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Fällt Kabul?

Fällt Kabul?

Die Belagerung des Hotel Intercontinenal.

Das Hotel Intercontinental in Kabul, das letzten Samstag (22. Januar) von Bewaffneten angegriffen wurde, passte wie angegossen in die Stadt. Draußen tobte der Krieg. Das Leben von Millionen von Afghanen wurde ziellos zerstört, Hunderttausende wurden dahingerafft. Der Preis für mehr als 16 Jahre NATO-Besatzung beläuft sich auf über eine Billion Dollar. Doch statt Frieden und Wohlstand zu bringen, hat die Okkupation Afghanistan in Schutt und Asche gelegt.

Alles, was in dem Land noch funktioniert, sind die Strukturen und die Infrastruktur, die vor und während der Sowjetära errichtet wurden, wie das Abwasserkanalsystem, Kanäle und Brotfabriken. Weitere Sachanlagen kamen in letzter Zeit aus China und Indien. Nichts jedoch wurde von den NATO-Besatzungsländern zur Verfügung gestellt, außer endlosen Zäunen, Stacheldraht und Militäranlagen.

Selbst vor der Belagerung des Intercontinental Hotels, bei der 20 Menschen getötet wurden, räumte der afghanische Präsident Ashraf Ghani in einem Interview ein, dass er außerstande sei, seine eigene Hauptstadt zu schützen.

Doch das trifft natürlich nicht nur auf die Hauptstadt zu. Das gesamte Land strudelt in ein Chaos. Es ist klar, dass es bald unmöglich sein wird, es – zumindest als eine Einheit – von Kabul aus zu kontrollieren.

Man hört es immer öfter auf den Straßen von Kabul, Jalalabad und Herat, dass das just der Plan der Besatzungstruppen sein könnte, das Land in fortwährenden Konflikt und Chaos zu stürzen.
Früher habe ich über das Hotel Intercontinental gewitzelt: „In diesem Hotel fühlt man sich wie in einem sowjetischen Dreisternehotel in einer provinziellen sibirischen Ortschaft. Verbogene Duschstangen, fleckige, doch davon abgesehen, saubere Teppiche, gleichgültiges, doch trotzdem irgendwie freundliches Personal – man konnte noch so oft winken, die Kellnerin setzte sich erst in Bewegung , nachdem man selbst zu ihr gegangen war, ein breites Lächeln aufsetzte und auf eine bestimmte Süßigkeit von der beschränkten Auswahl zeigte.“

Allen Unbilden zum Trotz war das Hotel Intercontinental einfach immer da. Es bröckelte zwar, hatte aber dennoch etwas Majestätisches, steckte voller Geschichte und altmodischem Charme. Seine Hotellobby war mit traditionellen afghanischen Landschaften und Porträts geschmückt. Der Ausblick von den Zimmern und Balkonen nahm einem den Atem: Man sah den alten Bagh-e Bala Palast mit seinem weitläufigen öffentlichen Park, unten lag die gesamte Hauptstadt wie in einem Krater, und hinter dem Stadtrand erhob sich die große Gebirgskette gen Himmel.

Zur Frühstückszeit waren fast immer einige Tische am Fenster des Hotelrestaurants von russisch-sprechenden Piloten und Crewmitgliedern der afghanischen Fluglinie Kam Air besetzt. Ich weiß nicht, ob sie Russen oder Ukrainer waren, aber sie sprachen russisch untereinander und mit mir. Sie waren groß und muskulös, so wie man sich Piloten, die in einem Kriegsgebiet fliegen, vorstellt.
Wir haben uns immer gegrüßt und Witze ausgetauscht. Keine tiefschürfenden Diskussionen, nur ein paar Späße und ein freundliches Lächeln.

Vor einiger Zeit musste ich in die alte Stadt Herat fliegen und war am frühen Morgen mit Kam Air zum selben Flug unterwegs wie die Crew. Mein Fahrer war zu spät und ich näherte mich dem Flughafenbus, der eben Richtung Flughafen losfahren wollte.

“Könntet ihr mich bitte zum Flughafen mitnehmen, Jungs?”, fragte ich.

“Na klar, steig einfach ein”, forderten sie mich freundlich grinsend auf.

Wir gehörten alle zu einer großen Familie. Wir Ausländer, die im Intercontinental übernachteten, waren weder reich, noch arm, gehörten keiner „Regierungsinitiative“ oder finanziell gut gepolsterten NGO an. Dieses Hotel war für „die Werktätigen“ – Journalisten, Filmemacher, Piloten. Diejenigen, die „besonderen Schutz“ brauchten, hielten sich hinter den mächtigen Betonmauern ihrer Botschaften auf oder im einzigen wirklich luxuriösen Hotel des Landes – Serena.

Zwei Stunden später flogen wir über die gewaltigen afghanischen Berge und winzigen alten Dörfer, die aus Lehm erbaut waren und sich viele Meilen unter dem Flugzeugflügel erstreckten. Ich machte Fotos und stellte mir dabei die irre US-amerikanische „Mutter aller Bomben“ vor, die nur wenige Tage zuvor auf ein ähnliches Dorf abgeworfen worden war und dabei wer weiß wie viele unschuldige Menschen getötet hatte.

Die beiden kraftvollen Motoren einer alten, aber verlässlichen MD-82 schnurrten beruhigend im hinteren Teil des Flugzeuges. Später schloss ich meine Augen und schlief ein. Ein sanftes Tätscheln an meiner Schulter, gefolgt von einem freundlichen Flüstern weckte mich: „Möchten Sie Kaffee? Wir haben gerade einen gekocht…“

Ich trank das aromatische Gebräu und schaute dabei auf jene atemberaubenden, riesigen, schneebedeckten Berge. Die russisch-sprechenden Piloten saßen im Cockpit und steuerten das Flugzeug mit langjähriger Erfahrung und Zutrauen.

Ich dachte: “Wenn es eine Crew auf der Welt gibt, die kompetent genug ist, über dieses schöne, aber unübersichtliche und gefährliche Gelände zu fliegen, dann diese hier.“

Es war einer jener Momente, in denen ich mich vollkommen glücklich und lebendig fühlte, erfüllt von der Leidenschaft für meine Arbeit in Afghanistan, wo ich die Verbrechen der westlichen Länder aufdeckte, bei der ich mich Hals über Kopf in dieses alte und stolze Volk verliebte und nun über die Gipfel hinweg in eine der interessantesten Städte Zentralasiens, nach Herat, flog.

Am 20. Januar 2018 kämpfte ich auf der Intensivstation des St. Lukas Krankenhauses von Tokio um mein Leben, Monate nachdem meine Jahre alte Wunde am Fuß sich in Afghanistan erneut entzündet hatte und seither einfach nicht heilen wollte.

Durch den Nebel des Fiebers und der Medikamente hindurch verfolgte ich die Berichterstattung aus Kabul auf einem Fernsehbildschirm, der über meinem Bett hing. „Mein“ Hotel Intercontinental war angegriffen worden. Es war in der Tat von einem der angeblich brutalsten Zweige der Taliban, bekannt als Haqqani Netzwerk, überrannt worden. Das jedenfalls twitterte Javid Faisal, ein Sprecher des afghanischen Regierungsgeschäftsführers.

Mindestens 21 Menschen haben während des 14-stündigen Angriffs ihr Leben verloren. Beinahe sofort wurden einige Piloten und Crewmitglieder der Kam Airline kaltblütig ermordet. Genauso wie zwei venezuelische Piloten. Niemand von ihnen war „Unterstützer der Regierung“, noch Kollaborateur der eindringenden NATO-Streitkräfte.

Sie waren lediglich eine Gruppe Romantiker, eine Gruppe kräftiger, tapferer, aber auch sehr liebenswürdiger und sanfter Männer, die für ihr Leben gerne flogen und die sich, genauso wie ich, in das Land Afghanistan verliebt hatten. Das weiß ich, weil sie mir das erzählt hatten, und weil es einfach offensichtlich war!

Falls sich das jemand fragt – “mein Hotel in Kabul” hat nichts mit der US-Luxushotelkette mit dem gleichen Namen zu tun. Es gehörte einst zum „echten“ Intercontinental, jedoch erst seit 1969, als es eröffnete, bis 1980 (kurz nach dem sowjetischen Eingreifen in Afghanistan). Heute ist es im Besitz des afghanischen Staates und wird nur von Außenstehenden, die aus der Ferne über Afghanistan berichten, als „Luxushotel“ bezeichnet. Man bekommt ein Zimmer für nur 50 Dollar, wenn man gut verhandelt, und für 60 Dollar, wenn die eigenen Verhandlungskünste eher beschränkt sind.

Das Hotel war bereits mehrmals beschädigt worden, vor allem während des Bürgerkrieges in den 1990er Jahren, als es hieß, dass nur 85 seiner 200 Zimmer bewohnbar waren. Erst 2011 wurden 21 Menschen dort während eines Angriffs getötet, den die Taliban für sich beanspruchten.

Trotz seiner grausigen Geschichte ist das Intercontinental immer noch der Lieblingsort vieler Einheimischer und einiger Ausländer in Kabul. Viele Konferenzen werden dort abgehalten und – während der Fastenmonate des Ramadan – brechen die lokalen Eliten dort, nahe des Swimmingpools mit Blick über die Stadt, das Fasten. Fast jeden Abend gibt es dort Konzerte: richtige traditionelle afghanische Musik mit Instrumenten aus der Region und Sängern, die ihre Ausbildung bei bekannten Meistern genossen haben.

Natürlich gibt es überall Security. Um von der Stadt aus auf das Hotelgelände zu gelangen, musste ich mit meinem Auto immer drei Security-Posten passieren. Afghanistan wird schließlich für Ausländer als eines der gefährlichsten Länder der Erde eingestuft.

In nur einer Woche erschütterten drei tödliche Angriffe Afghanistan: einer in Kabul, einer außerhalb von Herat und ein dritter in Jalalabad, wo es der IS auf die NGO „Save the Children“ abgesehen hatte.

Im vergangenen Jahr reiste ich in viele Ecken dieses geschundenen alten Landes. Ich unterhielt mich mit den Menschen, auch mit denen in den Dörfern, die zumindest teilweise von den Taliban übernommen wurden. Die Menschen bemerken zunehmend, dass sie in einem dauerhaften Konflikt leben. Flüchtlinge (oder Binnenflüchtlinge) aus dem Osten sprechen vom Blutbad, das mit dem IS ins Land kommt.

Harte Drogen und Mohnsamen finden sich überall im Zentrum Kabuls, direkt unter der Nase der US-Besatzer – Mohnfelder umgeben buchstäblich den Luftwaffenstützpunkt von Bagram.
Heute wird sich der Sowjets und Russen mit Liebe und großer Nostalgie erinnert; dies beschrieb ich bereits in meinen früheren Essays aus dem Land.

Ganz bald werden keine Ausländer mehr in Afghanistan zurückbleiben. Vermutlich ist dies das Ziel der jüngsten Angriffe. Keine Zeugen, keine Alternativen, keine Lösungen.

Wer wird davon profitieren? Sicherlich nicht das verzweifelte afghanische Volk. Womöglich die Warlords, die extremistischen Mullahs und die Besatzer.

Die Kam Air Crew, die Passagiermaschinen überall im Land flogen, sowie das Intercontinental waren einige der letzten Symbole der Normalität – ein schwaches Versprechen, dass man immer noch hierher reisen und sich in diesem Land umsehen kann.

Von nun an wird es kaum noch Ausländer in dem Land geben. Nur noch uns – Kriegskorrespondenten, genauso wie ausländische Soldaten und Söldner.

Afghanistan schwebt jetzt in tödlicher Gefahr. Es muss überleben, aber noch ist unklar, wie. Diejenigen, die es lieben, sollten dorthin zurückkehren, gleich welcher Gefahr wir dort begegnen. Eine Nachrichtenblockade sollte verhindert werden. Alternative (nicht-westliche) Informationen müssen uns von dort erreichen. Auf jeden Fall, um jeden Preis.

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