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Gebrüll und Offenbarung

Gebrüll und Offenbarung

Das derzeitige Verhalten des Westens offenbart die Zusammenhänge zwischen den Ereignissen in der Ukraine und den Protesten gegen die Coronamaßnahmen. Teil 1/2.

Die militärische Intervention Russlands war gerade mal etwa vier Tage alt, als ein Freund ein paar Leute, die er im Zusammenhang mit dem Widerstand gegen die Coronamaßnahmen kennengelernt hatte, zur Tafel lud. Da standen wir im Kreis und einer der Gäste hob das Glas und sagte: „Auf die Ukraine, auf die Freiheit!“ Es mochte das eine oder andere irritierte Gesicht im Kreis gewesen sein, das ihn zur Ergänzung veranlasste: „Denn das ist es ja, was auch unseren Widerstand gegen Corona angetrieben hat, nicht wahr.“

Ukraine? Freiheit?

Versuchen wir zu entknoten. Auch Kritiker der Coronapandemie müssten nun „Putin“ kritisieren. Denn der Kampf gegen das, was als Pandemiemaßnahmen verkauft wurde, sei ein Kampf für die Freiheit gewesen und Putin hätte diese Freiheit spätestens jetzt mit Füßen getreten. Das die Ausgangsthese so ungefähr.

Putin

Richtig ist, dass Putin, auch Putin, kein Freiheitsheld ist und nie gewesen ist und sich wohl auch nie als solcher verstanden hat. Putin war und ist vielleicht immer noch ein intelligenter Machtpolitiker, der die schwere Aufgabe suchte, Russland nach dem Desaster der Jelzin-Zeit, während der das Land an den Westen verramscht wurde und im Innern beispielloses Chaos herrschte, zu geordneten, lebensfreundlicheren Zuständen zurückzuführen und geopolitisch wieder Statur zu verleihen.

Nach solchen Aufgaben drängt es in aller Regel Menschen, welche das Wort „Macht“ nicht abschreckt. Eine russische Eigenheit ist das nicht. Zur Entschärfung des Fokus auf Macht qua Selbstzweck — auch im konkreten Fall — kann indes eingewandt werden, die angepeilte geopolitische Stärke würde mit die Voraussetzungen schaffen, im Innern das Chaos zu ordnen, und sei deshalb eben kein Selbstzweck und kein Indiz für irres Machtgehabe, als was einige deutsche Politiker, die nach allem, was wir wissen, wenig Verstand zu verlieren haben, das militärische Eingreifen Russlands in der Ukraine erklärt und dabei lallenden Mundes auf die — angeblich eben irre — Persönlichkeit Putins verwiesen haben.

Gegenbündelung

Als ein mit libertärem und anarchistischem Gedankengut sympathisierender Mensch neige ich — auch aufgrund mannigfaltiger faschistoider Erfahrungen im Kleinen bereits im alten Jahrtausend — naturgemäß mehr zu Chaos denn zu Ordnung, was mich wie anderes auch von Putin absetzt. Gleichzeitig ist mir bewusst, dass Chaos in aller Regel eine zwanghafte Ordnung für all jene bedeutet, welche die Mittel nicht haben, im Rahmen eines Chaos zu bestimmen und zu gestalten.

Das gilt letzten Endes auch für mich selbst. Sie sind der Macht ausgesetzt, im konkreten Fall Russlands der Jelzin-Jahre etwa den Oligarchen und deren Gangs. Das Bündeln — der Begriff allein gefährlich: fascis = Bund, Rute — von Gegenkräften zwecks Aufbrechung solcher oligarchisch-philanthropischer Strukturen (ob in West oder Ost), hat also zweifelsohne auch ethisch gesehen eine Berechtigung.

Indes, dass diese gebündelte Gegenkraft — im konkreten Fall die Strukturen, die Putin aufgebaut hat — wiederum zu einem Diktat führen kann, das versteht sich von selbst, negiert aber nicht per se eine Entwicklung, die von einer Mehrheit der Menschen als positiv eingestuft wird. Auch ein solches Urteil ist nicht sakrosankt, es muss jedoch bedacht sein, und ein solches Urteil liegt in Russland, da besteht kein Zweifel, vor. Nach allem, was ich weiß, nach allen Indizien wünscht sich nur eine sehr kleine Minderheit die Zustände unter Jelzin zurück.

Betonieren

Das müssten all jene hier im Westen, die das Bild von Putin als dem Autokraten seit Jahren (und nicht erst seit der russischen Intervention) malen und bald betonieren und sich dabei auf eine „Demokratie“ berufen (auf welche eigentlich?), zu denken geben. Betonieren und Denken allerdings ist nicht dasselbe.

Dass die Regierung Putin sich abseits von Machtmechanismen bewegen würde, das kann niemand angenommen haben, der sich mit Geopolitik beschäftigt, auch keiner, der konstatiert, wie die unerträglichen Lebensbedingungen für einen Großteil der Menschen in Russland während den Amtszeiten Putins verbessert worden sind.

Und es sind weniger die nicht selten vom Westen auffällig leicht in Beschlag zu nehmenden „Oppositionellen“ wie ein Nawalny, dessen gegenwärtiger Prozess allerdings staatskritische Fragen gröberen Ausmaßes aufwirft, obgleich er die Dimension der Folterung, wie sie ein an die Westregimes ausgelieferter Julien Assange erfährt, nach allem, was wir wissen, bei Weitem nicht erreicht, es sind also weniger die Zeugnisse der Oppositionellen, welche die Notwendigkeit eines kritischen Blickes auch auf die russische Staatsmacht vor Augen führen, als vielmehr das Handeln dieser Staatsmacht selbst — auch zu Coronazeiten.

Putin und Virentheater

Putin und seine Regierung machten das Programm der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und des Weltwirtschaftsforums (WEF) nicht so totalitär wie Deutschland und einige weitere westliche Staaten mit. Aber sie machten es mit, waren ins Narrativ eingepflegt.

Wer sich hier in Deutschland zur instrumentellen Verwertung der Pandemie zwecks Installation einer totalitären Überwachung querstellte, der fand zwar überaus häufig bei RT De einen Verbündeten — die Beweggründe hierfür gälte es genauer anzuschauen —, aber nicht in der russischen Regierung. Wie man diesbezüglich zu einem anderen Urteil kommen kann, ist mir schleierhaft. Das gilt auch dann, wenn Putin das Virentheater als machtpolitische Inszenierung durchschaut, das Spiel samt Erfindung eines „Impfstoffes“ aber aus (geo-)strategischen Gründen mitgespielt haben sollte, was ich nicht weiß, aber als möglich erachte.

Was mit großer Gewissheit gesagt werden kann: Die russische Regierung trachtet seit Putins Zeit danach, wieder ein anerkannter Player im globalen Spiel zu werden. Die mindestens punktuell engen Beziehungen zwischen russischen Instanzen und dem WEF mögen hierfür ein Beleg sein.

Die Kritik am Globalismus, die vom Kreml kam, war keine Wertekritik. Sie richtete sich nicht gegen Überwachung, Totalitarismus, nicht gegen die Untergrabung der Autonomie des Geistes durch global-digitale Technologie. Nie habe ich Putin ein kritisches Wort zur Digitalisierung, zur Überwachung oder zur künstlichen Intelligenz sagen hören, ganz im Gegenteil. Auch oder zumindest in dieser Hinsicht unterschied er sich von einem Politiker hier im Westen keineswegs. Die russische Kritik zielte vielmehr auf die westliche Dominanz im Rahmen der „Global Governance“.

Nun bedeutet eine solche Kritik, obgleich sie nicht auf die Werte zielt, die hinter der Globalisierung stehen — weder auf die Technologie noch auf den Kapitalismus —, konkret doch eine Störung des ganzen Vorhabens, und eine mit dieser Kritik aufbrechende Einheitlichkeit innerhalb der angepeilten „Global Governance“ muss aus globalisierungskritischer Sicht positiv bewertet sein, fungieren Interessenkonflikte innerhalb der globalen Kräfte mitunter doch als aussichtsreichste Hemmnisse auf dem Weg in eine totalitäre Gesellschaftsform weltweit.

In diesem Sinne — nicht aufgrund von Wertvorstellungen — ergibt sich zwischen dem „Coronawiderstand“ und „Putin“ unter weitestgehenden Abstraktionen eine gewisse Allianz, die bei genauer Betrachtung wiederum nichts mit „Putin“ zu tun hätte, nichts mit dessen verlautbarten Wertvorstellungen, nichts mit einer gemeinsamen Zielsetzung auf ideeller Ebene.

Die Forderung, auch Putin zu kritisieren und sich von ihm gewissermaßen „als Verbündetem abzutrennen“, liegt folglich aus coronakritischer Sicht schief, denn nur Blindheit hätte einen annehmen lassen können, Putin wäre je ein Verbündeter gewesen.

Spiegel und Katalysator

So verlagert sich notgedrungen die Diskussion und die Erkenntnis stellt sich ein, dass die Verbindung der Themenfelder „Corona“ und „Ukrainekrieg“ in keiner Weise bei Putin liegt. Sie liegt vielmehr in der Reaktion des Westens, der Medien, der Politiker, der Gesellschaft hier auf die militärische Intervention dort, weil es sich um das gleiche undifferenzierte moralisch-totalitäre „Gebrüll“ handelt, das kurz zuvor in Sachen „Corona“ die Gesellschaft in eine totalitäre Richtung gepeitscht hat.

In diesem Gebrüll fungiert „Putin“ allerdings — und insofern kommt ihm eine Funktion doch wieder zu, eine Funktion, die indes nicht an seine Handlungen gebunden ist — als Spiegel und Katalysator zugleich. Denn im Urteil über ihn, das nicht erst seit der Ukraine-Intervention erfolgt, zeichnen die brüllenden Instanzen in der Tat das Bild der Gesellschaft, wie sie hier ist, indem sie sich gewissermaßen groteskerweise — aber was ist in dieser Welt noch grotesk, wenn nicht die Welt überhaupt? — von dem, was sie ausbrüllen, insofern reinwaschen, als sie es nach „dort“ verschieben, zu Putin eben.

Es ist das bekannte Muster der Verlagerung der eigenen Misere, der eigenen Bedürftig- und Abscheulichkeit ins Gegenüber. Was Putin so ideal für diese Projektion macht, wäre genauer zu untersuchen. Sicher aber spielt „der Russe“ dabei eine Rolle, wie wir noch sehen werden. Vielleicht sind auch phonetische Gründe mit dabei: „U“ ein düsterer Vokal, „IN“ erinnert an Stalin. Oder es ist eben doch sein Gesicht, sein Oberkörper.

Die freie Welt hier

Zensur, Entlassung oder Jobverweigerung bei nicht genehmen Meinungsäußerung oder Demonstrationsbeteiligung, brutales Vorgehen der Polizei, fehlende Debattenkultur, maximal einseitige Sichtweise im öffentlichen Darstellungsraum mit systematischer Ausgrenzung und Diffamierung auf persönlicher Ebene, Kontaktschuldkonstruktionen, Gehirnwäsche durch Medien und Bildung, Muster der Propaganda generell bis hin zur Schaffung „vorpogromatischer“ Stimmungen gegen „Querdenker“, eine Justiz, welche im Dienst der Macht operiert und ihre Unabhängigkeit verloren hat: das alles und vieles mehr — auf Putin hin „abgebrüllt“ — offenbart die Wirklichkeit hier, eine Wirklichkeit, die nicht zuletzt auch durch das Gebrüll selbst konstituiert beziehungsweise weiter zementiert wird.

Insofern ist das Gebrüll — gerade auch in seiner moralischen und also heuchlerischen Dimension — als eine erstaunlich transparente Entlarvung, ja, sogar als Erkenntnis oder Offenbarung zu lesen — und dies auch dann, wenn es sich dabei um ein Gebrüll handelt, das nicht bewusst als Hypokrisie abgesetzt wäre.

Pussy Riot

Und wieder hat Putin damit im Grunde nichts zu tun. Zwar mögen die Verhältnisse in Russland gar nicht so anders sein, das Gebrüll aber legt Zeugnis von hier ab. Das Gebrüll vor einigen Jahren über den Umgang mit der Protestgruppe Pussy Riot war in diesem Sinne bereits paradigmatisch. Im Westen — in den USA sowieso — wären die Aktivistinnen dieser Gruppe lange vor ihrer Verhaftung, die sie in Russland zu erdulden hatten, festgenommen worden.

In einer Protestaktion viele Monate vor der Aktion, die zum Einschreiten der russischen Behörden führte, schob eine der Protagonistinnen sich nämlich ein Suppenhuhn in die Scheide, ein Kind als Zuschauer mit dabei. Im Westen ein klassischer Fall von Kinderpornografie. Auch der Sex in einem Museum, also in einem öffentlichen Raum, hätte im Westen — in den USA sowieso — zu einer Verhaftung geführt. In Russland aber ließ man die Gruppe vorerst gewähren wie zu liberalen Zeiten der Siebziger hier im Westen. Erst die Performance über Kirche und Präsident und die Verwüstung der als Schauplatz ausgewählten orthodoxen Kirche setzte die Beamten in Gang (1).

Damals schon wurden all diese Differenzierungen und Relationen in der westlichen „Berichterstattung“ weggelassen und die Sache stattdessen als Beispiel für die Despotie Putins aufgetischt. Dabei hätten die Aktivistinnen nach westlichem Strafrecht — sowieso in den USA — eine erheblich längere Strafe für ihre Performances kassiert.

Wirklichkeitskonstruktion

Ich erwähne das hier nicht, um das Vorgehen der russischen Staatsanwaltschaft gegen Pussy Riot zu rechtfertigen, im Gegenteil, stehe ich doch ethisch und politisch jedem staatsanwaltschaftlichen Treiben, ja der Instanz schlechthin wie auch dem Staat selbst kritisch gegenüber, und nach meinem „Empfinden“ hätten die Handlungen der Aktivistinnen, obgleich ich die damalige Aktion in der Kirche substanziell als schwach einstufe, den Staat nicht berechtigt, die Protagonistinnen mit Haft zu belegen (den Schaden in der Kirche hätten sie allerdings ersetzen müssen, versteht sich, eine Geldbuße wäre allenfalls vertretbar gewesen).

Ich füge das hier vielmehr an, um aufzuzeigen, dass das Gebrüll gegen Putin schon damals aus einer Wirklichkeit heraus erfolgte, die in der Tat mitunter restriktiver gewesen ist als die Wirklichkeit, der man genau diese Restriktion mit dem Gebrüll zu unterstellen trachtete.

Gewalt

Das Muster wiederholt sich mit diesem Krieg, in dem es wie in jedem Krieg zu Zerstörungen, zu Leid und Elend kommt, ganz bestimmt auch und massiv von russischer Seite verursacht — gleichgültig ob nun (als Beispiel sei es aufgegriffen) die Beschießung einer Klinik in Mariupol eine russische Brutalität sei oder einen der inszenierten Fakes darstellt.

Ist es nicht Mariupol, die Geburtsklinik dort oder das Theater — in beiden Fällen gibt es Evidenz für Inszenierungen beziehungsweise für eine False-Flag-Aktion — so werden Menschen, die nichts mit Faschismus am Hut haben und nichts mit Russophobie, eben anderswo in existenzieller Weise betroffen sein. Sie werden die Intervention als brutale Gewalt erfahren, darüber kann kein Zweifel bestehen.

Man spricht über sich

Dass allerdings Instanzen, die zu völkerrechtswidrigen Kriegen und Interventionen etwa in Libyen, in Syrien, im Irak, in Afghanistan, in Serbien und anderswo entweder geschwiegen, diese Kriege befürwortet oder sich daran beteiligt haben, nicht die Instanzen sein können, die zu einem glaubwürdigen Urteil über die russische Intervention in der Lage sind, versteht sich von selbst.

Wem zum mehrjährigen Töten der Bevölkerung in der Ostukraine nichts eingefallen ist und nun, da es „passt“, die Maßstäbe wendet und über Putin herfällt, der spricht nicht über Russland, nicht über Putin. Er spricht über sich. Damit ist die westliche Wertegemeinschaft als Instanz aus einem ethischen Diskurs ausgeschieden. Ist sie sowieso schon längst.

An der Gewalt, an der Brutalität, welche die Menschen vor Ort erfahren, ändert das nichts. Aber auch das Gebrüll ändert an dieser nichts. Denn das Gebrüll meint nicht diese Grausamkeit und es meint nicht Grausamkeit überhaupt, denn würde es Grausamkeit meinen, dann hätte es in Libyen et cetera diese auch gemeint und gebrüllt.

Vielmehr ergreift es die Gelegenheit, die eigene Brutalität und das eigene Streben bis hin zur Implementierung eines durchkomponierten Totalitarismus zu überdecken. Und nach den Viren erweist sich Putin als hierfür wieder am besten geeignet.

Ethik

Krieg ist nie eine Lösung. Das ist mein Postulat und ob ich selbst diesem Postulat gerecht werde, ist zweifelhaft. Ich bin allerdings nicht im Besitz von ballistischen Waffen. Werde ich ihm nicht gerecht, sind die Auswirkungen kleiner. Krieg ist nie berechtigt. Wer Krieg beginnt, zieht Schuld auf sich. Das ist meine These.

Allerdings: War es ein Beginn, was im Februar in der Ukraine stattfand? Das Problem des Anfangs. Auch Hegel wusste darum. Und weiter: Was, wenn ein Krieg und die mit ihm einhergehende Zerstörung eine noch größere Zerstörung verhindert? Bleibt auch dann die Schuld? Gilt auch dann: Wer Krieg beginnt, zieht Schuld auf sich? Jedenfalls zieht die Schuld, die der Beginnende auf sich zieht, nicht gleichzeitig alle Schuld von allen anderen ab.

Für Menschen, für die diese russische Intervention ein massiver Eingriff in ihr Leben, in den Alltag bedeutet, sind solche Sätze zynisch. Aber ebenso zynisch ist es, das augenblickliche Leid von Menschen, um die man sich zuvor nie gekümmert hat, zu instrumentalisieren. Gerade in ethischen Feldern gibt es Zwischentöne. Und fehlen die, geht es nicht um Ethik, sondern um Moral als Mittel des Kriegs. So viel vorneweg zur Gleichsetzung von Putin mit Hitler, im Gebrüll der deutschen Medien vollzogen. Ich komme darauf zurück.

Bei einer ethischen Bewertung auch der russischen Intervention in der Ukraine bleibt jedenfalls der Grundsatz, Krieg darf keine Option sein, eine erste Maxime und damit ist ein erheblicher Einwand gegen das Handeln der Regierung Putin gesetzt.

Krieg trifft Menschen, denen gerade auch im Hinblick auf den vorgebrachten Kriegsgrund keinerlei Schuld zukommt. Er trifft Menschen konkret in der Ukraine lebend, ich wiederhole, die niemals Stepan Bandera verehrt haben, die mit keinen Leuten des Asow-Bataillons verkehren und die nicht die Absicht haben, in irgendeiner Weise Russland oder russische Menschen anzugreifen oder auch nur zu diskriminieren. Und das wiegt schwer. Und gleichwohl ist der Diskurs damit nicht abgeschlossen.

Weiter mit Ethik

Die russische Intervention richtet sich gegen ein Land, in dem die Zivilbevölkerung der Oblaste Donezk und Lugansk seit 2014 von ukrainischen oder mit diesen verbündeten Verbänden beschossen wird. Ein Ende dieses Tötens von Zivilisten an diesen Orten war vor der russischen Intervention nicht in Sicht. Es gab keinerlei Anstrengungen vonseiten der ukrainischen Regierung oder des mit dieser liierten Westens in dieser Richtung.

Die Intervention richtet sich weiter gegen ein Land mit rechtsextremen und faschistischen Kräften, die keine Mehrheit in der Bevölkerung abbilden, jedoch politisch und militärisch einflussreich sind. Die Art und Weise, wie das Asow-Bataillon — ich komme auf dieses zurück — nicht nur geduldet wird, sondern wie offizielle Armeekreise mit diesem kooperieren, ist einer von mehreren Belegen hierfür.

Die Intervention trifft ein Land, in dem führende Politiker mehrmals offen Vernichtungsfantasien hinsichtlich Russland geäußert haben. Die ehemalige Ministerpräsidentin Julia Timoschenko forderte beispielsweise einen atomaren Angriff auf Russen (2). Die Ukraine wäre aber in absehbarer Zeit mit einer militärischen Infrastruktur versehen worden, die es ermöglicht hätte, diese Fantasien Realität werden zu lassen und Moskau — auch atomar — innert weniger Minuten zu erreichen. Erst im Herbst 2021 wurde ein entsprechendes Dokument offiziell zwischen den USA und der Ukraine gezeichnet (3).

Die Intervention trifft weiter ein Land mit etlichen Biolaboren, in denen Gain-of-function-Forschung mit Viren und Bakterien in Kooperation oder vielmehr unter Führung der USA betrieben wurden. Diese Labors zu leugnen beziehungsweise sie als gesundheitliche Einrichtungen auszugeben, ist auch angesichts der US-amerikanischen Panik, die Labors könnten in russische Hände fallen, gänzlich unglaubwürdig. Und nicht nur, dass eine solche Forschung an sich überaus bedrohlich ist — für die lokale Bevölkerung, für Europa, für die Menschheit —, es besteht der begründete Verdacht, dass an biochemischen Waffen gearbeitet wurde, die spezifisch gegen Russland beziehungsweise russisches Erbgut eingesetzt werden können.

Die Intervention trifft aber auch ein Land, indem — dies schon vor dem russischen Eingriff — Menschen „verschwinden“, welche die nationalistische Politik nicht mittragen.

So die 63-jährige Autorin und Bloggerin Miroslawa Berdnik, welche bereits 2016 einmal vom Sicherheitsdienst verhaftet wurde, damals aber aufgrund von Druck aus Israel — sie war 2014 zur Würdigung ihrer politischen Arbeit in die Knesset eingeladen worden — wieder freikam. Berdnik, seit 2014 aus allen offiziellen ukrainischen Medien verbannt, machte am 16. März dieses Jahres, kurz vor ihrem Verschwinden, explizit darauf aufmerksam, dass sie auf der Liste der Organisation „Media Detector“ stünde. Dort sei zu ihrer Beseitigung aufgerufen (4).

Media Detector ist eine Organisation, die über USAID, einer Behörde, welche im Bereich Entwicklungszusammenarbeit die außenpolitischen Aktivitäten der USA koordiniert, von der US-Regierung und einer Reihe westlicher NGOs finanziert wird.

Auch weitere Oppositionelle wurden in diesen Tagen vom ukrainischen Geheimdienst abgeholt oder verschwanden spurlos. Dass Wolodymyr Selensky jüngst sämtliche politischen Parteien im linken Spektrum verboten hat, macht Exponenten aus diesem Spektrum erst recht zu Freiwild für Säuberungen durch nationalistische Gruppierungen oder den Geheimdienst. Nicht dass dies alles genuin ukrainische Muster wären, aber es geschieht auch in der Ukraine und die europäischen Menschenschützer schweigen dazu und linke und grüne Demonstranten auf deutschen und schweizerischen Straßen rufen zu Waffenlieferungen auf.

Eingedenk des politisch-ideologischen Hintergrunds verschiedener Machtstellen in der Ukraine — rechtsradikale, antisemitisch-faschistische, aber auch russophobe Ideologien sind zu nennen — ist es weder russische Paranoia noch Propaganda, in dieser Gemengelage eine reale, konkrete Bedrohung zu erkennen. Jedes andere Land, jede andere Regierung in vergleichbarer Lage käme zu einer ähnlichen Einschätzung.

Schwieriger Abgleich

Der Angriff mit Bio- oder Atomwaffen auf Russland ist bislang nicht erfolgt. Dass ein russischer Präsident, der, die Lage analysierend, folgert, eine solche Vernichtung könnte in kürzester Zeit erfolgen — zumal die NATO seit Jahren in keiner Weise deeskalierend auf Verantwortliche in Politik und Militär in der Ukraine eingewirkt beziehungsweise vielmehr vorhandene nationalistisch konnotierte Aggressionen gegen Russland sich noch zunutze gemacht zu haben scheint —, ist keineswegs von vornherein als geopolitisch motivierter Schachzug zu sehen. Das hat vielmehr ethische Implikationen.

Würde ein solcher Angriff, würden atomare oder biochemische Schläge auf die russische Bevölkerung erfolgen, so ergäbe sich zwingend — und nicht zuletzt aus der Sicht der betroffenen, dann russischen Bevölkerung — eine ethische Verantwortung. Diese Verantwortung richtete sich auch nach der Tatsache, dass die Bedrohung bekannt gewesen ist, seit Jahren. Was hat ein Putin gegen diese Bedrohung unternommen? Das wäre eine der ethischen Fragen, die gestellt würde nach einer Intervention, die, wie bereits erwähnt, atomar oder biochemisch erfolgen könnte. Weshalb — auch dies keine geopolitische, sondern eine ethische Frage — hat Putin das nicht zu einem Zeitpunkt verhindert, als es noch zu verhindern gewesen wäre?

Diese Debatte, die hier nur angedeutet werden kann, müsste naturgemäß differenziert und umfassend geführt werden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt stehen sich unter ethischen Gesichtspunkten eine realistische Bedrohung mit womöglich apokalyptischem Vernichtungspotenzial, die es zu verhindern gilt, und eine militärische Intervention, die aktuell konkret und mit der Begründung, dieser womöglich apokalyptischen Vernichtung zuvorzukommen, vollzogen wird und deren Opfer irreversibel hingenommen werden, gegenüber.

Die Irreversibilität des Schadens und des Leids, ausgelöst durch eine tatsächliche militärische Aktion, also die Tatsächlichkeit und Nichtmehrabwendbarkeit des Schadens, ist meines Erachtens ethisch höher zu gewichten als der womöglich deutlich gigantischere Schaden und das gigantischere Leid, das eintreten könnte, wenn die Intervention unterbliebe, weil, da bislang nur optionales Szenario, immer noch — selbst bei einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit eines Eintreffens — Möglichkeiten gegeben sind, und zwar allein schon dadurch, dass es eben bislang nicht eingetreten ist, dieses Szenario zu verhindern.

Vereinfacht und modellhaft gesehen stehen weniger, aber unausweichliche Tote womöglich beträchtlich mehr Toten gegenüber, die aber zum Zeitpunkt des Abwägens nicht unausweichlich sind.

Verweigerung

Wie gesagt, diese Debatte müsste ausdifferenziert werden, die bloße Skizze eines solchen ethischen Diskurses zeigt aber bereits:

Das russische Vorgehen ist gerade auch ethisch nicht gänzlich einfach zu beurteilen. Selbstschutz ist ein ethisches Argument. Als Präsident hat Putin auch eine Verantwortung gegenüber den Menschen des Landes, in dem er als Präsident fungiert.

Das darf nicht unberücksichtigt bleiben und die ethische Gemengelage verliert weiter noch an Eindeutigkeit, wenn mit in Perspektive genommen wird, dass russische Vorschläge zur Sicherheit und Abrüstung in Europa wie auch Vorschläge zu Kooperationen zwischen Russland und der NATO vom Westen seit Jahren und Jahrzehnten in einem fort zurückgewiesen und oft nicht einmal ernsthaft geprüft werden.

Das gibt Russland wenig Anlass darauf zu vertrauen, dass im Umgang mit der realen Bedrohung durch Waffensysteme auf ukrainischem Boden, womöglich bald atomar bestückt, und durch Biowaffen, entwickelt in mehr als 20 Labors ebenso auf ukrainischem Territorium in unmittelbarer Nähe zu Russland, Lösungen gefunden würden, welche dieses Vernichtungspotenzial in ukrainischen Händen zuverlässig entschärfen könnte. Allein, dass die USA vorgesehen haben, solche Waffensysteme überhaupt zu liefern, beziehungsweise dass die USA diese Labors betreiben, zerstört jedes Vertrauensfundament.

Dass die russische Seite das Verhalten des Westens so interpretieren muss, als ob diese potenzielle Vernichtung vom Westen entweder billigend in Kauf oder gar aktiv angepeilt würde, ist jedenfalls logisch. Und dass dies — aus russischer Sicht — als existenzielle Bedrohung, als Ende Russlands, der russischen Kultur, auch einer orthodoxen Gegenwelt begriffen wird, diese Dimension ist in der westlichen Darstellung sowieso nicht enthalten.

Nikita Michalkow

Der Filmregisseur Nikita Michalkow, der im Jahre 1994 mit Die Sonne, die uns täuscht (deutscher Titel) eine eindrückliche, mit dem Großen Preis der Jury in Cannes und mit dem Oscar für den besten ausländischen Film ausgezeichnete Aufarbeitung des Stalinismus vorgelegt hat, macht exakt diese uns fremde Dimension in einer jüngst veröffentlichten Dokumentation deutlich (5). Auch wenn am Ende klischiert, so lohnt es sich, das anzuschauen.

Konklusion

Gleicht man diese Gemengelage mit Aussagen des einflussreichen US-Geostrategen George Friedman ab, der die Beseitigung oder das Ende Russlands im Grunde als Ziel der amerikanischen Hegemonie mehrmals explizit ausgesprochen hat, so wird das russische Handeln weiter verständlich (6). Es stellt sich nämlich die Frage, ob es bei der Entschärfung dieser Russland existenziell bedrohenden Lage angesichts der konkreten Konstellation auf geopolitischer Ebene tatsächlich Alternativen gegeben hätte.

Die ethische Abwägung der beiden Optionen aus russischer Sicht — Krieg jetzt in der Ukraine versus weiteres Gewährenlassen der Kräfte dort unter Inkaufnahme einer massiven Bedrohung für die russische Bevölkerung und Russlands überhaupt in naher Zukunft — ist unter Berücksichtigung aller oben erwähnten Aspekte, wie gesagt, nachvollziehbar und die russische Entscheidung zumindest keineswegs mit einer hirnrissigen Aktion gleichzusetzen — und schon gar nicht mit Hitlers Vernichtungskrieg. Die ethische Maxime, Krieg darf keine Lösung sein, gilt nämlich auch für einen noch nicht vollzogenen, aber angedrohten und durch verschiedene Handlungen möglichen beziehungsweise wahrscheinlichen Krieg, der deutlich verheerender ausfallen könnte.

Mit alledem wird nicht behauptet, die russische Entscheidung zur militärischen Intervention sei das Ergebnis einer rein ethischen Abwägung. Es ist damit bloß festgehalten, dass im Rahmen einer ethischen Debatte über diesen Krieg all die erwähnten Gesichtspunkte (und wohl noch weitere) mit zum Gegenstand gehören und ein Urteil deutlich komplizierter ist als das, was uns das Gebrüll suggeriert.

Der Westen

Und gerade deshalb muss in einem ethischen Diskurs diesen Krieg betreffend die westliche Seite mit in den Fokus. Es ist zu registrieren, dass Politiker sämtlicher Couleur, vor allem aber links-grüne Exponenten den Faschismus als wesentlich bestimmende Kraft in Politik, aber auch Gesellschaft in der Ukraine fast durchgehend als russische Propaganda verharmlosen. Dass Russland taktisch aus diesem Faschismus für seine Position Vorteile zu ziehen suchte, ihn also in gewisser Hinsicht instrumentalisieren würde, ist nicht auszuschließen und sogar wahrscheinlich. Das ändert aber an seiner Tatsächlichkeit und somit an seiner Verharmlosung, indem man ihn als eine russische Konstruktion darstellt, nichts.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Siehe dazu auch die politische Erzählung „Der Künstler, die Scheiden und der Kinderschänder“ von Teer Sandmann, in „Der Strick des Glücks oder Deutschland geht es gut. Teer Sandmann erzählt Gute-Nacht-Geschichten für Kinder und Keti“, Alitheia 2020.
(2) Siehe dazu https://www.youtube.com/watch?v=OXooBkkCMP0, auch: https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2014/03/25/timoschenko-es-ist-an-der-zeit-die-russen-zu-toeten/ auch: https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Ukraine-Krieg-Stunde-der-falschen-Erzaehlungen/Julia-Timoschenko-von-Russland-nicht-einmal-ein-verbranntes-Feld-uebrig-bleibt/posting-40657243/show/; Timoschenko hat die Echtheit des Gesprächs und die darin enthaltenen Aussagen bestätigt, bis auf den Satz mit den Atomwaffen. Aus meiner Sicht ist der diesbezügliche Widerruf nicht glaubwürdig. Der Satz beginnt leicht überschneidend mit dem Schluss der Aussage ihres Gesprächspartners. Rein technisch deutet nichts auf eine Manipulation. Zudem unterstreicht das von ihr verwendete Bild von einem Russland, von dem nicht einmal verbrannte Erde zurückbleiben soll, der Wunsch nach einer Totalvernichtung, die nur atomar sein kann.
(3) Siehe Charter on Strategic Partnerhip vom 10.11.2021, https://www.state.gov/u-s-ukraine-charter-on-strategic-partnership/, dazu auch der Beitrag „The US-Ukrainian Strategic Partnership of November 2021 and the Russian Invasion of Ukraine“ auf World Socialist Web (https://www.wsws.org/en/articles/2022/03/10/pers-m10.html), weiter macht der Schweizer Parlamentarier und Chefredakteur der Weltwoche Roger Köppel in dieser Weltwoche daily-Sendung auf die verheerende Rolle dieses Dokuments aufmerksam.
(4) https://www.rtde.xyz/europa/134232-terror-in-ukraine-weitere-journalisten-verschwinden/
(5) https://www.rtde.xyz/international/133964-dokumentation-ukraine-krieg-warum-passiert/; mit dem TOR-Browser gelangt man weiterhin zu RT De und anderen Russia-Today-Kanälen.
Der Originaltitel von Michalkows in Cannes prämierten Films lautet „Утомлённые солнцем“ = „Die von der Sonne Ermüdeten“, international bekannt wurde er sowohl unter englischen Titel „Burnt by the Sun“ als auch unter dem französischen „Le soleil trompeur“.
(6) Zum Beispiel hier https://www.youtube.com/watch?v=_bsNpV7dooQ

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