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Fürchtet euch!

Fürchtet euch!

Mehr Knecht Ruprecht als Weihnachtsmann, würzt unser Staat dieses Fest mit Strafen und Drohgebärden — dafür gibt es traditionelle Vorbilder.

Die Adventszeit ist eigentlich eine Zeit der Vorbereitung auf das Fest. Immer wieder gerne werden Kerzenschein und Plätzchenduft erwähnt, raschelndes Geschenkpapier und Weihnachtslieder auf der Blockflöte.

Jedes Jahr wieder träumen wir von der idealen Familienweihnacht im Kreise der Lieben. Strahlende Kinderaugen, wohliges Seufzen der Alten und ein allseits wärmendes Gefühl der Gemeinschaft: Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.

Dieses Jahr ist wieder einmal alles anders.

Eine gefürchtete Alte geht um und verdirbt uns das Fest. Sie wirft uns vor, zu viel zu feiern, geradezu zügellos in unserer Genusssucht zu sein. Wir seien zu leichtsinnig, dem Alkohol verfallen und stets auf Vergnügen aus. Wir suchten die Gemeinschaft, das Familienglück und die Liebe, statt uns ganz auf sie zu konzentrieren. Wir würden uns nicht an ihre Regeln halten. Sie vermisst bei uns Dankbarkeit. Dafür droht sie mit Strafen. Weihnachten muss ausfallen, die Weihnachtsmärkte sowieso, Geschenke-Shoppen auch.

Die Alte drängt sich ungebeten in unsere Häuser. Sie erscheint nächtens in unseren Wohnzimmern, ohne dass wir ihr die Tür geöffnet hätten. Sie schimpft und droht, sie maßregelt und verbietet. Begleitet wird sie von einer Schar ungehobelter Gesellen, die mit der Peitsche knallen und sich darin überbieten, die angekündigten Strafen durchzusetzen.

Dabei schien die Wilde Bertha eigentlich schon fast vergessen. Nur in wenigen ländlichen Gebieten hat sie über die beiden Weltkriege hinaus als Brauchtumsfigur überlebt, ohne dass man so recht etwas mit ihr anzufangen weiß oder gar eine Ahnung von ihrer einstigen Bedeutung hätte.

Wer von der Wilden Bertha noch nie etwas gehört hat, kennt sie vielleicht unter dem Namen Frau Holle (Hessen/Thüringen), Tante Arie (Frankreich), Baba Yaga (Russland), Percht (Alpenraum) oder Befana (Italien). Luther beschrieb sie als die „Alte mit der Potznase“. Bei Tacitus wird eine germanische Göttin Nerthus erwähnt, eine Verkörperung der Mutter Erde, die ihr ähnelt.

Die Wilde Bertha tritt in den dunkelsten Winternächten auf. Sie fliegt im Sturmesbrausen durch die Luft und dringt in die Häuser ein. Sie kontrolliert, ob nach ihren Regeln ordentlich gewirtschaftet wurde. Wo sie Unordnung vorfindet, Schmutz und Chaos, straft sie unbarmherzig. Die Brutalität ihrer Strafen ist Zeichen göttlichen Zorns, denn ihre Macht ist unbeschränkt und sprengt das menschliche Maß. Die Wilde Bertha bestimmt über Leben und Tod, Gesundheit und Krankheit und kann alle Naturgesetze außer Kraft setzen.

Damit kommen wir zur Wurzel dieses Mythos, der in ganz Europa bekannt war. Überall wurde diese mächtige weibliche Figur verehrt und gefürchtet. Sie war die personifizierte Mutter Natur oder Mutter Erde, die Kraft des Weiblichen, die Quelle des Lebens. Mithin eine zentrale Figur, die in der Frühzeit als die Große Göttin bezeichnet wurde.

Unsere bäuerlichen Vorfahren riefen sie an, wenn sie Gesundheit und Kraft von Mensch und Vieh fürs neue Jahr erflehten. Wer Leben schenkt, kann es auch nehmen. Stürme und Kälte brachten Hunger, Krankheit und Tod. Unsere Vorfahren waren sich dessen sehr bewusst, wenn sie in ihren dunklen Hütten darum beteten, dass alle die lange, zermürbende Winterzeit überstehen möchten.

Bevor wir durch Verstädterung und Industrialisierung eine neue Lebensweise annahmen, fanden die zahlreichen Feste und Rituale der Winterzeit in ihrem Namen und in ihrer gefühlten Anwesenheit statt. Begleitet wurde sie häufig von einer männlichen Figur, dem Nikolaus oder Knecht Ruprecht — auch Klaubauf, Hans Trapp, Pelzmärtel —, der ebenfalls schenkend und strafend, wild und urtümlich auftrat. Diese Figur wurde von der Kirche usurpiert, mit Namen von männlichen Heiligen versehen — Nikolaus, Martin, Thomas — und mit entsprechenden Legenden umrankt. Die Kostümierung mit Pelzmantel, Rute und Schellengürtel ließ allerdings immer noch gut die vorchristliche Herkunft erkennen.

Die weibliche und die männliche Umzugsgestalt agierten ähnlich und brachten durch ihre bloße Präsenz göttlichen Segen für das neue Jahr. Bei ihren nächtlichen Besuchen beschenkten sie die Braven, Ordentlichen und Arbeitsamen mit den Gaben der Natur. Sie brachten Äpfel, Nüsse und Gebäck. Das waren Geschenke, die den Keim des Lebens in sich bargen, Symbole der Zeugungs- und der Lebenskraft.

Aber die Gestalten kontrollierten auch jeden Einzelnen, ob er die göttlichen Regeln beherzigte, indem er sein Leben strukturierte. Davon ist nur die Frage an die Kinder übrig geblieben, ob sie recht artig gewesen seien.

Vom ungebärdigen Nikolaus wurde noch bis in die jüngste Zeit erzählt, dass er die bösen Kinder im Sack mitnähme. Das tat andernorts die Wilde Bertha. Sie konnte aber auch anders. Sie blies denen die Augen aus, die versuchten, sie zu erspähen. Diese Eigenschaft gab sie an das Christkind weiter, das in dieser Hinsicht gar nicht so freundlich ist, sondern die urtümliche Kraft und Strenge seiner Ahnmutter erkennen lässt. Die Wilde Bertha schlitzte den Bauch auf, wenn man zu Weihnachten und Neujahr etwas anderes als die ihr geweihten rituellen Speisen aß. Deshalb hält man sich bis heute am besten zu Weihnachten beziehungsweise Neujahr an Braten und Karpfen, an Linsen und Bohnen.

Im Gegensatz zum christlichen Gott drohte die Wilde Bertha nicht mit ewiger Verdammnis. Alle ihre Strafen galten nur für ein Jahr. Denn mit jedem Frühjahr beginnt wieder der ewige Kreislauf der Natur mit Säen und Ernten, mit Gebären und Sterben. Deshalb kommt die Wilde Bertha, die ursprüngliche Mutter Natur, alle Jahre wieder, kehrt mit ihrem Segen ein in jedes Haus.

Wer also das Original kennt, braucht die Drohgebärden der Nachahmer nicht wirklich zu fürchten.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Renate Reuther, Enthüllungen über Holle, Percht und Christkind: Eine kleine Kulturgeschichte des Weihnachtsfestes, Engelsdorfer Verlag
(2) Arte Doku „Die Wurzeln des Weihnachtsfestes“

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