Rubikon: Herr Markus, zu Monatsbeginn erklärten die USA ihren Ausstieg aus dem INF-Vertrag. Viele Menschen befürchten nun ein neues Wettrüsten. Bitte erklären Sie doch zu Beginn unseres Gesprächs, was der INF-Vertrag konkret regelte und warum er wichtig war.
Markus: Der INF-Vertrag war für die gesamte Rüstungskontroll-Architektur so wichtig, weil er eine ganze Waffenart aus dem Spektrum der einsetzbaren Mittel verbannt hat. Der Vertrag ist 1987 zwischen den Vereinigten Staaten und der UdSSR abgeschlossen worden. Es ging vor allem darum, landgestützte Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper zu beseitigen – einschließlich der zugehörigen Infrastruktur. Diese beiden Staaten hatten sich als Hauptkontrahenten des Kalten Krieges darauf geeinigt, alle Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern kontrolliert zu vernichten, sowie die Startanlagen, die Führungszentren und alles was notwendig war, um diese Waffen einzusetzen.
Wie kam es denn zu dieser bemerkenswerten Einigung?
Auslöser war die Stationierung von Mittelstreckenraketen auf sowjetischer Seite, der SS-20, ab 1976. Die hatten eine Reichweite von 5.000 Kilometern und waren im Grunde genommen strategische Waffen, die in 5 bis 15 Minuten Ziele in Westeuropa erreichen konnte. Diese Stationierung, die vor allem in Weißrussland und der Ukraine stattfand, war für die amerikanische Seite der willkommene Anlass, die Pershing-2-Raketen und die Cruise Missiles in Westeuropa zu stationieren – vorzugsweise in der Bundesrepublik. Das war ohnehin geplant, weil diese Mittelstreckenwaffen sich in die damals geltende US-Strategie der „Flexiblen Reaktion“ einordneten.
Die Pershings und Cruise Missiles sollten in einem etwaigen Krieg die Führungszentren und Infrastruktureinrichtungen des Warschauer Vertrages zerstören, seine Kommunikation unmöglich machen. Das wäre durch die kurzen Vorwarnzeiten auch möglich gewesen. Die Mittelstreckenraketen wären in fünf Minuten bis Weißrussland und die Ukraine vorgedrungen und hätten den Aufmarsch der zweiten strategischen Staffel des Warschauer Paktes stören können. Das sollte kombiniert werden mit schockartigen Angriffen und tiefen Schlägen gegen den Gegner – sogenannten Deep Strikes – 100 bis 300 Kilometer in dessen operatives Hinterland. Und man hatte auch schon Planungen, wie viele Raketensalven man braucht, um beispielsweise den Aufmarsch der nachrückenden Warschauer-Pakt-Truppen an der Oder aufzuhalten.
Und trotzdem haben sich die USA zu einer Abrüstung bereit erklärt?
Nun ja, beide Seiten haben sich strategisch neutralisiert. Man muss wissen, dass der Warschauer Vertrag im Grunde genommen ein ähnliches operativ-taktisches Konzept wie die NATO hatte. Es hieß nur anders: Es war das Konzept der verbundenen Waffen. Was für den Westen die Deep Strikes, das waren für den Warschauer Vertrag die operativen Manövergruppen, die man eingesetzt hätte, um Durchbrüche zu erzielen, den Gegner zu umgehen, ihn zum Rückzug zu zwingen. Das alles sind Blaupausen gewesen, die sich in einem realen Konflikt so nicht hätten durchhalten lassen, weder auf östlicher noch auf westlicher Seite.
Die UdSSR hatte damals schon öffentlich erklärt, sie würde zwar nicht als erste Kernwaffen einsetzen, aber sie würde jeden Nuklearschlag des Gegners massiv beantworten. Schon aus dem Grund, um sicherzustellen, dass der Gegner nicht mit einem Zweitschlag die Kampffähigkeit der eigenen Verbände völlig ausschaltet. Das hätte in der Konsequenz bedeutet, wenn beispielsweise beim Vormarsch des Warschauer Pakts der Kommandeur einer Bundeswehrdivision oder eines Armeekorps in Abstimmung mit den Amerikanern einen punktuellen Nuklearwaffeneinsatz befohlen hätte, dann hätte die Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland sofort massiv geantwortet.
Diese Westfront der Sowjettruppen hatte 300 Kernladungen in ihrem Bestand mit einem Gesamt-TNT-Äquivalent von neun Megatonnen. Eine Megatonne sind 75 Hiroshima-Bomben. Diese Waffen wären in solch einem Fall mit ziemlicher Sicherheit zum Einsatz gekommen, wahrscheinlich in einer Tiefe von bis zu 300 Kilometern. Die technischen Voraussetzungen dafür gab es. Das wäre absolut verheerend gewesen. Das hätte die Zivilbevölkerung ausgelöscht. Der Westen hätte natürlich entsprechend reagiert.
„Deutschland wäre in jedem Fall nukleare Wüste geworden“
Die wechselseitige Stationierung von Mittelstreckenwaffen hat – wie auch die ähnlichen operativ-taktischen Militärkonzepte – zu einem strategischen Patt geführt. Als die Pershings und Cruise Missiles in Westdeutschland stationiert wurden, hat die Sowjetunion nochmal reagiert und auf dem Territorium der DDR SS-12-Raketen mit einer Reichweite von 930 Kilometern stationiert. Beide Seiten standen sich mit einem absoluten Vernichtungspotenzial gegenüber und es ist stark anzuzweifeln, dass ein möglicher Krieg nach seinem Ausbruch auf Mitteleuropa zu begrenzen gewesen wäre.
Die Bundesrepublik und die DDR wären auf jeden Fall nukleare Wüsten gewesen. Es wären auch in den angrenzenden Ländern riesige Landstriche nuklear verseucht gewesen. Man mag sich das gar nicht vorstellen. Es hätte auch bedeutet, dass ein Krieg, der als Mittel einer bestimmten Politik begonnen hätte, nicht mehr hätte geführt werden können, um irgendwelche rational nachvollziehbaren Kriegsziele zu erreichen. Und in dieser Situation konnte man sich dann zum INF-Vertrag durchringen.
Die UdSSR hatte unter Gorbatschow 1986 öffentlich erklärt, dass sie ihre Militärdoktrin und damit auch die Doktrin des Warschauer Vertrags auf reine Verteidigung umstellt. Bis dahin galt ja auch im Warschauer Vertrag der Angriff als Hauptgefechtsart und man wollte im Kriegsfall den Gegner nach Möglichkeit auf dessen eigenem Territorium zerschlagen. Dann hat man sich eben Gedanken gemacht, wie man die extreme Bedrohung durch die Mittelstreckenraketen mit diesen unwahrscheinlich kurzen Vorwarnzeiten beseitigen kann. Und auf Grundlage der Analyse des Kräfteverhältnisses hat man gesagt: „Wir müssen diese Waffenart ächten. Wir müssen sie zerstören.“
Auch weil durch einen Zufall, durch einen Systemfehler, durch menschliches Versagen ein Krieg ausbrechen kann, der wegen der kurzen Vorwarnzeiten überhaupt keine Reaktionsmöglichkeiten mehr lässt. Ein Krieg, der keine Chancen mehr bietet, beispielsweise durch ein Telefonat oder andere Kontaktaufnahme ein solches Inferno noch zu verhindern. Der INF-Vertrag hat als vertrauensbildende Maßnahme gewirkt, weil dieses gegenseitige Vernichtungspotenzial dann nicht mehr ganz so massiv war. Er schuf eine größere Sicherheit, bei Missverständnissen noch deeskalierend und steuernd eingreifen zu können. Das war der Sinn dieses Vertrages.
Gab es damals schon Schwächen in dem Abkommen?
Der Vertrag war eine Kompromissvariante. Als die Verhandlungen begannen, war die UdSSR noch der Meinung, es müssten auch die französischen und die britischen Kernwaffen mit einbezogen werden. Auch wenn Frankreich nicht in die Militärorganisation der NATO eingebunden war. Es hatte sein Kernwaffenpotenzial und hätte im Kriegsfall unterstützend gewirkt. Da gibt es keine Zweifel. Die entsprechenden Planungen gab es. Für Großbritannien gilt das ebenfalls. Man hat sich aber auf den Einbezug dieser Waffen nicht einigen können. Es gab dafür ein schlagendes Argument: Die UdSSR hat mit den SS-20 begonnen und die anderen haben nachgelegt. Es gab den NATO-Doppelbeschluss und der ließ sich kommunikationspolitisch gut als reine Reaktion des Westens darstellen, was es vom strategischen Konzept her ja nicht war.
Man hat sich in den Gesprächen dann darauf verständigt, zunächst mal die Bedrohung, die sich aus dem Nuklearpotenzial der beiden Supermächte ergab, einzuschränken. Das war ein großer Fortschritt zum damaligen Zeitpunkt. Es gab auch schon damals außerhalb Europas Nuklearmächte, wie etwa China oder Indien, aber das hatte für den europäischen Kriegsschauplatz keine unmittelbare Bedeutung. Diese Nuklearmächte hatten auch nicht die raketentechnischen Fähigkeiten wie heute. Der Hauptkonflikt spielte sich zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten ab. Insofern hat man auf diese Abrüstungsmöglichkeit den Fokus gelegt – nicht nur bei den Mittelstreckenraketen, sondern Anfang der 1970er Jahre schon bei den strategischen Raketen und bei den Raketenabwehrsystemen. Das brannte den Politikern unter den Nägeln.
Aus dieser Gesamtsituation resultieren eben die Vertragslücken. Also zum einen, dass es eine regionale Begrenzung auf Europa war und der asiatische und pazifische Raum nicht miteinbezogen wurde, weil er nicht relevant war. Und der zweite Punkt ist, dass die USA in den Vertrag hineinverhandelt haben, dass lediglich die landgestützten Mittelstreckenraketen, die Mitteleuropa zerstören konnten, verboten werden – nicht allerdings die see- und luftgestützten Marschflugkörper. Das hatte zur Konsequenz, dass die Vereinigten Staaten ihre auf strategischen Bombern und auf Schiffen sowie U-Booten stationierten Marschflugkörper nicht abrüsten mussten. Diese Lücken hat man damals zwar gesehen, aber die Sowjetunion, die nicht nur militärpolitisch, sondern auch wirtschaftspolitisch mit dem Rücken zur Wand stand, konnte diese Punkte nicht mithineinverhandeln.
„Die USA wollen Mittelstreckenraketen auch gegen China in Stellung bringen“
Das Problem heute ist, dass sich vieles technisch verändert hat, dass es neue Möglichkeiten gibt und dass sich vor allem die geopolitische Situation verändert hat. Es sind eben neue Akteure erschienen wie China. Die Amerikaner haben offensichtlich massives Interesse daran, Mittelstreckenraketen auch gegen China in Stellung bringen zu können, um im pazifischen Konflikt, der sich immer wieder zeigt, ein Faustpfand zu haben. Vor dem Hintergrund haben die USA nur begrenztes Interesse, diesen INF-Vertrag am Leben zu erhalten.
Was meinen Sie konkret, wenn Sie von neuen technischen Möglichkeiten heute sprechen?
Zum Beispiel die neuen Waffenarten wie Angriffsdrohnen, die eigentlich unter die Kriterien des INF-Vertrages fallen, aber trotzdem von den USA eingesetzt werden. Das ist ein Problem, das die Russen ansprechen. Sie sagen, diese Drohnen, die zum Teil auch schwer abzufangen sind, sollte man in den Vertrag mit einbeziehen.
Ein weiterer Aspekt ist das von den Vereinigten Staaten installierte Raketenabfangsystem mit Stationen in Rumänien und Polen, das sich angeblich gegen eine nukleare Bedrohung durch Iran oder Nordkorea richtet. Wenn man es genau betrachtet, dient dieses System nur dazu, im Konfliktfall russische Raketen abfangen zu können. Man schwächt also damit potenziell die russische Erst- und Zweitschlagsfähigkeit. Russland hatte zu Beginn angeboten, sich bei diesem System einzubringen, etwa durch entsprechende Radaranlagen und anderes – das ist von den USA aus durchschaubaren Gründen abgelehnt worden.
Hinzu kommt, dass aus diesen Raketencontainern auch Marschflugkörper abgefeuert werden können. Das heißt, man könnte damit den INF-Vertrag unterlaufen und Marschflugkörper gegen Russland einsetzen. In dem Vertrag ist festgehalten, dass auch die Infrastruktur zum Abschuss dieser Waffen zu vernichten ist. Hier hat man in Russland das Gefühl, dass der Vertrag verletzt wird. Diese Diskussion findet schon seit einigen Jahren statt.
Ein weiteres Thema, das schon vor 15 Jahren eine Rolle gespielt hat, ist, dass die Amerikaner für die Entwicklung ihrer Anti-Raketensysteme natürlich Übungsraketen einsetzen, die die Eigenschaften von Mittelstreckenraketen haben müssen, um diese Abwehrsysteme realistisch testen zu können. Russland hat schon seit längerem den Eindruck, diese Übungsraketen seien verdeckte Waffenentwicklungen im Bereich der eigentlich verbotenen Mittelstreckenwaffen. Als die Russen das angesprochen haben, sind die Amerikaner aus den Kontrollmechanismen ausgestiegen. Es gibt momentan keine vernünftigen Mechanismen, um die Einhaltung dieses Vertrags kontrollieren und durchsetzen zu können.
„Beide Seiten wollen den INF-Vertrag, so wie er ist, nicht mehr“
Ich habe den Eindruck, beide Seiten haben im Kern nur geringes Interesse, den Vertrag unter den gegenwärtigen Umständen am Leben zu erhalten. Die Russen, weil sie meinen, dass der Vertrag systematisch unterlaufen wird. Die Amerikaner wiederum, weil sie einerseits die regionale Begrenzung als unangenehm empfinden und andererseits ein Interesse daran haben, ein militärisches Drohpotenzial an den russischen Grenzen aufzubauen.
Man hat ja auch kurz nach dem formalen Ausstieg aus dem INF-Vertrag Stimmen gehört, die sagten, nun müsse man beispielsweise in Polen oder in Estland solche Mittelstreckenraketen oder Marschflugkörper stationieren, um den militärischen Druck auf Russland zu erhöhen. Man sagt dann im Westen immer: „Ja, das dient ja nur der Abschreckung.“
Das kann man aber nur richtig bewerten, wenn man die militärpolitische Gesamtsituation in der Region betrachtet. Wenn solch eine Stationierung stattfinden würde, würden sich die Vorwarnzeiten für die russische Raketenabwehr extrem verkürzen. Man hätte also im Prinzip wieder eine Situation wie im Kalten Krieg – teilweise noch brisanter. Es ist jetzt schon klar, dass die Russen darauf entsprechend reagieren werden. Sergej Schoigu, der russische Verteidigungsminister, hat vor einigen Tagen angekündigt, dass man die eigenen Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper modernisieren und neue entwickeln wird. Diese Gesamtentwicklung stimmt nicht unbedingt optimistisch.
In deutschen Medien und von westlichen Politikern ist das meiste, was Sie gerade erläutert haben, so nicht zu hören. Dort wird eindeutig gesagt: „Russland hat den INF-Vertrag verletzt!“ Ist das ein Vorwand oder ist da auch etwas Wahres dran?
Ich habe das Gefühl, dass Russland es kommunikationspolitisch etwas ungeschickt anstellt. Also es gab ja immer wieder Informationen, dass Russland Marschflugkörper entwickelt. Im Syrien-Konflikt sind ja zum ersten Mal Marschflugkörper des neuen „Kalibr“-Systems eingesetzt worden – allerdings luft- und seegestützt. Es gibt seit zwei Jahren auch immer wieder Aussagen, dass auch landgestützte Marschflugkörper entwickelt werden, im Rahmen der Modernisierung des „Iskander“-Systems. Dieses System war bislang für den Einsatz operativ-taktischer Raketen mit einer Reichweite unter 500 Kilometern ausgelegt. Also, diese Raketen verletzten nicht den INF-Vertrag.
Man hat diese Iskander-Systeme nun in der Exklave Kaliningrad stationiert, um damit im Kriegsfall das Anti-Raketensystem im polnischen Redzikowo neutralisieren zu können. Diese Stationierung in Kaliningrad war lange angekündigt. Das ist auch nicht der große Streitpunkt. Der Streitpunkt ist die Modernisierung dieses Systems. Russland hatte erklärt: „Ja, wir entwickeln diese neue Rakete 9M729. Sie hat aber nur eine Reichweite von unter 500 Kilometern.“ Es gab eine Vorstellung dieses Waffensystems. Da hat man auf den Fotos in der Presse allerdings nur die Startcontainer gesehen, die dann auf die entsprechenden Startfahrzeuge montiert werden. Die Russen hatten die Militärattachés der Vereinigten Staaten, Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands, der NATO und der EU dazu eingeladen. Die haben die Einladungen ausgeschlagen, weil sie offenbar der Meinung waren, das ist eine reine Propagandageschichte und man könne die Reichweite der Rakete bei einer bloßen äußeren Betrachtung ohnehin nicht einschätzen.
An dem Argument ist natürlich etwas dran. Die Russen haben erklärt, dass diese Waffe eine Reichweite von 50 bis 480 Kilometern habe, dass es eine modernisierte Bordelektronik und mehrere Sprengköpfe gibt. Dadurch sei das ganze System 53 Zentimeter länger als die herkömmliche Iskander-M-Rakete. Man hat den Amerikanern auch angeboten, die Waffe zu inspizieren. Die haben das abgelehnt.
In russischen Quellen tauchen auch immer wieder Informationen auf, dass man an einem landgestützten Marschflugkörper dieser Typenbezeichnung auch mit einer höheren Reichweite gearbeitet hat. Ob das so ist oder nicht, kann man schlecht beurteilen.
Was bei dieser ganzen Diskussion stutzig macht, ist, dass die Amerikaner den Russen wohl angeboten haben, wenn sie auf die neuen Iskander-Marschflugkörper 9M729 verzichten, würden die Amerikaner auch ihre Raketenanlagen in Polen und Rumänien so umrüsten, dass aus deren Startschächten keine Marschflugkörper mehr abgefeuert werden können. Das deutet darauf hin, dass ihr Raketenabwehrsystem auch eine Verletzung des INF-Vertrags darstellt. Aus dem Deal ist offensichtlich nichts geworden. Beide Seiten nutzen das nun anstehende halbe Jahr Karenzzeit möglicherweise noch, um Verhandlungen aufzunehmen. Aber es ist eine ausgesprochen komplizierte Situation.
„Die USA haben den Vertrag schon lange unterschwellig ausgehöhlt“
Beide Seiten scheinen den Vertrag eigentlich modifizieren zu wollen, um die veränderte militärpolitische Situation angemessen abzubilden. Es macht allerdings den Eindruck, dass die Vereinigten Staaten Vorreiter in diesem Prozess waren. Durch die Drohnenentwicklung, durch die Übungsraketen und die Entwicklung des Anti-Raketensystems hatten sie unterschwellig schon begonnen, den INF-Vertrag auszuhöhlen. Die Russen haben reagiert. Aber wegen ihrer suboptimalen Kommunikationspolitik haben sie nun den Schwarzen Peter und müssen sich öffentlich rechtfertigen, dass sie dort nachgezogen haben.
Also die USA verletzen den Vertrag, aber westliche Medien konzentrieren sich wieder mal auf Russland als Schuldigen?
Das ist meiner Ansicht nach die mediale Darstellung. Aber im Grunde genommen geht es um strategische Fragen. Die USA haben ein Militärkonzept, das sich „Prompt Global Strike“ nennt. Es geht um die Verteilung von Flugzeugträgergruppen und Stützpunkten, um an jedem Ort der Welt militärisch in kürzester Zeit eingreifen zu können, wenn US-Interessen bedroht sind. Die Modernisierung des russischen Militärpotenzials ist aber dabei hinderlich, ein solches Konzept durchzusetzen. Russland hat den Syrienkonflikt benutzt, um dem Westen zu signalisieren, dass es als globaler Spieler auch militärisch wieder eingreifen kann. Die Vereinigten Staaten wollen diese Entwicklung erschweren oder blockieren und Russland aus den globalen Prozessen heraushalten. Das kann man nur machen, wenn man ein Drohpotenzial aufbaut. Die Aufkündigung des INF-Vertrags durch die USA ordnet sich in diese Strategie ein.
Russland wiederum hat kein Interesse daran, sich einem Diktat des Westens zu fügen. In Moskau verfolgt man die Agenda, sich als globaler Akteur zu positionieren und eigene Interessen durchzusetzen. Russland will für andere Staaten als Bündnispartner attraktiv sein und kann sich deswegen keine Schwäche leisten. Keine Seite will einen Gesichtsverlust riskieren. Das hatten wir alles schon mal. Und auch wenn sich Geschichte nicht wiederholt, es gibt schon bestimmte Ähnlichkeiten.
„Die neue russische Militärdoktrin erklärt vieles“
Nun ist von vielen Seiten die Befürchtung zu hören, dass mit dem Ende des INF-Vertrags ein neues Wettrüsten wie im Kalten Krieg droht. Ist das aus Ihrer Sicht ein realistisches Szenario?
Man muss sich in diesem Zusammenhang mit der russischen Militärdoktrin auseinandersetzen. Das ist ganz sinnvoll, um einzuordnen, was hier momentan von russischer Seite aus passiert. Diese neue Doktrin wurde am 25. Dezember 2014 beschlossen. Da haben manche gemutmaßt, das sei ein Reflex auf die Ukraine-Krise gewesen. Das stimmt aber nicht.
Diese Doktrin wurde schon seit längerer Zeit entwickelt – einfach aufgrund der veränderten geopolitischen Situation. Wenn man über solche militärpolitischen Leitlinien staatlicherseits nachdenkt, dann geht es um die eigenen wirtschafts- und sicherheitspolitischen Interessen, es geht um die Bedrohungsrezeption, um Geopolitik und um Kriegsszenarien. Also darum, wie ein zukünftiger Konflikt ablaufen könnte. Wie könnte er beginnen? Wie könnte er operativ und strategisch geführt werden? Das sind Bestimmungsfaktoren, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen.
Wenn man sich nun die vitalen Interessen Russlands anschaut, dann ist klar, dass es den Russen um eine langfristige wirtschafts- und sicherheitspolitische Konsolidierung des postsowjetischen Raumes geht. Man hat versucht, die Bindungen zu den ehemaligen Sowjetrepubliken wieder auszubauen. Man hat Angst davor, dass Konflikte, die in diesen Randgebieten aufflammen, auf das russische Territorium übergreifen – mit allen Konsequenzen der Destabilisierung der staatlichen Ordnung, die so etwas haben könnte. Das ist der innenpolitische Bereich.
Außenpolitisch kommt dazu, dass man sagt: „Wir müssen etwas tun, um die geopolitische Dominanz der USA einzuschränken.“ Dass man also ein Gegengewicht aufbaut. Denn die alleinige militärische Dominanz der Amerikaner hat dazu geführt, dass eine Unzahl von Konflikten und asymmetrischen Kriegen ausgebrochen ist, die zur Zerstörung vieler Staaten geführt haben. Es geht um den Irak, um Libyen und andere Konflikte, in die die Vereinigten Staaten mit einer gewissen Hemdsärmeligkeit eingegriffen haben und in der Regel ohne Kenntnis der Situation in den dortigen Ländern versucht haben, ihre politischen Vorstellungen umzusetzen und damit regelmäßig gescheitert sind.
Das Ergebnis sind zerfallene Staaten, ethnische und religiöse Konflikte; und das ist etwas, was die Russen eingrenzen möchten. Sie möchten dabei auch sicherstellen, dass die Fähigkeit des Westens zur Auslösung von Regime-Wechseln eingeschränkt wird. Das betrifft auch die russische Peripherie – also die sogenannten Farbrevolutionen im postsowjetischen Raum. Wenn man sich das anschaut, erlebt man ja immer wieder das gleiche Ablaufschema. Der letzte Fall war die Ukraine, wo mit US-Geldern finanziert eine neue Regierung verfassungswidrig an die Macht gebracht wurde.
„Die russischen Rohstoffe wecken Begehrlichkeiten bei anderen Akteuren“
Das sind alles Dinge, die mit in das Denken über die zukünftige Ausrichtung von Militärpolitik hineinspielen. Dann gibt es noch einen Aspekt, der für die Zukunft eine ungeheure Bedeutung hat: die bevorstehende weltweite Ressourcenverknappung. Russland will seine territoriale Integrität gesichert wissen, auch wenn die internationalen Verteilungskonflikte sich zuspitzen sollten. Wenn man sich diese riesige russische Landmasse anschaut und sieht, welche Rohstoffe dort liegen – teilweise noch nicht mal erkundet –, dann wird klar, dass das bei anderen Akteuren Begehrlichkeiten weckt. In Russland möchte man sicherstellen, dass man auf externe Bedrohungen zukünftig adäquat reagieren kann. Das alles hat zur Neuauflage der Militärdoktrin geführt.
Was beinhaltet die Doktrin konkret?
Der erste wesentliche Aspekt ist, dass man Hauptgefahren definiert hat. Die erste Hauptgefahr ist die NATO-Präsenz an der russischen Westgrenze. Russische Militärs rechnen wieder mit nuklearen Schlägen auf dem kürzesten Weg, also über den Nordpol. Deswegen reaktiviert und modernisiert Russland auch viele alte Militärstützpunkte in der Arktis. Als weitere Hauptgefahr hat man den globalen Aufbau amerikanischer Anti-Raketensysteme definiert. Man befürchtet zudem wieder Angriffe auf die strategischen Seewege, damit ist vor allem die Nordostpassage gemeint und das Schwarze Meer. In diesem Zusammenhang sieht man auch, welche Rolle die Krimsezession spielte. Und man hat das Problem der Destabilisierung von Nachbarstaaten als Hauptgefahr erkannt. „Der Westen sollte das zur Kenntnis nehmen“
Und für die Modernisierung der Doktrin hat man auch über den Nuklearwaffeneinsatz nachgedacht. Priorität des russischen Kernwaffenpotenzials ist die Abschreckung. Militärische und nukleare Mittel sollen erst eingesetzt werden, wenn alle gewaltfreien Mittel ausgeschöpft sind – also diplomatisch, juristisch, ökonomisch. Russland ist bereit Nuklearwaffen einzusetzen, wenn ein anderes Land oder eine Koalition Russland mit nuklearen Mitteln oder anderen Massenvernichtungsmitteln angreift oder – und das ist sehr interessant – wenn durch die Aggression eines anderen Landes der Bestand der russischen Föderation gefährdet ist. Das bedeutet also auch bei einer konventionellen existenziellen Bedrohung. Und das ist etwas, was der Westen zur Kenntnis nehmen sollte. Das heißt, man muss schon sehr genau aufpassen, wie weit man mit einer konventionellen Militärpräsenz an die russischen Grenzen vorrückt. Da kann aus einem Zufall heraus etwas entstehen, was nicht mehr steuerbar ist.
Mit der Stärkung des Nuklearpotenzials geht auch eine Stärkung des konventionellen Militärpotenzials einher. Da passiert seit etwa 2010 etwas ausgesprochen Ambitioniertes. Russland treibt eine technische Modernisierung seiner Rüstungsindustrie voran. Es gab eine sehr ambitionierte Militärreform, die eine Abkehr von bisherigen Paradigmen bedeutet. Traditionell hat man auf Masse statt Qualität gesetzt. Jetzt ist es so, dass man die Armee überwiegend mit Zeitsoldaten aufgefüllt hat, mit hochqualifizierten Spezialisten, die entsprechende Waffensysteme sehr professionell bedienen können.
Russland achtet auf den Schutz des Personals und auf die Rahmenbedingungen des Dienstes viel mehr, als das früher der Fall war. Das kann man bei verschiedenen Waffensystemen sehen. Also wenn man etwa den Panzer T-14-Armata nimmt, der hat eine spezielle Schutzkapsel für die Besatzung. So etwas hätte es früher nicht gegeben. Man hat umgedacht.
Russland bereitet seine Armee zudem auf asymmetrische Konflikte vor. Und man will staatlicherseits auch bestimmte wirtschafts- und finanzpolitische Handlungsoptionen ausbauen. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf Meldungen, dass Russland beispielsweise ganz massiv amerikanische Staatsanleihen und Dollarbestände abbaut und in hohem Maße Gold kauft. Es ist einerseits Goldproduzent, aber kauft auch aktiv am Markt. Russland hat seinen Goldbestand massiv erhöht. Das bietet eine Sicherheit, wenn die Vereinigten Staaten versuchen, in einem Konflikt den Dollar als Waffe einzusetzen. Das machen übrigens auch andere Staaten, etwa die Türkei. Also viele Staaten versuchen sich von der Dominanz des Dollars als Leit- und Reservewährung zu verabschieden. Die Russen ziehen das relativ straff durch und sind dadurch ein Stück weit unabhängig von dem, was im globalen Währungsgefüge passiert.
Und was plant Russland laut dieser Doktrin für konkrete Schritte gegen das drohende Wettrüsten?
Der ganze Prozess der Modernisierung läuft nicht mehr so, wie er seinerzeit in der UdSSR betrieben wurde. Die Sowjetunion hatte sich im Prinzip auf ein symmetrisches Wettrüsten eingelassen. Das heißt man hat versucht, hinsichtlich der Schiffe, der Flugzeuge, der Raketen, der Sprengköpfe, der Panzer mit dem Westen gleichzuziehen oder ihn zum Teil zu überflügeln. Das alles wird so nicht mehr passieren, aus ökonomischen Gründen.
Die Russen haben mehrfach erklärt, dass sie sich auf ein neues Wettrüsten, wie es damals stattgefunden hat, nicht mehr einlassen werden. Sondern sie werden asymmetrische Antworten finden, um bestimmte Entscheidungen des Westens zu neutralisieren. Das passiert eben beispielsweise durch die Entwicklung innovativer Waffensysteme wie Hyperschallwaffen oder Drohnen; es gibt neue Systeme der elektronischen Kampfführung oder man wird in den Bereich künstliche Intelligenz hineingehen. Das sind die Lösungen, die derzeit favorisiert werden. Zum anderen setzt Russland sehr stark auf die systematische Modernisierung von Waffentypen, die zu Zeiten der UdSSR entwickelt wurden. Das hat man etwa bei den Marineschiffen, U-Booten oder Fernbombern gemacht. Das ist wesentlich günstiger, als alles neu zu entwickeln.
Also kurz zusammengefasst: Die Rezepte, mit denen Ronald Reagan in den 1980er Jahren gegen die Sowjetunion vorgegangen ist, funktionieren heute nicht mehr, weil Russland darauf anders reagiert?
Ja.
Es ist davon auszugehen, dass man in der NATO auch gut darüber informiert ist. Allerdings: In der westlichen Öffentlichkeit bekommt man von dem neuen russischen Ansatz nicht so viel mit, sondern spricht von einem neuen Rüstungswettlauf und hofft, die Kosten für Russland zu erhöhen.
Naja, man versucht den Leuten ein wenig Angst einzujagen. Kommunikationspolitisch braucht man ein Feindbild. Wenn jemand die Absicht hat, neue Waffensysteme zu kaufen oder neue Waffensysteme zu stationieren; wenn jemand die Absicht hat, Rüstungsausgaben zu legitimieren – also etwa dieses NATO-Ziel, zwei Prozent vom Bruttoinlandsprodukt fürs Militär auszugeben –, dann braucht man eine gewisse Betroffenheit in der Gesellschaft, ein Bedrohungsgefühl, damit die Bürger solche Entscheidungen auch akzeptieren und mittragen. Insofern ist es eine kommunikationspolitisch einfache Lösung zu sagen: Es gibt ein neues Wettrüsten, es gibt eine notwendige Neuauflage des NATO-Doppelbeschlusses. Die Äußerungen des NATO-Generalsekretärs Stoltenberg deuten ja in diese Richtung. Die Äußerungen der Bundesregierung ebenfalls.
„Die Parolen des Kalten Kriegs wiederzubeleben ist blauäugig“
Man revitalisiert kommunikationspolitische Ansätze, die im Kalten Krieg teilweise funktioniert haben. Das ist natürlich blauäugig, da man annehmen muss, dass Russland das auch alles reflektiert hat und aus dem, was damals abgelaufen ist, seine Schlussfolgerungen gezogen hat. Und die Tatsache, dass hierzulande wenig darüber bekannt ist, was die Russen derzeit tun oder was deren Militärdoktrin besagt, ist ein Stück weit auch gewollt. Man braucht holzschnittartige Schablonen, die dazu dienen, den Gegner abzuwerten oder undifferenziert darzustellen. Oder das Gefühl zu vermitteln, das, was momentan in der russischen Regierung passiert, sei eine Neuauflage dessen, was in der Sowjetunion während der Agonie-Phase unter Breschnjew, Andropow oder Tschernenko passiert ist. Das ist aber Kurzschlussdenken.
In einem Kommentar in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) ist sogar die Rede davon, dass Russland mit einem „klaren Vorsprung vor den USA in den erwarteten Rüstungswettlauf“ startet. Das erinnert an die Rede von der „Bomberlücke“ und „Raketenlücke“, die während des Kalten Krieges in den USA erfunden wurden, um vor einem Rüstungsrückstand gegenüber Russland zu warnen. Also – ist es realistisch, dass Russland angesichts des gewaltigen Rüstungsbudgets der USA mit einem Vorsprung in irgendeinen Wettlauf geht?
Naja, das ist ziemlich kindisch. Ich sage mal ein Beispiel: Vorhin hatte ich auf das neue Marschflugkörpersystem „Kalibr“ der Russen hingewiesen, das sie in Syrien im scharfen Schuss eingesetzt haben. Das wäre militärisch nicht notwendig gewesen, aber es war auch als Demonstration für den Westen gedacht.
Die Russen haben aber viel weniger Marschflugkörper als die Vereinigten Staaten, die auf U-Booten, auf Flugzeugträgern, auf Raketenkreuzern eine Vielzahl dieser Waffen haben. Die Amerikaner haben allein auf ihren U-Booten mehr Marschflugkörper stationiert als die Russen insgesamt. Insofern kann keine Rede von einem russischen Vorsprung sein. Sie haben einfach bestimmte technologische Entwicklungen nachvollzogen und – wie mit der Entwicklung des neuen Marschflugkörpers – bestimmte Bedingungen ausgenutzt, die die USA selbst in den INF-Vertrag hineinverhandelt haben. Wir reden hier also eher von einer nachholenden Modernisierung.
„Russland will sich schützen. Im Westen kommt das als Drohgebärde an.“
Man muss sagen, dass es von russischer Seite kommunikationspolitisch immer wieder bestimmte Steilvorlagen für den Westen gibt. Putin hat im letzten Jahr bei einer großen Veranstaltung neue Waffensysteme vorgestellt – einschließlich Hyperschallwaffen. Das hatte zum Ziel, dem Westen deutlich zu machen, dass man sich nichts diktieren lassen und sich wehren wird. Dass Russland also militärisch reagieren kann, wenn der Westen seine Politik der partiellen Einkreisung fortsetzt. Putin hat das in seiner Rede sehr klar ausgedrückt. Im Westen ist es allerdings als eine von Aggressivität geprägte Drohgebärde angekommen. Putin hat sinngemäß gesagt.
„Hört endlich zu und nehmt zur Kenntnis, dass wir Möglichkeiten haben, uns zu schützen. Kehrt um und gebt diesen Konfrontationskurs auf.“
Das wird aber im Westen völlig anders wahrgenommen und das liegt daran, wie es in den Medien dargestellt wird. Da gibt es eine klare Gut-Böse-Zuweisung und man macht es sich leicht, den Russen den Schwarzen Peter zuzuschieben. Das ist übrigens genauso gelaufen bei der Stationierung der Iskander-M-Raketen in Kaliningrad. Das war lange angekündigt und immer als Reaktion angedroht, falls die Vereinigten Staaten das Anti-Raketensystem im polnischen Redzikowo in Betrieb nehmen. Das wusste jeder. Und als es in Betrieb genommen wurde, haben die Russen demonstrativ diese angekündigte Raketenstationierung vollzogen, so dass es im Westen jeder mitbekommen konnte. Aber in den hiesigen Medien hieß es:
„Das ist wieder ein Ausdruck der Aggressivität der Russen, dass sie Raketen in unmittelbarer Nähe Polens stationieren.“
Und zum Thema der Rüstungsausgaben: Diese liegen in Russland zwischen 60 und 80 Milliarden US-Dollar. Das ist eine überschaubare Größenordnung für dieses Riesenland. 2017 wurden die Ausgaben sogar reduziert, aber nicht bei den Modernisierungsprogrammen. Die Vereinigten Staaten hingegen haben einen Militärhaushalt von 640 Milliarden US-Dollar und die NATO insgesamt 900 Milliarden US-Dollar. Russland hat momentan etwa 1,1 Millionen Soldaten in Dienst, die Vereinigten Staaten 1,3 bis 1,5 Millionen und die NATO insgesamt über drei Millionen Mann. Da muss man sich zum Kräfteverhältnis keine weiteren Fragen mehr stellen.
Der Westen ist aber momentan nicht kriegsbereit. Die Amerikaner schon, der Westen als Bündnis jedoch nicht. Weder militärisch noch psychologisch. Das kann sich natürlich ändern. Und dazu ist es dienlich, wenn man der Bevölkerung immer wieder klarmacht, die Russen sind aggressiv, die Russen rüsten auf. Sie brechen das Völkerrecht, sie haben Interesse, im Baltikum einzumarschieren und so weiter. Diese Berichterstattung korrespondiert gleichzeitig mit dem Klagen über eigene Unterrüstung, wie: „Die Bundeswehr ist nicht einsatzfähig. Wir haben zu wenig Schiffe, die Flugzeuge fliegen nicht.“ Das hat sicher einen realen Kern, aber es dient vor allem dazu, höhere Ausgaben zu rechtfertigen. Das sind also zwei Seiten einer Medaille.
Was meinen Sie, was nun passieren wird?
Die aktuelle Debatte weist stark darauf hin, dass man in Polen und im Baltikum eine sogenannte Nachrüstung unternehmen und Marschflugkörper sowie Mittelstreckenraketen stationieren wird. Diese Staaten sind sehr daran interessiert. Das korrespondiert dann mit Querschlägern in der Wirtschaftspolitik. Nehmen Sie die aktuelle Debatte um die Nord-Stream-2-Pipeline. Da spielen natürlich Konkurrenzinteressen der Vereinigten Staaten mit hinein, die ihr mit Fracking gewonnenes Flüssiggas in Europa verkaufen wollen. Andererseits wissen sie, dass Russland und Deutschland durch diese Handelsbeziehungen und Zusammenarbeit gegenseitiges Konfliktpotenzial minimieren und tragfähige Bindungen schaffen, die auch halten, wenn es mal politische Meinungsverschiedenheiten geben sollte.
„Es geht nicht so sehr um Militärpolitik, sondern um globale wirtschaftliche Dominanz“
Also das Vorgehen im militärpolitischen Bereich wird flankiert durch westliche Vorstöße im wirtschaftspolitischen und anderen Bereichen, um den potenziellen Hauptgegner zu isolieren. Gerade die Fokussierung auf Russland und China zeigt, dass es hier nicht nur um irgendwelche rein militärpolitischen Debatten geht, sondern um die zukünftige Stellung in der globalen Wirtschaft. Das ist das Kernproblem. Im Westen hat man gemerkt, dass China und Russland die Haupthindernisse sind, um die traditionelle wirtschaftspolitische Dominanz des Westens global aufrechterhalten zu können.
Zum Abschluss nochmal zurück zum INF-Vertrag: Sehen Sie denn eine Perspektive, dass es einen neuen Vertrag mit mehr Akteuren geben könnte?
Das ist schwer zu sagen momentan. Die deutschen Bemühungen dahingehend sind ja zu begrüßen. Ich befürchte aber, dass diese – anders als zu Zeiten von Bundeskanzler Helmut Schmidt – nicht mehr die Wirkung haben. Das hat verschiedene Gründe. Zum einen agiert die Bundesregierung in traditioneller Abhängigkeit von den USA. Man bedauert zwar einige Veränderungen durch den neuen US-Präsidenten, aber grundsätzlich hält man ja an der Nibelungentreue zu den Vereinigten Staaten fest. Deswegen nimmt man in den USA deutsche Einwände nicht besonders ernst. Zum anderen ist man auf Deutschland auch nicht mehr angewiesen, da man die neuen Waffen jetzt auch in Polen, in Rumänien oder im Baltikum stationieren könnte. Deutschland spielt für die USA nun vor allem eine logistische Rolle als Durchmarschgebiet.
Hinzu kommt, dass die Europäische Union sich sehr schwer tut, eine eigene, von den Vereinigten Staaten unabhängige Außen- und Sicherheitspolitik zu betreiben. Daher ist die EU auch kein bevorzugter Ansprechpartner für Russland. Die Russen treffen ihre Absprachen mit denen, die ihnen als Partner auf gleicher Ebene begegnen – und das sind eindeutig die USA und nicht die EU.
Wenn es nun also nicht gelingt, zu einer neuen vertraglichen Einigung zu kommen, dass man also die wechselseitigen Einwände akzeptiert und versucht, eine einvernehmliche Lösung zu erreichen, dann vermute ich, dass eine Stationierung von Mittelstreckenraketen in Osteuropa kommen wird. Ich vermute auch, dass der Widerstand dagegen nicht so stark sein wird, wie seinerzeit in der Bundesrepublik gegen die Pershing-Stationierung. Und die Russen werden sich entsprechend revanchieren. Putin hat ja nun in einem Fernsehgespräch mit Lawrow und Schoigu gesagt: „Wir unternehmen jetzt nichts und warten ab, ob die Gegenseite bereit ist, mit uns ernsthaft zu diskutieren.“ Der Ball liegt sozusagen wieder bei den USA. Wenn es zu einer Truppen- und Raketenstationierung der NATO in Osteuropa kommt, wird Russland reagieren, allerdings nicht in einem Wettrüsten, sondern asymmetrisch.
Uwe Markus, Jahrgang 1958, war Offizier auf Zeit in der Nationalen Volksarmee der DDR, studierte anschließend Soziologie in Halle an der Saale und arbeitete dann an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften in Berlin. 1989 promovierte er über theoretische Ansätze in der Sozialstrukturforschung. Nach der Wende gründete Markus mit Kollegen ein Marktforschungsinstitut und machte sich 1996 als Markt- und Wahlforscher sowie Marketingberater für kleine und mittlere Unternehmen selbstständig. Parallel arbeitete er als Dozent. Seit 2009 ist er zudem als Publizist tätig. Mit seinem Kollegen Ralf Rudolph verfasste Markus mehrere Bücher https://www.phalanx-verlag.de/portfolio/zu aktuellen internationalen Konflikten und deren militärischen Hintergründen. Zuletzt erschienen von ihnen „Aufmarschgebiet Baltikum“ sowie „Vergessene Kriege der Roten Armee“.