Weil Eisenberg individuelles Leid an Angst, Einsamkeit und Entfremdung auf kollektive Ursachen zurückführt, während der neoliberale Eigenverantwortungsdiskurs gesteuerte gesellschaftliche Fehlentwicklung stets in individuelle Schuld und Psychopathologie umzumünzen versucht.
Der Faschismus beginnt im Elternhaus
Angst wird gemacht — und fleißig bewirtschaftet, wie Eisenberg in seinem grandiosen Angst-Essay zeigt:
„Wer ohne Angst ist, ist praktisch nicht zu demütigen und deswegen kaum beherrschbar“.
Hier kommt der Autor rasch von der Individualpsychologie zur Massenpsychologie des Faschismus. „Der Weg des Faschismus ist der Weg des Maschinellen, Toten, Erstarrten, Hoffnungslosen.“ Jeder Autoritarismus beginnt bekanntlich im Elternhaus.
„Von der Unterwerfung unter das elterliche Regiment profitieren später andere gesellschaftliche Instanzen, die in der Bewirtschaftung von Angst ein dauerhaftes Potenzial für Macht, Kontrolle und Profit entdecken. Schon Luther wusste das und verkündete im großen Katechismus: ‚Denn aus der Eltern Obrigkeit fließt und breitet sich aus alle andere‘.“
Der Staat wird zur Fortsetzung eines rigiden Elternhauses auf der kollektiven Ebene. Aber auch er ist nur Vasall eines noch unheimlicheren und abstrakteren „Vorgesetzten“: des Marktes und seiner offenbar unausweichlichen, Seelen deformierenden Imperative.
„Die Menschen sterben einen sozialen Tod und drohen aus der Welt zu fallen. Statt Widerstand zu leisten und die wild gewordene Ökonomie in eine solidarische Gesellschaftlichkeit einzubinden, unterwerfen sich die Menschen den sogenannten Marktgesetzen. Nach beinahe vier Jahrzehnten neoliberaler Indoktrination scheint es gelungen, den Markt als neue Zivilreligion zu etablieren.“
Angst und ihre Bewirtschaftung
Wünschenswert wäre ein aktiver, nicht nur „aktivierender“, Sozialstaat im Sinne Roosevelts, der als Ziel seines Reformprogramms die „Freiheit von Angst“ benannt hatte. „Sicherheit, Geborgenheit und Zusammengehörigkeit“, so Eisenberg, sollten sich mit dem „Verlangen nach Freiheit und Selbstverwirklichung“ vereinen.
Oft wird im nestwarmen Konservativismus nur die Geborgenheit, im smarten globalisierten Kapitalismus dagegen nur die Selbstverwirklichung hochgehalten. Nur beide Pole zusammen machen jedoch den ganzen Menschen aus.
Auch Migrantenfeindlichkeit und Xenophobie sind letztlich Folgen von „Angst und ihrer Bewirtschaftung“. Für Rechtspopulisten — die Eisenberg ja schon in seinem Buchtitel zitiert — bringt Angstmacherei reiche politische Ernte ein. Der Flüchtling, der „Fremde“, erscheint als Symbolfigur jener Entfremdung, an der Menschen leiden, die psychisch entheimatet und auf ihre Verwertbarkeit für ökonomische Zwecke reduziert wurden.
„Die Migranten und Geflüchteten stehen für jene rätselhaften, undurchschaubaren und zu Recht beargwöhnten globalen Kräfte, die wir im Verdacht haben, für das lähmende und demütigende Gefühl existenzieller Unsicherheit verantwortlich zu sein, das unsere Zuversicht schmälert oder zerstört und unsere Wünsche, Träume und Lebenspläne zunichtemacht.
Sie dienen als Blitzableiter, der dafür sorgt, dass die Blitze des Zorns umgeleitet werden und die wahren Verursacher der Misere ungeschoren bleiben. Der Rechtspopulismus organisiert und funktionalisiert die über den ökonomischen Prozess freigesetzten Ängste und versucht, Kapital zu schlagen aus der Feindseligkeit, die den Fremden und Migranten im Banne gesellschaftlicher Vorurteile entgegenschlägt.“
Der Faschist als verhinderter Anarchist
Als Gegenbild zum Faschisten identifiziert Götz Eisenberg den Anarchisten — nicht den Exponenten eines überstrukturierten, immer vom Umkippen ins Despotische bedrohten Realsozialismus. Das mag auf den ersten Blick überraschen — spielt Anarchie doch in den öffentlichen politischen Debatten heute fast keine Rolle mehr. Das sollte sie aber. Denn im Sinne Wilhelm Reichs, der Freiheit und Lust als zwei Seiten derselben Medaille identifizierte, hat „freiwillig“ gewählte Unfreiheit stets mit nicht gelebter Vitalität zu tun. So ist der Faschist immer auch ein in seinem Lebensausdruck gehemmter Anarchist.
„Der Anarchist ist im Inneren des Faschisten anwesend in Gestalt seiner verdrängten Begierden und unterdrückten Wünsche.“
Diese beiden Menschentypen — biophil und nekrophil — werden schon durch die Erziehung in der Kindheit angelegt:
„Das eine Kind wächst in einem Klima mitfühlender Akzeptanz auf und bekommt das Gefühl vermittelt, gewollt, erwünscht und ‚richtig‘ zu sein; das andere leidet unter ständigen Bestrafungen, Demütigungen und Entwertungen und bekommt das Gefühl vermittelt, unerwünscht, ‚falsch‘ und überflüssig zu sein. Das erste wird, erwachsen geworden, mit sich befreundet und ins Leben verliebt sein; das zweite — voller Selbstzweifel und Selbsthass — wird sich vom Tod und dem Toten angezogen fühlen. Sein Lebensfluss wird pädagogisch begradigt, trocknet schließlich aus und versickert in trostloser Monotonie. Alles Lebendige erweckt nun seinen Neid oder gar Hass und kitzelt einen Vernichtungsimpuls hervor.“
Warum gebiert unsere Zivilisation Monster? „Verhindertes Leben“, wusste Christa Wolf.
Der Fremde als Projektionsfläche
Diese Dynamik wendet sich nun als Hass gegen Ersatzobjekte.
„Der autoritär erzogene und ‚zur Sau gemachte‘ Mensch wird eine Neigung davontragen, das, was er selbst unter Schmerzen in sich abtöten und begraben musste, aus sich herauszusetzen und dort — am Anderen und Andersartigen—– zu bekämpfen und zu vernichten. Das niedergedrückte und beschädigte Leben brütet über seinen Kompensationen und sinnt auf Rache.“
Besonders im Visier sind — neben den Kriminellen und „Sozialschmarotzern“ — die Migranten: „Der da, der reißt sich nicht so zusammen wie ich!“, wütet der Spießer. „‚Gleiches Unrecht für alle‘ avanciert zur unausgesprochenen Maxime seines ungelebten Lebens.“ Und so scheint es für viele rechtspopulistisch Infizierte tatsächlich wichtiger zu sein, dass es „Ausländern“ schlecht geht, als dass es ihnen selbst gut geht — was dann zu Wahlentscheidungen führt, die für Geringverdiener und prekär Lebende geradezu selbstschädigend anmuten.
Es besteht gemessen an diesen Analysen wahrlich kein Grund, warum sich die Menschlichkeit vor der Unmenschlichkeit verstecken und sich von ihr in die Defensive treiben lassen sollte — wie es heute in den Zeiten einer auftrumpfenden AfD leider geschieht.
Die Psychopathologie des politisch Rechtslastigen spricht eine deutliche Sprache.
„Es gibt in Gestalt des Toten oder Totgestellten in uns einen fortdauernden Faschismus weit unterhalb des Kopfes, einen Faschismus der Gefühle oder der Gefühllosigkeit, der uns zu einem lebenslangen Austrag des Kampfes nötigt. Das kann man, wenn man so will, die Innenseite des Klassenkampfes nennen.“
Der kleine, verwundete Junge beziehungsweise das Mädchen im Faschisten begehrt gegen sein strangulierendes Überich halbherzig auf — um bald für immer zu resignieren und alle, die nicht resigniert haben, mit giftigem Hass zu verfolgen.
Bruderkampf der Todeskulte
So erklärt Götz Eisenberg — das ist das besonders Interessante an seinem Buch — den Faschismus beziehungsweise seinen nicht voll ausgewachsenen Bruder, den Rechtspopulismus, im Grunde zu einem Teil desselben Symptomkomplexes, dem auch die nekrophile Digitalisierung und der kaltschnäuzige Menschenverwertungs-Ökonomismus angehören. Sie alle sind Ausdrucksformen unterdrückten Lebens, das sich in eingefrorener Emotionalität und — quasi als Form der Überkompensation — in Selbst- und Fremdhass verwandelt.
Der Amokläufer ist ein trostloser Bruder und Schicksalsgefährte des xenophoben Asylantenheimanzünders; die technokratische Automatisierung unseres Lebens organisiert dabei andauernd neue, wärmelose Kindheiten, die für ausreichenden Nachschub an künftigen Monstern sorgt.
Interessanterweise stehen sich beide Spielarten des Nekrophilen — die technik-affine neoliberale Globalisierung und der sich gegen Fremdes abschottende Konservativismus — oft feindlich gegenüber. Das zweitere kann als Reaktionsbildung auf das erstere gedeutet werden. Heilsam und menschengerecht sind sie beide nicht. So wird die Gesellschaft in den aktuellen politischen Debatten aufgerieben vom Bruderkampf der sich plusternden Todeskulte: auf der einen Seite Kult der Apparate und der Funktionalität, auf der anderen Seite der Fetischismus von Ordnung und ethnischer Gleichförmigkeit.
Für eine Ökonomie des Glücks
Was tut Not, um das Blatt vielleicht noch einmal zu wenden?
„Dagegen müssen wir einen anderen, einen wirklichen ‚Wärmestrom‘ setzen. Kälte- und Wärmestrom entspringen dem Zentrum der Gesellschaft; was an den Rändern passiert, ist davon abgeleitet. Deswegen benötigen wir eine solidarische Ökonomie, eine ‚Ökonomie des Glücks‘ (Pierre Bourdieu), deren Ziel nicht der Profit, sondern die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse ist.“
Und wie Pasolini sagte:
„Das, was wirklich zählt — ist das nicht etwa das Glück? Wofür macht man denn die Revolution, wenn nicht, um glücklich zu sein?“
Die Weltgeschichte ist leider voll von Beispielen, dass das Unglück in Folge von Revolutionen lediglich die Farbe gewechselt hat, anstatt zu verschwinden. Um eine Lösung zu finden, muss man die Ebene der Betrachtung wechseln und an die Stelle der Klassen- und Ideologiegegensätze einen Antagonismus der Wärmegrade setzen.
Man neigt eher dem Warmen oder dem Kalten zu, dem Lebendigen oder dem Toten. Es ist das große Verdienst Eisenbergs, dies Jahrzehnte nach Erich Fromm und Ernst Bloch noch einmal eindringlich ins Bewusstsein gerückt zu haben.
Kämpfen, auch wenn es zwecklos ist
Letztlich ist die Lösung, die Eisenbergs Buch nahelegt, auch eine „romantische“. Wer aus der kollektiven Trance aufgewacht ist, verweigert sich einem Kult der Nützlichkeit, bleibt der inneren und äußeren Natur treu, sucht die Verbundenheit und sinnliche Unmittelbarkeit, widersagt allem, was trennt, reduziert, zergliedert und erkalten lässt: den „Zahlen und Figuren“, dem steinernen Herzen und dem Bann der Schneekönigin, deren verstreute Glassplitter sich überall auf unsere Augen legen und uns die Welt nur noch in hässlicher Verzerrung wahrnehmen lassen.
Götz Eisenberg, der konservative Flaneur, der romantische Kapitalismuskritiker und Psychoanalytiker gesellschaftlicher Verhärtung, weiß, dass er wahrscheinlich auf verlorenem Posten steht. Gerade diese Mischung aus mutigem Nonkonformismus und resignativer Trauer über den „Abfall der Epoche vom Humanen“ (Thomas Mann) gewinnt uns Leserinnen und Leser jedoch für eine Haltung unvernünftiger und gerade deshalb würdevoller Hoffnung. Mit Ernst Toller weiß Eisenberg:
„Und wenn es Wahnwitz ist, und wenn es zwecklos ist. Wir müssen kämpfen, weil wir Menschen sind. Schweigen wir, so sind wir Tiere, die sich stumm ins Joch beugen.“
Und mit Jean-Paul Sartre:
„Wir müssen und können etwas aus dem machen, was man mit uns gemacht hat!“
Buchtipp: Götz Eisenberg, „Zwischen Anarchismus und Populismus. Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus“, Band 3, Verlag Wolfgang Polkowski, Edition Georg-Büchner-Club
453 Seiten, € 24,90.
Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er war jahrzehntelang als Gefängnispsychologe im Erwachsenenstrafvollzug tätig. Eisenberg arbeitet an einer „Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus“, deren dritter Band unter dem Titel „Zwischen Anarchismus und Populismus“ Gegenstand dieser Rezension ist.
Redaktionelle Anmerkung: Die Erstveröffentlichung dieses Artikels erfolgte auf "Hinter den Schlagzeilen" (HdS), dem Magazin für Kultur und Rebellion. HdS wurde 2003 von Konstantin und Annik Wecker begründet, um ein Gegengewicht zur sehr einseitigen damaligen Berichterstattung über den Irak-Krieg zu schaffen. Die Seite bringt täglich Essays, Berichte, Satiren, Poesie, Musikvideos und Links über von den großen Medien vernachlässigte Aspekte unserer Realität, will aufklären, ermutigen und nicht-marktkonformer Kultur ein Forum bieten.