In den letzten Wochen und Monaten erscheinen mir in meinen Träumen die irrsinnigsten Bilder. Sie fühlen sich an wie Darreichungen aus der Zukunft. Ich selbst spiele in diesen Träumen keine Rolle, andere Menschen auch nicht. Sie sind komplett menschenfrei, was merkwürdig ist, wenn man bedenkt, dass einem für gewöhnlich Legionen von Menschen in unseren Träumen begegnen.
Ist der Umstand, dass Menschen in meinen Träumen nicht mehr vorkommen, nun der Tatsache geschuldet, dass wir aufgrund unseres unerträglichen Zerstörungswerks auf der Erde einfach nur von diesem Planeten verbannt, von der Evolution sozusagen in die Tonne getreten wurden? Als gescheitertes Experiment? Könnte aber auch sein, dass wir nicht mehr gebraucht wurden, weil wir unsere Aufgabe, die uns aufgetragen wurde, pflichtbewusst erfüllt hatten. Diese Aufgabe hieß dann wohl: Haut das filigrane Netzwerk auf dem blauen Planeten in tausend Stücke, damit ich mir neue Bahnen suchen kann, denn ich, die Evolution, spiele und experimentiere gern. Man weiß es nicht. Wie auch immer. Es ist müßig, darüber zu spekulieren.
Hier sind einige geträumte Sequenzen, die zwar in einem übergeordneten Zusammenhang stehen, mich aber zu den unterschiedlichsten Zeiten heimgesucht haben:
Fahrt durch ein verlassenes Dorf an eingestürzten Mauern vorbei. Aus den Häuserskeletten wuchern Pflanzen, die Platten der Gehwege haben sich wie im Todeskampf aufgeworfen. Ein Teppich dichten Gestrüpps hält sie umfangen, in dem sich wilde Katzen rekeln. In einer verrotteten Scheune steht ein Traktor auf drei Rädern. Auf dem Schalensitz ein Vogelnest. Das Ganze wirkt wie eine Ausstellung in einem Freilichtmuseum, die dem unverfälschten Leben ebenso gewidmet ist wie dem gnadenlosen Tod. Die verreckten Störche in ihren Nestern, deren lange Hälse schlaff vom First baumeln, während ihre dünnen, roten Beine steif in den Himmel ragen, kontrastieren mit den grazilen Rehen, die in den verwilderten Gärten stoisch wiederkäuen. Schnitt.
Hamburg. Die Straße, in der ich wohne. Wohnte, müsste ich angesichts dieser Bilder sagen. Die Straßenbäume haben sich nach allen Seiten Luft verschafft, sie haben sich sozusagen erhoben und die asphaltierte Fahrbahndecke gesprengt, die so lange auf ihren Wurzeln lastete. Die meisten Häuser sind ohne intakte Fenster und ohne Türen, zerschlissene Vorhänge flattern im Wind, als würden sie dir winken. Blick in Räume voller Haushaltsschrott, voller offener Schränke und zerbrochener Spiegel, am Boden liegende Arzneiflaschen und Magazine, die sich in rostigen Bettgestellen verheddern. Zwei Affen hangeln sich an den Rissen in der Fassade eines Hauses von Stockwerk zu Stockwerk.
Kernkraftwerk Fessenheim. Die einst weiße Fassade mit der stilisierten Sonne und dem Betreiberkürzel EDF ist von schmutzigen Schlieren gezeichnet, die der Regen im Laufe der Jahre hinterlassen hat. Unter ihnen schimmert kaum noch erkennbar das Motto der Firma: „Dem Klimawandel entgegentreten und Erhalt der Artenvielfalt“. Über den tiefblauen Himmel zieht eine Schar strahlend weißer Wolken, als wären sie einem Gemälde von Magritte entsprungen.
Großstadt. Könnte Moskau sein, New York oder Singapur. Das einzige, was sich noch regt, sind zwei Buchstaben einer ehemaligen Werbebotschaft, die vom Dach eines siebenundachtzigstöckigen Hochhauses herabhängen. Es sind die Buchstaben A und Z, die in unregelmäßigen Intervallen rote und blaue Funken versprühen.
Ein Schlachthof wird von Bäumen umzingelt, die ihre Wurzeln unter die Fundamente schieben und die Mauern zu Fall bringen. Hunderte von Rindern stolpern ins Freie, die Augen immer noch geweitet vor Angst.
Die Pyramiden von Gizeh werden von Fluten unterspült und fallen in sich zusammen. Der Eiffelturm kann sich dem Angriff der Kletterpflanzen nicht länger erwehren und geht in die Knie.
Im Garten meiner Eltern tummelt sich ein Krokodil. Eine Elefantenherde schlendert trötend durch die Siedlung, die sich von einer gepflegten Grünanlage in einen Dschungel verwandelt hat.
Während ich noch Zeuge werde, wie die Lüneburger Heide nach der A1 greift, um dem Betonband Calluna, Erica und Garden Girls aufzusetzen, öffnet sich ein roter Samtvorhang. Ein endloser Zug unterschiedlichster Tiere marschiert erhobenen Hauptes von rechts nach links über die Bühne. Sie haben alle die selbe Größe, die Größe einer Dogge etwa. Jedes Mitglied dieser nicht enden wollenden Prozession trägt ein mit nur einem Wort beschriftetes Plakat mit sich. Alle Wörter hintereinander gelesen ergeben folgende interpunktionsfreie Botschaft:
Ich-sah-eine-Ente-wie-aus-lauter-schimmernden-Edelsteinen-zusammengesetzt-zuerst-leuchtete-ein-strahlendes Grün auf-dann-ein-fahles-Violett-dann-sah-ich-Reflexe-wie-sie-im-Korn-des-Rubins-schlummern-Punkt
Es folgen sieben bunte Papageien, deren Schilder leer sind, die den Betrachter im Publikum aber zuzwinkern. Ein Schneeleopard führt den zweiten Satz an und der lautet:
Nur-jemand-der-weiß-was-Schönheit-ist-blickt-den-Wind-die-Bäume-die-Sterne-oder-das-funkelnde-Wasser-eines-Flusses-mit-völliger-Hingabe-an-und-wenn-wir-wirklich-sehen-befinden-wir-uns-im-Zustand-der-LIEBE-Ausrufungszeichen
Eine Hanfpflanze im Frack zieht den Zylinder und verbeugt sich, während ich mich klatschen höre. Ich bin der Einzige im rotbestuhlten Zuschauerraum. Die Ewigkeit gibt ein Gastspiel im Theater der Vergänglichkeit und ich darf dabei sein. Parkett, erste Reihe, Mitte.