Veränderte Bedingungen für Anti-Kriegspolitik
Nach dem Ende der Konfrontation zwischen NATO und Warschauer Pakt, die zu einer Zweiteilung der Welt geführt hatte, kann mit dem wirtschaftlichen Erstarken Chinas und der Öffnung Russlands zur Welt von einer solchen Zweiteilung nicht mehr gesprochen werden. Es sind verschiedene Kraftzentren entstanden, die je nach den jeweiligen nationalen Interessen zu Koalitionen führen können, die die Architektur der Kräfteverhältnisse in der Welt stetig verändern. Die Gründung der Europäischen Union als eine sich allmählich verfestigende politische Einheit hat die bestimmende Rolle der USA in der sogenannten Westlichen Wertegemeinschaft (WWG) geschwächt. Wie der derzeitige Handelsstreit zwischen der EU und den USA oder die Streitigkeiten um die Spionagetätigkeit der amerikanischen Geheimdienste zeigen, herrscht zwischen den beiden nicht immer eitel Sonnenschein. Trotz aller Geschlossenheit – besonders im Rahmen der NATO – deuten gegenseitige Rücksichtnahmen auch auf Einschränkungen der Interessen des jeweils anderen hin.
Die aggressive Politik der USA und der NATO hat die Annäherung zwischen Russland und China begünstigt. Die Türkei entfernt sich zunehmend von der NATO zugunsten einer Intensivierung ihrer Beziehungen zu Russland, was das Kräfteverhältnis zwischen diesen beiden Rivalen verschiebt. Das chinesische Konzept der Seidenstraße zehrt am wirtschaftlichen und damit auch politischen Einfluss des Westens in Asien und auch Afrika. Die WWG ist schwächer geworden. Ihre Werte offenbaren sich zunehmend als mit Moral überzuckerte wirtschaftliche und politische Interessen.
Zudem können sich westliche Regierungen und ihre Politiker nicht mehr auf den Rückhalt der eigenen Bevölkerung verlassen. Ihre Propaganda verfängt nicht mehr, da sich die Menschen zunehmend über unabhängige Medien im Internet informieren, so dass das Monopol der privaten und öffentlich-rechtlichen Informationsanbieter verloren ging. In nachlassender Teilhabe an der offiziellen Politik, zu sehen beispielsweise am Mitgliederschwund der Parteien und an der abnehmenden Wahlbeteiligung, offenbart sich die Politikverdrossenheit vieler Bürger.
Diese wachsende Distanz zwischen Bevölkerung und den herrschenden Kreisen drückt sich auch in der nachlassenden Bereitschaft für Kriegseinsätze aus. Besonders für die westlichen Regierungen wird es immer schwerer, Auslandseinsätze mit eigenen Truppen durchzuführen. Sie sind auf andere Organisationen und Staaten als Truppensteller angewiesen, seit die allgemeine Wehrpflicht – wie auch in Deutschland – weitgehend durch Berufssoldatentum ersetzt worden ist. Insofern hat im Vergleich zum Vietnamkrieg, aber auch den Einsätzen der jüngeren Zeit in Afghanistan und im Irak die Fähigkeit, Kriege zu führen, erheblich nachgelassen.
Der wesentliche Unterschied aber ist, dass mit der Blockkonfrontation auch eine ideologische Konfrontation verbunden war, der Kampf zwischen Sozialismus und Kapitalismus, zwischen „Diktatur und Freiheit“. Die herrschende Klasse des Westens hat es durch ihr Monopol über die Informationsverbreitung verstanden, den eigentlichen Adressaten des Sozialismus, den „einfachen“ Menschen, der Arbeiterklasse, Angst vor dem Sozialismus einzujagen. Es ist ihr gelungen, die eigene Angst vor der Enteignung der Produktionsmittel zu einer Angst vor Enteignung des privaten Besitzes allgemein zu machen, was aber niemals Ziel des Sozialismus war. Die Menschen im Westen sahen deshalb nicht nur im Militärpotential des Warschauer Paktes eine Bedrohung, sondern auch in den politischen Bestrebungen der Kommunisten, die ja die Führer dieses Bündnisses waren.
Trotzdem ist die Friedensbewegung schwach
Die heutige Friedensbewegung jedoch trägt allen diesen Veränderungen bisher nicht Rechnung. Sie ist verhaftet im Denken und den Mustern der 1980er Jahre, erstarrt in wirkungslosen Ritualen und Folklore. Sie beschwört die Kriegsgefahr, appelliert an die Einsicht der Regierenden und argumentiert mit Moral und Völkerrecht, so auch Wagenknecht in ihrer Rede vor dem Brandenburger Tor. Aber weder Wagenknecht noch die Friedensbewegung insgesamt machen Vorschläge, die eigene Handlungsmöglichkeiten aufzeigen und damit die Kraft der Bewegung stärken könnten.
Das Gefühl der Rat- und Hilflosigkeit wird zudem noch verstärkt, wenn einige Bundestagsabgeordnete in Verkennung der Wirklichkeit Putin und Trump in einen Topf werfen, das militärische Handeln Assads und Russlands mit dem der NATO und der USA in Syrien gleichsetzen. Vielleicht denken viele Menschen in der Friedensbewegung wirklich so, vielleicht glauben sie aber einfach nur, sich mit dieser Gleichmacherei unangreifbar zu machen oder neutral zu wirken. Die Gleichsetzung der syrisch-russischen Kriegsmotive und der westlich-amerikanischen ist falsch. Sie entspricht nicht den Tatsachen und vor allem eröffnet sie keine Handlungsmöglichkeiten.
Wie will man der Eskalation im eigenen Land entgegentreten, wenn Vertreter der Friedensbewegung behaupten, die Russen seien keinen Deut besser als die USA und die NATO, weil beide Bomben werfen? Das ist vielleicht gut gemeint, aber nur oberflächlich und dem Anschein nach richtig. Wie soll sich der Bürger, der keinen Krieg will, engagieren, wenn er den Eindruck haben muss, nur zwischen Pest und Cholera wählen zu können? Er hat doch dann das Gefühl, Russland zu stärken, wenn er die eigene Regierung kritisiert. Und warum sollte er das tun, wenn die einen genau so schlimm sind wie die anderen? Dann hält er sich doch lieber aus allem raus und erspart sich Ärger.
Im Gegensatz zu heute war in den Hochzeiten der Friedensbewegung der 1980er Jahre die Gleichsetzung von Ost und West fortschrittlich. Sie eröffnete Handlungsmöglichkeiten. Damit hatte sich in einer breiten Öffentlichkeit der Gedanke durchgesetzt, dass auch „der Russe“ keinen Krieg will. Das war zu jener Zeit ein erheblicher Fortschritt in Erkenntnis und Bewusstsein. Dank dem Informationsmonopol der herrschenden Klasse war bis dahin „der Russe“ im Weltbild der meisten West-Deutschen der Kriegstreiber, der nichts anderes im Sinn hatte, als „uns“ zu überfallen und zu unterwerfen. Dank der Friedensbewegung der 1980er Jahre war der Russe ein Mensch wie jeder andere. Das gab der Forderung nach Abrüstung eine ganz andere Kraft. Denn wenn der Russe ein Mensch war wie du und ich, brauchte man vor ihm keine Angst zu haben und folglich auch kein riesiges Waffenarsenal anzuschaffen, das „uns“ vor ihm schützt.
Nur, dieses Solidaritätsprinzip, wie das Bewusstsein des gemeinsamen Untergangs im Atomkrieg hier bezeichnet werden soll, ist heute keine Grundlage der Debatte um Krieg und Frieden mehr. Die Gesellschaft hat sich gewandelt. Die Solidarität ist weitgehend dem Rentabilitäts- und Kostendenken zum Opfer gefallen. Auch wenn manche Friedensbewegte und Idealisten immer noch an moralischen Werten und Rechtsgrundsätzen festhalten, hat der überwiegende Teil der Gesellschaft diese als illusorisch gelegt. Denn viele merken oder erfahren auch selbst in ihrem Alltag, dass Recht und Moral gegenüber dem Wirtschaftlichkeitsdenken immer wieder den Kürzeren ziehen.
Aber das ist auch eine Chance für die Friedensbewegung und diejenigen, die gegen die ständige Ausweitung der Feindseligkeiten angehen wollen. Denn Militär und Kriegseinsätze kosten Geld, das angeblich ansonsten knapp ist, wenn es um die grundlegenden Bedürfnisse der Bevölkerung geht. Dennoch hat sich Deutschland vor wenigen Tagen mit einer Summe von etwa 1 Mrd. Euro in ein Format eingekauft, das der Schaffung einer Friedensordnung in Syrien dienen soll. In diesem Format aber sind mit den USA, Großbritannien, Frankreich, Saudi-Arabien und Jordanien nur Gegner der syrischen Regierung vertreten. Es steht zu bezweifeln, dass dabei um eine Nachkriegsordnung entstehen wird, die den Interessen der Mehrheit der syrischen Gesellschaft entspricht.
Statt also über die Verletzung des Völkerrechts zu lamentieren und die Ängste vor dem Dritten Weltkrieg zu befeuern, sollten die maßgeblichen Kräfte der Friedensbewegung in erster Linie der deutschen Bevölkerung immer wieder deutlich machen, welche finanziellen Opfer ihr bei diesen Kriegsspielen abverlangt werden. Da schüttelt die Kanzlerin eine Milliarde aus dem Ärmel, die die Leiden in Syrien nicht lindert und den Menschen in Deutschland fehlt. Wenn auch der Krieg – noch nicht – im eigenen Land stattfindet, so verschlechtern die Kosten der militärischen Engagements die Lebensverhältnisse in Deutschland ganz erheblich. Das sollte der Tenor der weiteren Argumentation im Kampf gegen den Rüstungswahnsinn sein.
Die Friedensbewegung sollte ständig die Kosten der Kriege in Afghanistan und allen anderen Ländern, an denen sich Deutschland beteiligt, aufzählen und diesen Summen gegenüberstellen, für welche Bedürfnisse der Bevölkerung dadurch das Geld fehlt. Die moralische Empörung sollte ersetzt werden durch das kalte rechnerische Kalkül, durch die Aufstellung der Summen, die den Menschen in unserem Lande vorenthalten werden. Schlagt die Propagandisten der Schwarzen Null mit den eigenen Waffen. Rechnet der Bevölkerung vor, was die Kriege kosten. Lasst sie davon träumen, was mit dem Geld möglich wäre. Rechnen, nicht jammern und wehklagen!
Bombardieren wir die Menschen in unserem Land mit Zahlen, statt die Menschen in anderen Ländern mit Granaten. Rechnen wir ihnen vor, was die Anhebung des Verteidigungshaushaltes auf 2 Prozent des BIP bedeutet. Rechnen wir ihnen vor, wie viele Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser und Schwimmbäder davon gebaut oder erhalten werden könnten, wie viele Straßen repariert, wie viele Lehrer eingestellt werden könnten, wie viele Pflegekräfte, wie viele Ärzte und Krankenschwestern zur Verbesserung der ärztlichen Versorgung. Um wie viel könnten die Ärmsten der Armen, die Empfänger von Hartz IV und die Arbeitslosen entlastet werden? Um wie viel könnte das Leben lebenswerter werden? Verbinden wir den Kampf gegen den Krieg mit der sozialen Frage!
Wagenknecht hat vor dem Brandenburger Tor gefordert, dass sich noch „viel, viel mehr“ für Frieden einsetzen müssen. Aber, werte Sahra Wagenknecht, die Menschen sind doch da! Es waren doch immerhin über Tausend, die gekommen sind, um Vorschläge für ihr eigenes engagiertes Handeln zu hören. Nur stellt sich die Frage: „Was schlägst du ihnen vor?“ 1500 Menschen können viel erreichen, wenn man ihnen Vorschläge machen kann, die sie als sinnvoll, umsetzbar und erfolgversprechend ansehen.
Also lasst uns darüber nachdenken, wie wir diejenigen mobilisieren können, die nicht damit einverstanden sind, dass der Reichtum, den die Menschen hierzulande erarbeiten, genutzt wird, um den Menschen in anderen Ländern die Lebensgrundlage zu zerstören oder sie zu töten. Lasst uns darüber diskutieren, wie wir diejenigen erreichen können, die nicht damit einverstanden sind, dass sie sich an Tafeln anstellen sollen, um von Resten zu leben, während die politisch Verantwortlichen das Geld anstatt für Lebensmittel für Tod und Zerstörung in Syrien und Afghanistan investieren.
Sahra Wagenknecht: „Nein zum Krieg!“