Die letzte Pressekonferenz von Mario Draghi am 10. Januar 2022 begann mit den folgenden Worten: „Wir haben (in der Pandemie) sehr gut gehandelt. Die Probleme, die wir noch haben, hängen von den Ungeimpften ab.“ Die Ungeimpften sind schuld. Das sagt nicht irgendein Spinner in einer Kneipe nach dem dritten Schnaps, sondern der bewunderte, von der internationalen Finanzwirtschaft hoch angesehene, ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB); derjenige, den die italienischen Medien als il migliore, der Beste, bezeichnen.
Nach einer zehnjährigen Wirtschaftskrise, einer zwei Jahre langen Pandemie, einem endlosen Lockdown, der der italienischen Wirtschaft den Rest gegeben hat, und einer aufgezwungenen Impfkampagne, die die Ungeimpften an den Rand der Gesellschaft vertrieben und das Land tief gespalten hat, ist der Ungeimpfte schuld, wenn die Infektionszahlen deutlich steigen — die ökonomischen Indikatoren aber nicht —und nicht ein Impfstoff, dessen Wirkung mindestens fragwürdig wäre. Aber den Impfstoff zu hinterfragen, ist ein Tabu. Niemand darf dem heiligen Serum auch nur den geringsten Vorwurf machen, ohne dass ihn die regierungsnahen Medien und „social“ Medien als antiwissenschaftlichen no-vax, als dickköpfigen Impfgegner kreuzigen.
Mario Draghi, der nach dem Rücktritt von Giuseppe Conte im Januar 2021 als Ministerpräsident nominiert wurde, verfügt über eine Mehrheit von über 80 Prozent. Also de facto hat Super-Mario, wie er von seinen Fans begrüßt wird, keine Opposition im Parlament. Und im Land ist es nicht viel anders. Die regierungsfreundliche La Repubblica schrieb in Dezember, dass 75 Prozent der Italiener Draghi schätzen. Diese Zahl verbreiteten alle Mainstream-Medien, ohne sie zu hinterfragen. Ob es sich um ein wishful thinking seitens einer regierungsorientierten Presse handelt, ist noch unklar.
Was auf alle Fälle wahr ist, ist die Passivität der Bevölkerung gegenüber den ständig neuen Verboten und den darauf folgenden Einschränkungen der Grundrechte für Ungeimpfte.
Innerhalb weniger Monate wurde, dank einer Reihe von Gesetzesverordnungen, die Impfpflicht für bestimmte Berufe eingeführt wie Ärzte, Pflegepersonal, Universitätsprofessoren, Studenten und Feuerwehrleute, und dann graduell für alle Bürger über 50 Jahre ausgeweitert.
Die darauf folgenden Proteste waren anfangs, wir sprechen von August und September 2021, heftig, mit Demonstrationen in Rom und Mailand mit über 50.000 Teilnehmern. Gegen diese Entwicklung steuerte das Innenministerium mit einer Richtlinie für die Verwaltung der öffentlichen Ordnung, wonach die Kundgebungen nur an bestimmten Ortschaften außerhalb der Stadtzentren erlaubt wurden.
Außerdem, wegen der Pandemie, dürften die Demonstranten sich nicht vom genehmigten Ort wegbewegen. Die Richtlinie erreichte ihr Ziel und die Teilnahmerzahl stürzte ein. Ob das ein Zeichnen für die Popularität der Regierung ist, ist fragwürdig, aber die Medien interpretieren es so und feiern ihren Ministerpräsidenten, der für die erste Impfdosis die Rekordimpfquote von 91,55 Prozent erreicht hat und 67,34 Prozent für die Boosterung. Nichtsdestotrotz scheinen die 10 Prozent, die sich nicht haben impfen lassen, das Problem der Nation zu sein.
Im Fernsehen wird regelmäßig gegen Impfverweigerer gehetzt. Virologen, die mittlerweile zu Virostars geworden sind, da sie mehr Zeit im Fernsehstudio verbringen als im Labor, bezeichnen die Verweigerer als free riders, Opportunisten, Impfungshinterzieher oder sogar Ratten, die zu Hause eingesperrt werden sollten.
Von Starlets und in Realityshows wird die Impfapartheid gelobt und viele wagen groteske Überlegungen, in denen sie die moralische Überlegenheit der Geimpften zeigen möchten. Angepasste Journalisten schauen zu und beklatschen den Zirkus. Mittlerweile sind die Dinge so aus dem Ruder gelaufen, dass ein mailändisches Krankenhaus sich weigert, ungeimpfte Patienten zu operieren, ohne dass eine heftige Diskussion im Land entbrennt. Was ist aus diesem Land geworden, wenn die Diskriminierung von Millionen Mitbürgern keinen Aufschrei verursacht?
In der Zwischenzeit, da auch die Justiz passiv bleibt, hat die Regierung mit der letzten Gesetzverordnung von Januar einen neuen Höhepunkt im Kampf gegen die Ungeimpften erreicht; denn anders kann man diesen Wahnsinn nicht nennen. Ab dem 1. Februar 2022 dürfen Ungeimpfte kein Flugzeug, keinen Zug — egal ob regional oder national — weder UBahn, Bus, Restaurant, Café, Kino noch ein Theater betreten. Ohne Green Pass — 3G — ist der Zutritt zur Post und allen Geschäften, die „nicht notwendige Produkte“ verkaufen, wie Kühlschränke oder Kleidung, verboten.
Tausende Polizisten, die woanders sicher mehr gebraucht würden, werden absichern, dass das Verbot respektiert wird. So verwandelt sich Italien langsam aber sicher in einen Polizeistaat, wo die Freiheiten immer mehr kontrolliert und eingeschränkt werden und der Macht der Behörden untergeordnet sind. Das Gegenteil einer Demokratie.
Wer hätte noch vor zwei Jahre gedacht, dass dieses Land in eine ähnliche Falle wie vor genau 100 Jahren stürzen wurde?
Bislang bleibt die Mehrheit der Italiener still und stimmt der Regierung zu. Wenn man geimpft ist, hat man ja nichts zu fürchten, denkt sie, aber das ist ein Irrtum. Die Mehrheit denkt, da sie ihre Rechte bewahrt hat, ginge es sie nichts an, wenn die Sachen für die no-vax schief laufen. Schließlich haben sie es selbst so gewollt, denn ein Impfangebot haben alle erhalten. Also, was meckern sie jetzt. Was diese Leute nicht verstehen ist, dass sie auch ihre Rechte verloren haben, bloß wissen sie es noch nicht. Ein Grundrecht definiert sich nämlich dadurch, dass es nicht vom Willen der Obrigkeit abhängt, sondern den Bürgern selbstverständlich und bedingungslos gehört.
Die Anerkennung der Grundrechte ist keine Sache der Regierung, sondern ergibt sich direkt aus dem Grundgesetz. Es ist Vorbedingung und Grundstein der modernen Demokratie. An dem Tag, an dem man akzeptiert, dass eine Regierung die Grundrechte von bestimmten Bedingungen abhängig machen kann, hat man diese Grundrechte verloren, egal ob man die Konditionen respektiert oder nicht. Denn die Konditionen können durch ständig neue Gesetzverordnung immer härter werden, wie der italienische Fall deutlich zeigt: Früher waren zwei Impfstoffdosen notwendig, um den Green Pass zu erhalten, heute drei, aber man spricht schon von vier oder sogar fünf. Früher war der Green Pass für neun Monate gültig, heute sechs und morgen?
Viele Bürger, die sich zweimal haben impfen lassen, wollen keine dritte Spritze mehr. Ob sie dann auch verstehen, dass sie automatisch als Ausgegrenzte no-vax eingeordnet werden mit dem dazugehörigen Rang und Rechtsverlust?
Laut dem Europäischen Parlament muss der Corona- Impfausweis, der EU-Green Pass, Freizügigkeit ohne Diskriminierung ermöglichen. In Italien ist es nicht so gekommen und der Green Pass sieht immer mehr nach einem Teufelspakt aus; heute wird zehn gefordert, morgen hundert und übermorgen hat man die Grundrechte endgültig verloren. Und eine Sache sollte jedem klar sein: Sie zurückzunehmen wird kein Spaziergang sein.