Die bundesdeutschen Medien hinterfragen gegenwärtig nur noch unzureichend kritisch die Politik. Das zeigt sich für den FDP-Bundestagsabgeordneten und Bundestagsvizepräsidenten Wolfgang Kubicki gerade in der Corona-Krise. Er machte darauf am Dienstag in Berlin aufmerksam, als er gemeinsam mit dem Vorsitzenden der Linksfraktion, Dietmar Bartsch, sein neues Buch „Meinungsunfreiheit – Das gefährliche Spiel mit der Demokratie“ vorstellte.
Kubicki verwies als Beispiel für seinen Befund auf den politischen und medialen Umgang mit einem Antrag der FDP-Fraktion zur Corona-Politik. Die Liberalen beantragten, die im März beschlossene „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ wieder aufzuheben. Sie scheiterten damit im September an einer Bundestagsmehrheit aus Union, SPD und AfD.
Die FDP-Fraktion hatte ihren Antrag damit erklärt, dass die Begründung für den Ermächtigungsbeschluss vom März nicht mehr gegeben ist. Das Gesundheitssystem sei ganz offensichtlich durch die Covid-19-Pandemie nicht mehr gefährdet, überlastet zu werden, wiederholte Kubicki dazu. „Und trotzdem kommt keiner auf die Idee zu sagen, die Grundlagen unserer Entscheidung sind falsch, also müssen wir sie revidieren.“
Der Bundestagsvizepräsident fügte hinzu:
„Ich weiß bis heute nicht, was momentan das Ziel unserer Corona-Politik ist. Ist es die Infektionszahl? Muss die auf einem bestimmten Level gehalten werden? Ist es die Frage der Hospitalisierung oder die Frage der Todeszahlen? Wir stellen fest, wir haben keine Übersterblichkeit in Deutschland. Die Frage vermittelt die Politik derzeit nicht: Wann ist etwas erreicht, wo wir sagen können, der Normalzustand tritt wieder ein – oder wird es den nie wieder geben?“
Entmachtetes Parlament
Wenn das nicht mit Argumenten erklärt werde, werde der Raum für „Verschwörungstheoretiker“ geebnet, „die sagen, da steckt was Böses dahinter“, meinte Kubicki. Moderator Markus J. Karsten, gleichzeitig Verleger des Buches, bemerkte, dass die Aussage über das anscheinend fehlende Ziel der Corona-Politik „nervös“ mache. Dem stimmte der Bundestagsvizepräsident zu und sagte:
„Das Parlament muss sich sein Recht zurückerkämpfen, was es momentan nicht hat, um genau diese Fragen zu debattieren und die gesetzlichen Grundlagen dafür zu schaffen, dass die exekutiven Maßnahmen umgesetzt werden können. Wir dürfen das nicht länger der Bundesregierung und den Landesregierungen überlassen.“
Sonst werde an die Grundlagen des demokratischen Gemeinwesens „die Axt angelegt“, warnte Kubicki. Und fügte hinzu:
„Wahrscheinlich weiß das die Kanzlerin auch gar nicht, was das endgültige Ziel ist.“
Bevor er so konkret auf die aktuelle Situation einging, hatte er erklärt, warum er das Buch geschrieben hat. Dazu gehört seine Beobachtung, dass seit einigen Jahren in Debatten nicht mehr mit Argumenten gekämpft werde. Stattdessen würden diejenigen mit einer anderen Meinung als jene, die die jeweilige Deutungshoheit beanspruchen, sogar in ihrer physischen Existenz bedroht.
Zunehmende Angst
Die Menschenwürde gelte auch für jene, die eine andere Meinung haben, betonte der FDP-Politiker. Er warnte zugleich vor einer „Sprachpolizei“, die in den letzten Jahren mit verheerenden Folgen für den gesellschaftlichen Diskurs wirke. Für ihn sei die Frage wichtig: „Wie gehen wir in der Debatte miteinander um?“
In seinem Buch beschreibt er eine Reihe von Entwicklungen, die aus seiner Sicht in die falsche Richtung führen. Er warnt vor den Folgen der Tatsache, dass immer mehr Bürger Angst haben, ihr Grundrecht auf freie Meinungsäußerung wahrzunehmen.„Wenn wir nicht aufpassen, dass wir den anderen nicht mehr in seiner Argumentation angreifen, sondern weil er es ist, der etwas sagt, dann haben wir ein Riesenproblem“, sagte er in Berlin dazu.
Linksfraktionschef Bartsch hatte zuvor in seinen Anmerkungen zu Kubickis Buch unter anderem festgestellt, dass gegenwärtig die Schwelle des inzwischen Sagbaren in den sogenannten sozialen Medien „weit unten sei“. Auch deshalb sehe er die Meinungsfreiheit in der Bundesrepublik grundsätzlich nicht in Gefahr. Er stimmte Kubicki in vielen Fragen zu und wünschte sich manche Aussage deutlicher.
Der Fraktionschef verwies auf eigene Erfahrungen seit 1990 als Vertreter der SED-Nachfolgepartei PDS und der Linkspartei. Er habe erlebt, wie mit einer anderen Meinung und abweichenden Sicht umgegangen wird. Allerdings vermischte Bartsch immer wieder Fragen und Probleme der Meinungsfreiheit mit denen der Redefreiheit.
Er zeigte sich nicht ganz auf dem medienpolitischen Stand, als er unter anderem meinte, die Vielzahl der digitalen Plattformen und die hohe Zahl der Nutzer zeuge von einer früher nie gekannten Medienvielfalt. Dabei hat eine Reihe von Studien in den letzten Jahren gezeigt, dass nur eine Minderheit der Nutzer tatsächlich aktiv Inhalte produziert und verbreitet. Noch weniger sind es, die das über private Themen hinaus machen, was sie aber umso aktiver tun.
Fatale Folgen
Bartsch widersprach der Sicht eines Journalisten, dass die Medienlandschaft in Deutschland unter anderem durch ein hohes Maß an Konzentration geprägt sei und es dadurch zu Effekten der inhaltlichen Gleichschaltung kommt. Der Linksfraktionschef sieht auch in der Medienberichterstattung während der Corona-Krise keine Gleichschaltung, während eine Reihe von Medienexperten genau davor warnen.
Auch FDP-Politiker Kubicki sieht das zum Teil anders. In seinem im Westend-Verlag erschienenen Buch schreibt er:
„Wirklich in Bedrängnis kommt die Meinungsfreiheit jedoch, wenn sich der gesunde Menschenverstand in großer Breite verabschiedet und – schlimmer noch – argumentative Differenzierungen als Schwächung eines angeblichen Moralkonsenses diffamiert werden. Ich habe es am Beispiel der Flüchtlingskrise 2015 bereits beschrieben – und in der Corona-Krise erleben wir es schnell wieder: Wenn Schwarz und Weiß die einzigen Schattierungen in der Debatte sind, bekommen wir ein fundamentales Problem für die Demokratie.“
Genau dieses Problem schaffen gegenwärtig nicht nur Politiker fast aller Parteien, sondern ebenso die tonangebenden Medien. Seit Beginn der Covid-19-Pandemie werden jene diffamiert, die die offiziellen Erklärungen dazu hinterfragen, anzweifeln und auf Alternativen hinweisen. Das reicht von „Corona-Leugner“ bis hinzu zum Attribut „gefährlich“, wie es beispielsweise das Magazin Der Spiegel gegenüber dem Lungenfacharzt und Ex-SPD-Bundestagsabgeordneten Wolfgang Wodarg tat. Das trifft auch jene, die friedlich gegen die Corona-Politik der Regierenden demonstrieren, indem sie unter anderem als „rechtsextrem“ verleumdet werden.
Fehlender Respekt
Gefragt von Rubikon, wie er das aktuell einschätze, sagte Kubicki, für ihn sei „unabdingbar, dass wir uns über alle Maßnahmen, die getroffen werden, kritisch austauschen“. Er beobachte als „Rechtsstaatspolitiker“ das „Phänomen in der deutschen Medienlandschaft, dass wir hinnehmen, dass wir 52 Entscheidungen von Obergerichten, von Verwaltungs- und von Verfassungsgerichten haben, die in Eilverfahren festgestellt haben, dass die staatlichen Maßnahmen offensichtlich verfassungswidrig sind. Das sind zehn pro Monat. Das nehmen wir so hin, nach der Devise: Wenn es dem Kampf gegen das Virus dient, dann ist alles erlaubt.“
Alle Maßnahmen müssen aus Sicht des FDP-Parlamentariers und Rechtsanwaltes diskutiert werden. Sonst hätten die Bürger das Gefühl, es gebe einen „Einheitsbrei“ und eine „Merkel-Diktatur“. Doch von Seiten der regierenden Politik und der tonangebenden Medien werde nicht debattiert und ebenso nicht erklärt, warum die Corona-Politik so beschlossen und durchgesetzt wird. Deshalb habe die FDP-Fraktion mit ihrem Antrag die Debatte zurück ins Parlament holen wollen. Ziel war es laut Kubicki, die Exekutive, die Regierung, „daran zu binden, dass die erste Gewalt, die Gesetzgeber, die Grundlagen schaffen müssen nach einer ausführlichen Diskussion“.
In seinem Buch meint er dazu unter anderem:
„Der aktuellen öffentlichen Debatte mangelt es leider an Respekt für den Abweichler. Das ist deshalb sehr bedenklich, weil gerade die abweichenden Meinungen für den Fortschritt unabdingbar sind. Verzichten wir also dauerhaft auf den Störenfried des Mainstreams, grenzen wir ihn aus, stornieren wir seine unbehagliche Auffassung, dann verzichten wir mittelfristig auch auf die neue Sichtweise, die bessere Idee, den eigentlichen Fortschritt.“
Rubikon fragte Linksfraktionschef Bartsch, warum er sich am 19. März 2020 von der Meinungsfreiheit verabschiedet hatte. Er hatte nach der TV-Ansprache von Kanzlerin Angela Merkel am Vortag erklärt, seine Fraktion unterstütze alle Maßnahmen und: „Nach der Krise sind grundsätzliche Fragen zu stellen.“ Das wollte er so nicht gesagt haben, meinte Bartsch erst und begründete das dann mit den damaligen „riesigen Sorgen“, ausgelöst von den angstmachenden Bildern aus Bergamo und anderen Ländern. Inzwischen sehe er das differenzierter und das Regierungshandeln kritischer.
Notwendige Auseinandersetzung
Er sehe aber gar nicht, dass andere Meinungen wie die von Wodarg und weiteren Wissenschaftlern unterdrückt würden. Ihm würden täglich viele Videolinks zu Positionen zugesandt, die der Regierungspolitik widersprechen. „Ich kann nicht feststellen, dass man das nicht sagen kann.“ Die „Erzählung, man darf das nicht mehr sagen, die stimmt einfach nicht“, betonte Bartsch.
„Ich finde eher problematisch, dass Regierungshandeln sich nach Mehrheitsmeinungen richtet, dass Angela Merkel nach Umfragen schaut und daraus auch Regierungshandeln ableitet.“
Wie Politik und Medien eben die Meinungen der Bevölkerungsmehrheit beeinflussen und auch versuchen, zu steuern, war für den Linksfraktionschef kein Thema. FDP-Politiker Kubicki erinnerte mehrmals während der Buchvorstellung daran, dass das demokratische Gemeinwesen von einem offenen Meinungsaustausch lebt. Erst müsse die Debatte kommen, dann die Entscheidung.
Der Bundestagsvizepräsident und Bartsch gingen im Gespräch auch auf die Frage des Umgangs mit rechten Meinungen und Politikern wie denen der AfD ein. Für Kubicki ist die Menschenwürde die Grenze. Zugleich meinte er: „Nicht alle AfD-Reden im Bundestag sind unklug, aber viele Reaktionen darauf sind unklug.“
Er plädierte für eine Auseinandersetzung mit Argumenten, aber ebenso dafür, manche verbale Provokation der AfD, die auf die zu erwartende Empörung abziele, ins Leere laufen zu lassen. Grundsätzlich gilt für ihn, dass Streit um unterschiedliche Auffassungen gesellschaftlich lebensnotwendig sei.
„Wenn wir uns aber nicht streiten, dann bekommen wir Sprachlosigkeit. Und mit der Sprachlosigkeit bekommen wir Gewalt.“
Quellen und Anmerkungen
Wolfgang Kubicki: „Meinungsunfreiheit – Das gefährliche Spiel mit der Demokratie“
Westend Verlag, 2020. 160 Seiten. ISBN 978-3-86489-293-6. 16 Euro