Hohe türkische Schulden in Fremdwährung
Die Türkei hatte Ende März 2022 laut Global Debt Monitor Schulden in Höhe von insgesamt etwa 166 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt (1). Im März 2020 waren es noch 144 Prozent gewesen (2). Bei einem BIP von ungefähr 796 Milliarden US-Dollar 2021 (3) hat die Türkei also momentan Schulden in Höhe von etwa 1.320 Milliarden Dollar. Nach Berechnungen des Institute of International Finance beliefen sich die Schulden der Türkei in ausländischer Währung Ende März 2022 auf 96,7 Prozent vom BIP. Ende März 2021 waren es noch 87,2 Prozent (4). Demnach hätte die Türkei momentan Fremdwährungsverbindlichkeiten in Höhe von etwa 770 Milliarden Dollar. Das heißt, wenn die Lira sich abschwächt, wird das Bedienen der Fremdwährungsschulden immer schwieriger.
Der Absturz der türkischen Lira
Am 20. Mai 2022 betrug der Wechselkurs der türkischen Lira zum US-Dollar rund 15,9 Lira pro Dollar (5). Vor einem Jahr, am 20. Mai 2021 lag der Kurs bei etwa 8,4 Lira. Man muss heute also etwa 90 Prozent mehr Lira für einen Dollar bezahlen als vor einem Jahr. Der Wert der Lira hat sich also binnen Jahresfrist beinahe halbiert. Vor fünf Jahren, im Mai 2017, stand die Lira bei rund 3,6. Heute bekommt man also beinahe viereinhalb Mal so viele Lira pro Dollar wie vor fünf Jahren. Anders ausgedrückt: Die Lira hat in den vergangenen fünf Jahren mehr als drei Viertel ihres Wertes verloren. Für türkische Schuldner, die sich in Dollar verschuldet haben, bedeutet das, dass sie durch den Lira-Absturz heute sehr viel mehr Lira aufbringen müssen, um ihre Schulden zu bedienen. In Lira gerechnet haben sich die Schulden also dramatisch erhöht. Das könnte einige türkische Kreditnehmer in Schwierigkeiten bringen.
Zur Stabilisierung der Lira schloss die Türkei im Januar 2022 Währungsabkommen mit Abu Dhabi und Katar über insgesamt 15 Milliarden Dollar ab (6). Diese Abkommen dürften letztlich darauf hinauslaufen, dass die Türkei bis zu 15 Milliarden Dollar Kredite bei diesen beiden Staaten zusätzlich aufnehmen und diese Dollar dann in türkische Lira tauschen kann, sodass sich die türkische Währung aufwertet beziehungsweise stabilisiert. Die beabsichtigte Stabilisierung der Lira hat erstaunlich gut funktioniert. Nach den Währungsturbulenzen im November und Dezember 2021 bewegte sich die türkische Währung ab Januar 2022 in bemerkenswert ruhigem Fahrwasser. Durch die rasant steigende Inflationsrate von zuletzt 70 Prozent im April 2022 (7) hat die Lira seit März ihren Abwertungstrend allerdings wieder aufgenommen, aber deutlich weniger turbulent als vor den Währungsabkommen. Das Problem: Irgendwann dürften auch diese geliehenen Währungsreserven aufgebraucht sein. Dann dürfte die Lira ihren Sinkflug beschleunigen.
Ein beträchtlicher Teil der türkischen Fremdwährungsschulden muss innerhalb der nächsten zwölf Monate zurückgezahlt werden. Nach Angaben der türkischen Zentralbank beliefen sich die kurzfristigen Auslandsschulen, also solche, die innerhalb eines Jahres zurückgezahlt werden müssen, Ende Februar 2022 auf 130 Milliarden Dollar (8). Vor den Lockdowns, Ende 2019, waren es noch 97 Milliarden Dollar gewesen, ein beachtlicher Zuwachs um mehr als 30 Prozent in gut zwei Jahren. Wie sollen diese Schulden angesichts des Lira-Absturzes zurückbezahlt werden?
Allein türkische Unternehmen haben derzeit beinahe 40 Prozent vom BIP beziehungsweise mehr als 330 Milliarden Dollar Fremdwährungsschulden (9).
Wenn man die Verbindlichkeiten in Lira umrechnet heißt das, dass diese Unternehmen in türkischer Lira nun etwa 90 Prozent mehr Schuldendienst leisten müssen als vor einem Jahr oder 4,4 Mal so viel wie vor fünf Jahren. Konkret: Wenn ein Unternehmen vor fünf Jahren 100 Millionen Dollar Kredit aufgenommen hat, bekam es damals 360 Millionen Lira dafür. Heute muss das Unternehmen 1.590 Millionen Lira zurückbezahlen, 4,4 Mal so viel. Im selben Zeitraum stieg der Konsumentenpreisindex um etwa 290 Prozent (10).
Die Außenwert der Lira, gemessen am Dollar, hat sich also in den vergangenen fünf Jahren um den Faktor 4,4 und damit deutlich stärker verringert als die Binnenkaufkraft, die sich um den Faktor 2,9 verminderte. Die Auslandskaufkraft ist eineinhalb Mal so stark gesunken wie die Inlandskaufkraft. Das heißt, dass es für türkische Unternehmen deutlich schwieriger geworden ist, Fremdwährungsverbindlichkeiten zu bedienen. Sie müssen heute pro Dollar Fremdwährungskredit 1,5 Mal mehr Cash Flow auf dem Binnenmarkt generieren wie vor fünf Jahren. Kann ihnen das gelingen?
Die aktuelle ökonomische Situation der Türkei
Die Wachstumsprognose 2022 für die Türkei lag im Februar 2022, vor der Ukrainekrise, bei 3,5 Prozent (11). Die Inflationsrate betrug im April 70 Prozent. Die Produzentenpreise, ein Frühindikator für die Inflation, stiegen im April 2022 um 122 Prozent gegenüber dem Vorjahr (12). Die Arbeitslosenquote erhöhte sich im März auf 11,6 Prozent, den höchsten Stand seit August vorigen Jahres (13). Die Stimmung in der Industrie signalisiert eine leichte Schrumpfung und ist so schlecht wie zuletzt im Mai 2020 (14). Das Konsumentenvertrauen erreichte im April und Mai 2022 ein Rekordtief (15). Die Leistungsbilanz war in den vergangenen fünf Monaten von November bis März, also schon lange vor der Ukrainekrise, mit 2,6 bis 5,9 Milliarden Dollar pro Monat stark negativ (16). Das bedeutet, dass die Türkei derzeit akuten Finanzierungsbedarf im Ausland hat, in den vergangenen fünf Monaten allein über 23 Milliarden Dollar, vor allem, um die hohen Energieimporte (17) zu bezahlen. An eine Nettorückzahlung von Fremdwährungskrediten ist in einer solchen außenwirtschaftlichen Situation gar nicht zu denken.
Was Kreditaufnahmen im Ausland anlangt, ist die Türkei mit einem sehr schlechten Bonitätsrating konfrontiert. Es liegt momentan bei „B“ durch Moody‘s und S&P (18), das ist tief im Ramsch- beziehungsweise High-Yield-Bereich und sagt, dass es für die Türkei momentan ziemlich schwer ist, an Auslandskredite zu kommen und, wenn das gelingt, äußerst hohe Zinsen dafür bezahlen muss. Im Siebenjahresbereich liegen die Dollarzinsen der Republik Türkei momentan bei 9,6 Prozent (19), das sind 6,8 Prozentpunkte mehr als, die US-Regierung derzeit bezahlen muss (20), im Dreijahresbereich bei 8,8 Prozent (21). Das ist ein horrender Risikoaufschlag gegenüber den USA, das sind horrende Zinsen angesichts eines stotternden Wirtschaftsmotors und vergleichsweise schwachen Wirtschaftswachstums.
Die ökonomische Lage der Türkei ist also nicht gerade beneidenswert. In diesem labilen ökonomischen Umfeld müssen nun die türkischen Unternehmen, Banken sowie die Regierung drastisch gestiegene Fremdwährungsverbindlichkeiten bedienen. Das könnte manche Unternehmen, aber auch Banken in Liquiditätsschwierigkeiten bringen und zu Problemen beim Schuldendienst führen. Das Gleiche gilt für die türkische Regierung.
Türkische Finanzkrise?
Kurz: Der nun wieder einsetzende Abschwung der Lira könnte in diesem kritischen ökonomischen Umfeld dazu führen, dass so mancher türkische Schuldner in Rückzahlungsprobleme kommt und damit eine nationale Finanzkrise auslöst.
Auswirkungen türkischer Finanzprobleme auf die Weltfinanzmärkte
Angesichts des selbst im internationalen Vergleich relativ hohen Gesamtbetrages der Fremdwährungsschulden von etwa 770 Milliarden Dollar könnten sich Zahlungsprobleme türkischer Schuldner schnell auf die Weltanleihemärkte übertragen und dort zu weiteren Kursrückgängen führen. Es ist also gut möglich, dass türkische Finanzprobleme eine Erschütterung an den Bondmärkten nach sich ziehen und dort möglicherweise eine Kettenreaktion auslösen. Zur Erinnerung: Lehman hatte kurz vor seiner Pleite im Jahr 2008 Schulden von 613 Milliarden Dollar (22). Dieser Betrag hat ausgereicht, um eine Weltfinanzkrise auszulösen. Die Schulden der Türkei heute sind deutlich höher und haben daher möglicherweise ebenfalls das Zeug, eine globale Finanzkrise loszutreten. Ist die Türkei diesmal der erste Dominostein, der umfällt, wie es 2008 Lehman war?
Möglicher Ablauf
Wie könnten sich konkret türkische Schuldenprobleme auf die Weltfinanzmärkte auswirken? Wenn die ersten türkischen Gläubiger ihren Schuldendienst nicht mehr bedienen können, dürfte das zu einem weiteren Kurssturz bei türkischen Anleihen führen. Solche Turbulenzen in einem wichtigen Schwellenland führt leicht zu Ängsten der Anleger und zu einer allgemeinen Flucht aus riskanten Anleihen durch Investoren an den Bondmärkten. Konkret dürften zunächst die Anleihen auch anderer Schwellenländer unter Druck kommen und zu Kapitalflucht in sichere Häfen, insbesondere die USA führen. Das Wall Street Journal betitelte bereits einen Artikel am 19. Mai 2022 „The Next Emerging Market Crisis?“ (23).
Wie bei der Südostasienkrise Ende der 1990er-Jahre bringt dies schnell Währungsturbulenzen, genauer Währungsabstürze von Schwellenländern mit sich. Aber nicht nur Anleihen in Schwellenländern dürften Probleme bekommen, sondern auch bonitätsschwache Schuldner in Industrieländern, insbesondere High-Yield-Bonds und BBB-Anleihen, Stichwort Zombie-Unternehmen, könnten unter die Räder kommen. In den vergangenen Wochen haben sich bereits die Risikoaufschläge auf den High-Yield-Märkten der USA deutlich von 2,8 Prozentpunkten im Januar 2022 auf 4,4 im Mai erhöht (24). Das könnte noch erheblich mehr werden und so einige bonitätsschwache Schuldner weltweit in Bedrängnis bringen.
Wenn ein starker Vertrauensverlust beziehungsweise eine solche Angst weiter um sich greift, wie beispielsweise 1907 oder 1929, und zur Panik wird, dann kann dies recht schnell auch die Aktienmärkte weiter nach unten reißen.
Auch die Immobilienpreise würden dann eine starke Korrektur erleben, weil Immobilien mit ungeheuren Mengen an Schulden finanziert sind. Die internationalen Anleihe- beziehungsweise Bondmärkte waren 2021 mit einem Marktvolumen von 123 Billionen Dollar größer als die weltweiten Aktienmärkte mit 118 Billionen Dollar (25). Mit anderen Worten: Es ist weltweit mehr Geld in Anleihen investiert als in Aktien. Wenn die Bondmärkte in die Knie gehen, können sie daher leicht die Aktienmärkte weiter nach unten ziehen.
Letztlich beruht das Funktionieren aller Schuldbeziehungen, aller Kredit- und insbesondere der riesigen Anleihemärkte auf dem Glauben der Geldgeber, auf dem Vertrauen, dass das Geld zurückbezahlt werden wird. Das Wort Kredit kommt von credere, glauben. Wenn der Glaube der Gläubiger, das Vertrauen der Investoren bricht, dann führt dies zu einem allgemeinen Crash an den Finanzmärkten. Die Auswirkungen auf die Realwirtschaft wären verheerend. Auch der Euro, der sich in den vergangenen Wochen der Parität zum Dollar nähert, könnte dann infrage gestellt werden, was unabsehbare ökonomische und gesellschaftliche Verwerfungen in Kontinentaleuropa nach sich ziehen würde.
Steht die Finanzkrise 2.0 bevor?
Das Crashpotenzial an den Aktienbörsen, den Bond- und Immobilienmärkten ist heute deutlich höher als 2008. Der Sturz könnte also wesentlich tiefer werden als während der Finanzkrise 2007 bis 2009. Die Schulden der Türkei könnten heute eine ähnliche Rolle spielen wie die Schulden von Lehman 2008 und der Auslöser einer zweiten Finanzkrise sein. Diese dürfte deutlich schlimmer werden als die erste. Ich denke, die Zeichen stehen auf Sturm, möglicherweise einen perfekten Sturm.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Institute of International Financ (IIF), Global Debt Monitor, Debt in the Time of Geopolitics, 18. Mai 2022.
(2) IIF, Global Debt Monitor, Chipping Away at the mountain?, 13. Mai 2021.
(3) https://www.statista.com/statistics/263757/gross-domestic-product-gdp-in-turkey/
(4) IIF, Global Debt Monitor, 18. Mai 2022, eigene Berechnungen.
(5) https://tradingeconomics.com/turkey/currency
(6) https://www.wiwo.de/politik/ausland/tuerkei-erdogans-harakiri-geldpolitik-ist-eine-gefahr-fuer-europa/27993610.html
(7) https://tradingeconomics.com/turkey/inflation-cpi
(8) https://www.tcmb.gov.tr/wps/wcm/connect/b19b5048-dd64-4075-ae01-47b2fd3ede50/st.pdf?MOD=AJPERES&CACHEID=ROOTWORKSPACE-b19b5048-dd64-4075-ae01-47b2fd3ede50-o0I1pmL
(9) IIF, Global Debt Monitor, 18. Mai 2022.
(10) https://tradingeconomics.com/turkey/consumer-price-index-cpi, eigene Berechnungen.
(11) https://www.reuters.com/markets/asia/turkeys-economy-grew-11-2021-cool-35-2022-2022-02-22/#:~:text=GDP%20growth%20in%202022%20is,pandemic%2Drelated%20downturn%20in%202020.
(12) https://tradingeconomics.com/turkey/producer-prices-change
(13) https://tradingeconomics.com/turkey/unemployment-rate
(14) https://tradingeconomics.com/turkey/manufacturing-pmi
(15) https://tradingeconomics.com/turkey/consumer-confidence
(16) https://tradingeconomics.com/turkey/current-account
(17) https://tradingeconomics.com/turkey/imports-by-category
(18) https://de.tradingeconomics.com/turkey/rating
(19) https://cbonds.com/bonds/1504/
(20) https://tradingeconomics.com/united-states/government-bond-yield
(21) https://cbonds.com/bonds/10909/
(22) https://www.rns-pdf.londonstockexchange.com/rns/8436Z_1-2008-7-24.pdf
(23) https://www.wsj.com/articles/the-next-emerging-market-crisis-monetary-policy-debt-federal-reserve-institute-of-international-finance-11652903180
(24) https://www.wsj.com/articles/stocks-turmoil-spreads-to-junk-bonds-hurts-deals-11652261581
(25) https://www.sifma.org/wp-content/uploads/2022/12/2022-Capital-Markets-Outlook-FINAL-FOR-WEB.pdf