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Freiwillig Mensch sein

Freiwillig Mensch sein

Auch wenn die Mehrheit die Führung durch Vater Staat zu bevorzugen scheint, kann eine Minderheit ihre Freiheit bewahren.

Die Umprogrammierung meines Gehirns schreitet jeden Tag voran. Immer wieder entdecke ich einen weiteren unhinterfragten Glaubenssatz, der sich unbemerkt an all meinen Erkenntnissen zur Scheinwelt, in der ich bis vor ein paar Jahren lebte, vorbeischlich. Anarchie verband ich bisher mit Chaos und Gefahr, einem Zustand, den es absolut zu vermeiden gilt. Und nun stelle ich fest, dass ich eine Ultra-Anarchistin bin, da Anarchie — wie ich gleich zu Beginn der „Auf Augenhöhe“-Sendung zum Thema „Freiheit, Staat oder Anarchie?“ von Jens Lehrich erfahre — lediglich die Abwesenheit von Herrschaft bedeutet, also das Vertrauen, dass Menschen sich auch ohne Staat oder einen Chef organisieren und gut miteinander leben können.

Dass viele Menschen ein so negatives Bild von der Anarchie haben, könnte gewollt sein. Vergleichbar mit meinen Vorurteilen gegenüber Feminismus, Spiritualität und Vegetariern oder noch schlimmer — Veganern. Inzwischen sind all diese Bewegungen zu einem Teil von mir geworden. Ich erkannte, wie genial ihre Lösungsansätze für viele der durch den Neoliberalismus ausgelösten Probleme sind und zudem gefährlich für das herrschende System.

Ich sehe mir die zweieinhalbstündige Sendung vor allem an, weil Sven Böttcher und Jens Lehrich mit von der Partie sind, deren Beiträge mich immer wieder aufs Neue bereichern. Doch auch die Aussagen und der Humor der mir bisher unbekannten Teilnehmer Manuel Maggio, Tom Lausen und Peter Müller begeistern mich. Mein Horizont wurde einmal mehr ein ganzes Stück erweitert. Vor allem schöpfe ich nach Ansehen des Videos wieder neuen Mut, meinen individuellen Weg weiterzugehen, auch wenn viele meiner Mitmenschen einen anderen Weg wählen.

Trotz der entmutigenden Erkenntnis, dass die große Mehrheit der Bevölkerung einen starken Staat bevorzugt, haben die Gesprächsteilnehmer Auswege für den interessierten und freiheitsliebenden Zuschauer parat: die individuelle Ebene, ins Handeln kommen, seinen Fokus darauf legen, was wir aktuell machen, anstatt lediglich zu kritisieren, was es zurecht zu kritisieren gibt.

Tom Lausen geht sogar so weit, uns daran zu erinnern, dass sich die Dinge auch fügen. Eines nach dem anderen. Anstatt die große Utopie, den Wandel für die Weltbevölkerung anzustreben, können wir uns auf die kleinen Schritte besinnen. In ihrem Resümee stimmen Manuel Maggio und Peter Müller darin überein, dass ihre Erkenntnisse bei einem Individuum viel mehr fruchten als bei großen Gemeinschaften.

Die Grundfrage hinter all den „Auf Augenhöhe“-Sendungen heißt: „Wie wollen wir in Zukunft leben?“. Die traurige Wahrheit lautet allerdings: Kaum jemand stellt sich und anderen diese Frage, obwohl vermutlich die Mehrheit der Menschen im aktuellen System leidet.

Da erwähnt Peter Müller ein Buch, das er soeben übersetzt hat: „Der Nutzmensch“. Auch ich dachte oft, wenn ich Menschen über Tierquälerei sprechen hörte, dass wir ja nicht einmal in der Lage sind, unserer Art gerecht zu leben. Warum rennen tagtäglich alle wie verrückt dem Geld hinterher, opfern ihre kostbare Lebenszeit für Bullshit-Jobs, fühlen sich überfordert und getrieben oder aber ohne eine andere Wahl, da sie denken, sonst nicht überleben zu können?

Schließlich gelangt die Gesprächsrunde über das Thema Angst als Herrschaftsinstrument zum Thema Tod, der in unserer modernen Gesellschaft völlig ausgeblendet wird.

Und auch hier kann jeder wieder die Macht über sein Leben erlangen: Indem er sich seiner Angst vor dem Tod stellt. Oder wie Jens Lehrich immer wieder gern sagt: der Angst vor dem nicht gelebten Leben. Denn wer sein Leben wirklich lebt, aktiv selbst gestaltet, der hat keine Angst mehr vor dem Tod. Denn er geht lieber das Risiko ein zu sterben, als sich seine Lebendigkeit durch staatliche Verordnungen nehmen zu lassen.

Wie die Zukunft für die Menschheit aussieht, kann niemand wissen. Doch jeder einzelne kann sich sofort fragen, wie er oder sie leben möchte, und diese Vision dann Schritt für Schritt im Alltag und im eigenen Wirkungskreis umsetzen.

Gut tat auch die Erinnerung der Gesprächsteilnehmer, dass selbst wenn die Masse freiwillig in den Totalitarismus rennt, die freiheitsliebenden Menschen einen Weg finden werden, ihre Visionen zu leben und sich gegenseitig zu helfen.

Peter Müller geht noch weiter und sagt, dass wir auch die Menschen, die derzeit noch obrigkeitshörig sind, nicht unterschätzen sollten. Durch seine Erfahrung im Vereinsleben weiß er, dass Menschen einander in der Not helfen und Talente in ihnen schlummern, die zuvor niemand vermutet hätte. Seine Tipps: Vertrauen gewinnen, indem man beginnt, von sich aus zu geben, und bei Unterhaltungen bewusst bestimmte kritische Begriffe zu vermeiden, um das Gegenüber nicht abzuschrecken.

So würde er seinen Mitmenschen zum Beispiel nicht sagen, dass er ein absoluter Anarchist ist, sondern, dass er sich für Freiwilligkeit und Freiheit einsetzt.

Also ist die Frage der Sendung „Freiheit, Staat oder Anarchie?“ auf die ganze Gesellschaft bezogen sicher schwer zu beantworten, da — beim aktuellen Bewusstseinszustand der Bevölkerung — kaum jemand den Staat von heute auf morgen abschaffen möchte, aber privat kann sich jeder entscheiden: Freiwillig Nutzmensch oder ein freier Mensch zu sein.


FairTalk — „Auf Augenhöhe“: Jens Lehrich im Gespräch mit Manuel Maggio, Tom Lausen, Sven Böttcher und Peter Müller zum Thema „Freiheit, Staat oder Anarchie?

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