Dabei wirkte es Ende des Jahrtausends, als sei die Phase, in der maßgeblich die USA bestimmten, welche Regierungen in ihrem „Hinterhof“ regieren, an ihre Grenzen gekommen.
Durch die Welle von Wahlsiegen linker und progressiver Kräfte in weiten Teilen des Kontinents schien das dunkle Erbe der Militärdiktaturen endgültig vorbei. Doch weit gefehlt. Es brauchte zwar eine US-Regierung vom Format der Trump-Administration, um die von weißer Überlegenheitsideologie geprägte Monroe-Doktrin auch offiziell wieder zum Leitbild der US-Außenpolitik zu machen (1).
Doch war der imperiale Machtanspruch der USA in Lateinamerika nie tot.
2009 begann in Honduras eine neue Welle von Umstürzen, die teils offen, teils verdeckt von den USA und anderen Staaten gestützt wurden. Dass die US-Regierung unter Barack Obama beim Sturz des damaligen Präsidenten Manuel Zelaya ihre Hände im Spiel hatte, bestätigte im Nachhinein die damalige Außenministerin Hillary Clinton (2). Auch Haiti, dessen Entwicklungen den meisten Medien maximal eine Randnotiz wert sind, wurde wiederholt zum Ziel politischer Interventionen von außen. So auch 2010, als die US-dominierte Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) dort kurzerhand das Wahlergebnis umdrehte (3).
Ende 2012 folgte der parlamentarische Staatsstreich gegen Präsident Fernando Lugo in Paraguay (4) und schließlich 2016 der parlamentarische Putsch gegen Dilma Rousseff in Brasilien (5). Dieser ließ das Land für über zwei Jahre von De-facto-Präsident Michel Temer regieren, in denen der Weg für den Aufstieg des Rechtsaußen-Politikers Jair Bolsonaro geebnet wurde. 2019 schien es zunächst, als sei Venezuela an der Reihe. Doch liefen alle Versuche, die Regierung Maduro zu stürzen, bislang fehl.
Die Bundesregierung will bei dieser Entwicklung offenbar nicht mehr länger am Rande stehen. Parallel zum im Januar gestarteten Umsturzversuch in Venezuela verkündete das Auswärtige Amt ein neu gewonnenes Interesse für Lateinamerika. Bei einer Konferenz mit Amtskolleginnen und -kollegen aus fast allen Staaten Lateinamerikas in Berlin gab Außenminister Heiko Maas (SPD) „den Startschuss für eine neue Initiative mit Lateinamerika und der Karibik“ (6). Venezuela wurde nicht eingeladen.
Die Initiative solle auf „gemeinsamen Werten“ basieren. So präsentierte das Außenamt die Konferenz mit den Worten: „Wir wollen auf der Weltbühne zusammen für Demokratie, Menschenrechte und faire Regeln einstehen.“ Vor dem Hintergrund der jüngsten Äußerungen der CDU-Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer („Ein Land unserer Größe (…), das kann nicht einfach nur am Rande stehen und zuschauen“) und der neuen deutschen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen („Europa muss die Sprache der Macht lernen“ und „eigene Muskeln aufbauen“), kann man solche Formulierungen nur als Drohung verstehen.
So ergeben auch die Weichenstellungen in der deutschen Lateinamerikapolitik allein 2019 Sinn. Denn was mit „fairen Regeln“ gemeint sein könnte, demonstrierte die Bundesregierung zunächst in Venezuela und dann in Bolivien.
Im ersten Fall hatte sich in einer maßgeblich aus den USA orchestrierten Inszenierung der bis dahin unbekannte Parlamentspräsident Juan Guaidó selbst zum Präsidenten des Landes erklärt. Dabei stützte er sich auf eine äußerst abenteuerliche Auslegung der venezolanischen Verfassung, auf breite Unzufriedenheit und Proteste im Land und auf die Unterstützung von außen. Nur wenige Minuten nach seiner Proklamation bestätigte ihm US-Präsident Trump per Twitter die Anerkennung und eine Reihe vor allem rechtsregierter Länder folgten.
Auch die Bundesregierung wollte „nicht einfach nur am Rande stehen und zuschauen“. So setzte sie der Regierung von Präsident Nicolás Maduro zunächst ein Ultimatum und erklärte dann nach etwa zwei Wochen gemeinsam mit der Mehrheit der EU-Staaten die Anerkennung Guaidós als Präsident Venezuelas. Einer der vielen Haken an der Sache: Guaidó hatte — und hat bis heute — keinerlei reale Macht in Venezuela, die über sein Amt als Parlamentspräsident hinausginge. So attestierten auch die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages, dass die Anerkennung völkerrechtswidrig war. Ungeachtet dessen verteidigt die Bundesregierung bis heute ihre Unterstützung der US-geführten Politik für einen Regime Change in Venezuela.
Im Umgang mit Bolivien lässt sich das Verständnis der Bundesregierung für „faire Regeln“ aktuell in Echtzeit beobachten. Dort hatte der langjährige Präsident Evo Morales am 20. Oktober 2019 ein weiteres Mal deutlich eine Wahl gewonnen. Doch von der OAS ohne Belege verbreitete Aussagen über angeblichen Wahlbetrug feuerten die bestehenden Proteste gegen die Regierung an (7). Sie schufen ein Ambiente, in dem Morales zunächst einer Neuwahl zustimmte und dann auf Druck von Militär und Polizei gemeinsam mit seinem Vizepräsidenten Álvaro García Linera seinen Rücktritt erklärte. Beide flohen nach Mexiko, wo sie politisches Asyl erhielten. In einem zweiten Akt des Putsches erklärte sich die Vizepräsidentin des Senats zur Übergangspräsidentin, nachdem alle verfassungsgemäßen Nachfolgerinnen und Nachfolger des Präsidenten unter Drohungen und Gewaltanwendung ihre Rücktritte erklärt hatten.
Dazu gehörte der Präsident der Abgeordnetenkammer Víctor Borda von Morales‘ MAS-Partei. Nachdem sein Haus niedergebrannt wurde, hatte er im Zuge seiner Rücktrittserklärung die Entführer seines Bruders aufgerufen, diesen freizulassen (8). Er begründete seinen Rücktritt damit, weitere Aktionen gegen seine Familie vermeiden zu wollen. Ähnlich erging es der Präsidentin des Senats, Adriana Salvatierra. Sie sei „Opfer des gleichen Drucks“ gewesen und ihre Familie sei in Gefahr gebracht worden, erklärte sie (9).
Was folgte, gleicht geradezu einem Lehrbucheintrag für einen rechten Staatsstreich: Die Putsch-Präsidentin, die in der Vergangenheit durch rassistische Äußerungen gegen die indigene Bevölkerungsmehrheit aufgefallen war, zog mit einer überdimensionalen Bibel in den Präsidentenpalast ein und verkündete, Gott sei dorthin zurückgekehrt.
Sie ernannte eine durchweg weiße Regierung und garantierte dem Militär per Dekret Straffreiheit bei der Niederschlagung der Proteste gegen den Umsturz. Ihr Innenminister rief ohne Umschweife zur „Jagd“ auf seinen Vorgänger auf, der ein Tier sei und sich „vom Blut des Volkes ernähre“.
Als deutlichster Ausdruck des Rassismus der von weißen Eliten getragenen Unterstützer des Putsches wurde vielerorts die Wiphala öffentlichkeitswirksam verbrannt. Dieses Symbol der indigenen Nationen der Anden war unter Morales zur zweiten offiziellen Flagge Boliviens gemacht worden. Dutzende Menschen wurden von Polizei und Militär erschossen und hunderte verletzt. Kritische Medien wurden bedroht und Sendern wie Telesur und dem russischen RT das Signal abgedreht.
Für die Bundesregierung ist all dies bislang kein Grund gewesen, auch nur ein kritisches Wort zu finden. Im Gegenteil. Zwar gratulierte sie nicht wie die Grünen dem bolivianischen Militär, das die „richtige Entscheidung“ getroffen habe (10). Sie hielt sich an ihre diplomatischen Floskeln und „begrüßte“ aber den erzwungenen Rücktritt von Evo Morales umgehend „als einen wichtigen Schritt hin zu einer friedlichen Lösung“ (11). Zu rechtfertigten versuchte sie dies mit übertriebenen Aussagen bezüglich Unregelmäßigkeiten bei der Wahl, die nicht einmal der ohnehin schon fragwürdige Bericht der OAS enthielt.
Ihre Aussage, dass nun sichergestellt werden müsse, „dass die verfassungsmäßigen Institutionen, insbesondere das Parlament, dafür sorgen können, dass Bolivien möglichst schnell wieder eine funktionsfähige Interimsregierung bekommt, um den Weg zu Neuwahlen vorzubereiten“, vergaß die Bundesregierung dann aber lieber schnell wieder. Denn das Parlament wurde bei der Machtübernahme durch Áñez offenkundig umgangen. Nach ihrer Selbstproklamation dauerte es nicht lange, bis die Bundesregierung auch diese begrüßte, weil „das Machtvakuum nicht länger andauert“ (12).
Nachfragen in Bezug auf die Rechtmäßigkeit der Machtübernahme durch Áñez weicht sie aus und verweist auf die Hoffnung, dass nun freie und faire Wahlen alle Probleme überwinden helfen. Aufrufe zur Mäßigung und zum Gewaltverzicht richtete sie an „alle Seiten“; ein merkwürdiges Verständnis, wenn gerade das Militär mit scharfer Munition Proteste gegen einen Staatsstreich niederschlägt. Ohne es offen zu sagen, stützt die Bundesregierung dadurch den rechten Putsch in Bolivien.
Eine der letzten Amtshandlungen der gestürzten bolivianischen Regierung war es, ein gemeinsames Projekt des deutschen Unternehmens ACI mit dem bolivianischen Staatsunternehmen YLB zum Abbau von Lithium zu beenden. Just bei diesem Rohstoff, der zum Bau von Batterien beispielsweise für Elektro-Autos benötigt wird, dürfte die Nachfrage angesichts der Klimakrise zukünftig stark steigen. Dass die Entscheidung der Regierung Morales sich zeitlich mit dem Putsch überschneidet, mag Zufall sein. Der Vorgang steht aber geradezu sinnbildlich für die neuen Ambitionen Deutschlands und der EU, auf der globalen Bühne mehr mitzumischen und eigene geopolitische und wirtschaftliche Interessen durchzusetzen.
Bislang geschieht dies noch weitgehend am Rockzipfel der USA und bleibt immer auf deren Linie. Dies könnte sich in Zukunft ändern. Bedauerlicherweise jedoch nicht dahingehend, dass sich die Bundesregierung von der Interventionspolitik der USA emanzipieren würde, sondern vielmehr in Richtung einer eigenständigen Einmischung zur Durchsetzung „deutscher“ oder „europäischer“ Interessen.
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.heise.de/tp/features/USA-kehren-nun-auch-offiziell-zur-Monroe-Doktrin-zurueck-4405302.html
(2) https://www.democracynow.org/2016/4/13/hear_hillary_clinton_defend_her_role
(3) cepr.net/publications/reports/analysis-of-the-oas-missions-darft-final-report-on-haitis-election
(4) https://amerika21.de/analyse/52963/hintergrund-putsch-paraguay
(5) https://amerika21.de/analyse/200430/brasilien-putsch-putsch
(6) https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/regionaleschwerpunkte/lateinamerika/lateinamerika-karibik-initiative/2219874
(7) https://amerika21.de/analyse/234401/bolivien-keine-beweise-wahlbetrug-oas
(8) https://www.europapres.es/internacional/noticia-presidente-camara-diputados-bolivia-dimite-denuncia-hermano-sido-secuestrado-20191110191142.html
(9) https://tn-com.ar/internacional/la-expresidenta-del-senado-de-bolivia-denuncio-amenazas-para-reconocer-anez-pusieron-en-riesgo-mi_1010663
(10) https://www.bundesregierung,de/breg-de/suche/regierungspressekonferenz-vom-11-november-2019-1690756
(11) https://www.gruene-bundestag.de/presse/pressemitteilungen/historischer-moment-in-bolivien
(12) https://www.bundesregierung,de/breg-de/aktuelles/regierungspressekonferenz-vom-20-november-2019-1694890