Nach den Vereinbarungen von Astana zwischen Russland, Iran und der Türkei zeichnete sich in den letzten Monaten ein Hoffnungsschimmer für ein Ende des Krieges in Syrien ab. Durch die Einrichtung von vier Deeskalationszonen gingen die Kämpfe stark zurück. Die Lage in den von der Regierung kontrollierten Gebieten im Westen des Landes, in denen nach Schätzungen mehr als 80 % der Bevölkerung leben, hat sich stabilisiert. Gleichzeitig konnten die Djihadisten weiter zurückgedrängt werden. Das Regime hat 30.000 Gefangene freigelassen, während rund 80.000 Assad-Gegner bisher das Amnestieangebot angenommen und ihre Waffen niedergelegt haben. Deren Wiedereingliederung in die Gesellschaft fördert das bereits 2012 gegründete Ministerium für Nationale Versöhnung. Große Erfolge haben auch lokale Versöhnungskomitees aufzuweisen, die in zahlreichen Orten friedliche Konfliktlösungen zwischen verfeindeten Parteien erreichen konnten.
In das zerstörte Ost-Aleppo sind mittlerweile etwa 200.000 Menschen zurückgekehrt und haben mit Aufräumarbeiten und notdürftigem Wiederaufbau begonnen. Im Vertrauen auf eine friedlichere Zukunft sind gegen Ende des Fastenmonats Ramadan bereits Tausende von syrischen Flüchtlingen aus der Türkei in ihre Heimat zurückgekehrt.
Diese Hoffnungen könnten sich jedoch als trügerisch erweisen. Die jüngsten Drohungen aus Washington verbunden mit einer schleichenden Invasion im Osten des Landes sowie steigende Spannungen mit Russland lassen eine beispiellose Eskalation der Gewalt durch die Trump-Regierung befürchten. Plötzlich steht auch die Forderung nach einem gewaltsamen Regimewechsel in Damaskus wieder ganz oben auf der Tagesordnung einflussreicher US-Politiker. Wie konnte es dazu kommen? Hier ist zunächst ein Rückblick auf das seit mittlerweile mehr als 15 Jahre lang anhaltende Bestreben der USA, einen Regimewechsel in Syrien zu inszenieren.
Bereits wenige Wochen nach den Terroranschlägen von 9/11 kursierten in der Bush-Regierung Pläne, wonach der „Krieg gegen den Terror“ zum Sturz der Regierungen in Syrien und sechs weiteren Staaten genutzt werden sollte – dieselben Staaten, deren Bürgern Trump die Einreise verweigern wollte. Detaillierte Vorschläge des US-Botschafters in Damaskus zur Vorbereitung eines Putsches gegen Assad sind aus dem Jahr 2006 bekannt. Seymour Hersh, der renommierte Enthüllungsjournalist mit besten Kontakten in Regierungskreisen in Washington und Pulitzerpreisträger, deckte 2007 auf, dass die USA zusammen mit Israel und Saudi Arabien Terroristen zum Kampf gegen das syrische Regime ausbildeten. Auch England wurde 2009 in die Putschvorbereitungen einbezogen, wie der ehemalige französische Außenminister Dumas erklärte.
Nachdem der „Arabische Frühling“ auch Syrien erfasste und die Gewalt auf Seiten der Regierung, aber auch durch die Assad-Gegner eskalierte, wurden letztere durch die USA mit Waffen und militärischer Ausbildung massiv unterstützt. Dabei waren die Erfolge der djihadistischen Terrormilizen durchaus im Interesse der Obama-Regierung, wie aus einem Bericht des Militärischen Geheimdienstes DIA im Jahre 2012 hervorgeht. In einem TV-Interview erklärte der damalige DIA-Chef Michael Flynn sogar, dass die Unterstützung und Expansion des Islamischen Staates auf eine bewusste Entscheidung der amerikanischen Regierung zurückzuführen sei. In einem heimlich aufgezeichneten Gespräch des Außenministers Kerry mit Führern von Milizen der Assad-Gegner wurden diese Angaben bestätigt.
Im August 2012 drohte Obama dem syrischen Regime mit Vergeltung, wenn chemische Waffen eingesetzt würden. Diese „rote Linie“ wurde von den Assad-Gegnern als Einladung zur Inszenierung eines Giftgaseinsatzes „unter falscher Flagge“ angesehen, um so die US-Regierung zum Angriff auf syrische Militäreinrichtungen zu zwingen. Wenig später tauchten in den arabischen Medien bereits erste Berichte über die entsprechenden Vorbereitungen auf. Tatsächlich kam es im März 2013 zu einem Chemiewaffeneinsatz in Khan al-Assal, nahe Aleppo, wofür die Regierungstruppen von ihren Gegnern verantwortlich gemacht wurden. Das erschien jedoch wenig glaubhaft, zumal vor allem Alawiten und Soldaten des Regimes zu den 25 Giftgasopfern gehörten.
Fünf Monate später fand dann der Großangriff mit dem Einsatz des Nervengases Sarin in den von Regimegegnern kontrollierten Vororten von Damaskus statt. Die Angaben über die Zahl der Getöteten schwankten zwischen 300 und 1700. Nachdem auch die US-Regierung Assad für dieses Kriegsverbrechen verantwortlich machte, bereiteten die USA, England und Frankreich ihre in der Region stationierten Streitkräfte auf einen Großangriff zur Zerstörung der militärischen Infrastruktur in Syrien durch Marschflugkörper vor. Nach diplomatischer Vermittlung Russlands verzichtete Obama jedoch auf den geplanten Angriff und stimmte stattdessen einer Vereinbarung zur Vernichtung aller syrischen Chemiewaffen zu.
Seither wird Obama von seinen politischen Gegnern in den USA der Vorwurf gemacht, diese Chance zum Regimewechsel und Ausschaltung des „Schlächters von Damaskus“ nicht genutzt zu haben. Wie Seymour Hersh herausfand, war den US-Geheimdiensten und der Regierung jedoch bekannt, dass der Giftgasangriff eben nicht von Assad, sondern von islamistischen Extremisten mit Unterstützung des türkischen Geheimdienstes durchgeführt wurde. Nach einer Studie des Massachusetts Institute of Technology gehörten die beim Sarin-Angriff eingesetzten Raketen weder zum Arsenal der Regierung, noch war deren Reichweite ausreichend für das Einsatzszenario, das in den offiziellen Untersuchungsergebnissen der US-Regierung für die Rechtfertigung des Vergeltungsangriffs vorgelegt wurde. Außerdem bewiesen Proben des britischen Geheimdienstes, dass das Sarin nicht aus Beständen der syrischen Streitkräfte, sondern der Nusra-Front stammten.
Das Vorgehen der USA in Syrien konzentrierte sich in der Folgezeit auf den Kampf gegen den Islamischen Staat. Als Reaktion auf die riesigen Geländegewinne des IS im Summer 2014 im Irak und in Syrien wurde unter US-Führung eine Allianz von mehr als 60 Staaten zur Vernichtung dieser Terrororganisation gebildet. Das hielt die USA jedoch nicht davon ab, die Assad-Gegner noch stärker als bisher zu unterstützen, obwohl bekannt war, dass viele der von den USA ausgebildeten Kämpfer zum IS überliefen und dort auch ein Großteil der Waffen landete.
Die Verluste der syrischen Regierungstruppen waren schließlich so groß, dass deren Zusammenbruch bis spätestens Ende des Jahres 2015 erwartet wurde. Zuvor wurden jedoch am 30. September russische Luftstreitkräfte auf Bitten der Regierung in Damaskus an die syrische Mittelmeerküste in die Nähe von Latakia verlegt. Deren Einsatz sicherte die Luftüberlegenheit der syrischen Regierungstruppen. Dies brachte die Wende im Kampf gegen die meist djihadistischen Assad-Gegner, die immer stärker zurückgedrängt wurden.
Die Antwort der Obama-Regierung auf die russische Herausforderung bestand nur zehn Tage später in der Ausrufung der „Syrischen Demokratischen Kräfte“ (SDF), ein Zusammenschluss von vorwiegend kurdischen Truppen mit kleineren arabischen Milizen, die von den USA ausgebildet, bewaffnet und geheimdienstlich unterstützt wurden. Ihnen fiel die Aufgabe zu, als einheimische Bodentruppen die militärischen Ziele der USA in Syrien durchzusetzen. Im Kampf gegen den IS waren sie dabei im Nordosten des Landes sehr erfolgreich.
2016 ergriff Putin zunehmend die politische Initiative in Syrien. Er stärkte den russischen Einfluss vor allem nach der Rückeroberung von Ost-Aleppo und den Vereinbarungen von Astana mit dem Iran und der Türkei.
Die US-Regierung beschränkte sich dagegen weitgehend auf die Rolle des politischen Beobachters. Nach dem Regierungsantritt von Trump beauftragte er das Pentagon mit der Erstellung einer Syrien-Strategie. Was daraus wurde, ist nicht bekannt, sodass seine Gegner dem Präsidenten vorwerfen, er habe gar keine Strategie. Stattdessen überließ er das weitere Vorgehen der militärischen Führung.
Das Ergebnis ist höchst problematisch, wie der Blick auf eine Karte der aktuellen Machtverhältnisse in Syrien zeigt. Hier wird deutlich, dass offenbar versucht wird, den Osten des Landes durch US-geführte einheimische Truppen zu erobern. Ziel ist nicht nur eine Stärkung des amerikanischen Einflusses in Syrien, sondern vor allem die Kontrolle der Ost-Grenze des Landes. Damit würde die „Schiitische Achse“ vom Iran über den Irak und Syrien bis in den Süd-Libanon unterbrochen und die Lieferung von Waffen und Nachschub für die Hizbollah verhindert – ein entscheidender strategischer Gewinn für Israel.
Zum Erreichen dieses Ziels rücken die von den USA unterstützten Truppen von Norden vor und positionieren sich auch im Süden. So ist im Nordosten die Kampfkraft der SDF erheblich verstärkt worden durch die Bereitstellung schweren Waffen und eine Aufstockung der US-Spezialkräfte. Deren Zahl in Syrien wird inzwischen auf mehr als 1.000 geschätzt. Offiziell dienen diese Maßnahmen dem Kampf gegen den IS. Nach der absehbaren Eroberung des IS-Kerngebietes im Euphrat-Tal ergibt sich jedoch auch der angestrebte Nebeneffekt einer Kontrolle des wichtigen Grenzübergangs zum Irak bei Abu Kemal und damit der bedeutendsten Verkehrsverbindung zwischen den beiden Staaten.
Im Süden des Landes hat die USA weitere Truppen in Stellung gebracht. Die dortigen einheimischen Assad-Gegner werden ebenfalls von US-Spezialkräften ausgebildet, bewaffnet und geführt. Auch sie sollen offiziell den IS bekämpfen und bis ins Euphrat-Tal vorrücken. Damit würden sie zugleich den verbleibenden Ostteil Syriens unter ihre Kontrolle bringen.
Ausgangspunkt ist hier eine Sicherheitszone mit einem Umkreis von 50 km um den Ort Tanf. Die Standortwahl ist von herausragender strategischer Bedeutung, weil von hier aus nicht nur der nahegelegene Grenzübergang zum Irak und die kürzeste Hauptverkehrsachse zwischen Iran und Südlibanon kontrolliert werden kann, sondern auch der Nachschubweg aus Jordanien gesichert ist.
Auf der gegnerischen Seite versuchen die syrischen Streitkräfte gemeinsam mit ihren verbündeten ausländischen Truppen den Kampf um den Ostteil des Landes für sich zu entscheiden und die Errichtung einer Pufferzone entlang der irakischen Grenze durch die von den US-geführten Truppen zu verhindern. Allerdings sind bereits mehrere Versuche von Pro-Assad Einheiten, auch nur in die Nähe der Sicherheitszone von Tanf vorzurücken, am Beschuss durch US-Kampfflugzeuge gescheitert.
Südwestlich von Raqqa wurde sogar ein syrisches Kampfflugzeug abgeschossen, weil es im Frontbereich über IS-kontrolliertem Gebiet den Stellungen des SDF zu nahe gekommen war. Die russische Führung erklärte daraufhin, dass jedes militärische Flugobjekt westlich des Euphrat abgeschossen würde. Die Drohung unterstreicht, wie angespannt die Lage ist. Eine direkte militärische Konfrontation zwischen Russen und Amerikaner ist nicht mehr auszuschließen.
Dies gilt umso mehr angesichts der Unberechenbarkeit von Trump und der jüngsten Drohung aus dem Weißen Haus. So behauptete der Pressesprecher des Präsidenten am 26. Juni 2017, es lägen Beweise für die Vorbereitung eines weiteren Giftgasangriffs des Assad-Regimes vor. Bei dessen Ausführung würden Assad und seine Streitkräfte „einen hohen Preis bezahlen“. Nach den vorherigen Einsätzen von Chemiewaffen, die von Assad-Gegner „unter falscher Flagge“ verübt wurden, bedeutet Trumps neue „rote Linie“ geradezu eine Einladung an die Djihadisten, weitere Giftgasanschläge zu verüben, um US-Vergeltungsangriffe zu provozieren.
Es wäre höchst überraschend, wenn sich die Assad-Gegner diese Chance entgehen ließen. Inzwischen berichten russische Medien über Vorbereitungen solcher Giftgasanschläge von islamistischen Extremisten sowohl in Deraa, im Süden des Landes, als auch in zwei Orten in der Deeskalationzone von Idlib, die weitgehend von der zum Al-Kaida-Netzwerk gehörenden ehemaligen Nusra-Front kontrolliert wird. Wie wird Trump darauf reagieren, wenn erneut von den Weißhelmen propagandistisch inszenierte Horrorfilme von Giftgasopfern, insbesondere von qualvoll erstickten Kindern verbreitet werden?
Bereits beim letzten angeblichen Giftgasangriff des Assad-Regimes in Khan Sheikhun am 4. April 2017 wurden in Washington Strafmaßnahmen erwogen, die unter anderem eine massive Bombardierung von Militärflughäfen und aller möglichen Aufenthaltsorte des syrischen Präsidenten in Damaskus vorsahen, um nach dessen Tod endlich den lange erstrebten Machtwechsel in Syrien vollziehen zu können. Dieses Szenario wurde abgelehnt, da das Risiko eines Krieges zwischen den USA und Russland zu groß erschien.
Aber wozu ist Trump jetzt fähig? Der innenpolitische Druck, der auf ihm lastet, ist so hoch wie nie zuvor. Wie schon beim vorherigen Vergeltungsgriff auf den syrischen Luftwaffenstützpunkt Al-Shayrat, kann er sicher sein, dass die große Mehrheit der US-Parlamentarier und -Wähler einen massiven Militärschlag gegen Assad als Reaktion auf den nächsten Giftgaseinsatz „unter falscher Flagge“ bejubeln würde. Kann ausgeschlossen werden, dass Trump überzeugt ist, Putin wagt doch keinen Krieg gegen die stärkste Militärmacht der Welt, und er deshalb entgegen den Warnungen seiner militärischen Berater den Befehl zur Bombardierung des Palastes, der Kommandozentrale und anderer möglicher Aufenthaltsorte von Assad gibt?