Ein zweiter Aufschrei lässt sich an dieser Stelle vernehmen: Ist es zulässig, im hier erörterten Zusammenhang pauschal von „Deutschen“, von „deutschem Antisemitismus-Diskurs“ und von „deutscher Auseinandersetzung mit der Vergangenheit“ zu reden?
Verbietet sich eine solch generalisierende Nomenklatur nicht schon deshalb, weil doch sehr unterschiedliche, gar gegensätzliche Stimmen und jedenfalls eine heterogen gestimmte deutsche Öffentlichkeit auf kurzfristige tagespolitische Aufloderungen wie auf geschichtlich verfestigte Ideologeme beziehungsweise Tabuübertretungen reagieren?
Dem ist gewiss so, und gewiss ist der eine oder andere Punkt in der vorliegenden Erörterung überspitzt formuliert worden. Und doch lässt sich darauf insistieren, dass die plurale Stimmenvielfalt einem umfassenden (hier idealtypisch angesprochenen) Muster subsumiert sei, das sich an der elementaren Neuralgie des Verhältnisses von Deutschen-und-Juden-nach-Auschwitz schärft und bei periodisch aufflammenden Debatten um die nun mal als „deutsch“ apostrophierte und als ebendiese verhandelte „Vergangenheit“ in einer sich stets zugleich einstellenden Polarisierung mit besonderer Deutlichkeit zutage tritt.
Antisemitische Abneigung gegen Juden und philosemitische „Judenliebe“ erweisen sich dabei, ebenso wie vorgebliche, vor allem bei Jugendlichen anzutreffende „Indifferenz“ Juden gegenüber, als exemplarische Reaktionsmuster, die eines gemeinsam haben: die abschätzige, verklärende oder eben „teilnahmslose“ Abstraktion von „Juden“, die als solche zur Projektionsfläche für selbstbezogene Befindlichkeitskämpfe und Identitätsgerangel, welche sich einzig der unhintergehbaren neuralgischen Verfasstheit eines jeden „Deutschen“ gegenüber „dem Juden“ verdankt, reduziert werden. Ob es in der gegenwärtigen Geschichtsphase einen Ausweg aus diesem Zirkel gibt, sei dahingestellt. Ganz gewiss findet er sich jedoch ebenso wenig in der normalisierungssüchtigen Abkopplung von der deutschen Vergangenheit wie in der „Bekämpfung“ eines katastrophisch herbeigeschrienen Antisemitismus, so als stünde nichts weniger als die Heraufkunft des Vierten Reiches bevor.
Die eklatanteste, zugleich auch politisch am meisten geladene Form der instrumentalisierenden Abstraktion des Juden für heteronome Zwecke manifestiert sich in der metonymisch verwendeten Gleichsetzung des Juden mit Israel und, davon kurzschlüssig abgeleitet, des Antisemitismus mit Antizionismus oder gar schon mit simpler Israelkritik.
Man ist zunächst geneigt, die Analogisierung wie selbstverständlich hinzunehmen: Da sich der Zionismus als die nationale Befreiungsbewegung des jüdischen Volkes und den Staat Israel als Staat der Juden (zuweilen auch als „jüdischen Staat“) versteht, liegt es scheinbar nahe, Israel als Pars pro Toto eines wie immer zu denkenden Jüdischen anzusehen. Da zudem die Gründung des Staates Israel unmittelbar nach der Shoah stattfand und nicht zuletzt infolge dieser Katastrophe des jüdischen Volkes erheblich forciert wurde, wird Israel nicht nur mit Juden gleichgesetzt, sondern sowohl in der proklamierten Ideologie des Zionismus als auch im Selbstverständnis vieler Juden als „Zufluchtsstätte des jüdischen Volkes“ apostrophiert, die der jüdischen Diaspora, mithin einer jahrtausendealten Verfolgungsgeschichte ein Ende setzen soll.
Dass diese ex negativo gebildete Gleichsetzung vieles an ideologischer Verzerrung schon deshalb in sich birgt, weil viele Juden keine Zionisten, viele Zionisten keine Israelis und viele Israelis keine Juden sind, fällt im hier erörterten Zusammenhang zunächst nicht ins Gewicht. Denn es reicht schon, davon auszugehen, dass die allermeisten Juden eine durch die schiere Existenz des Judenstaates genährte Israel-Affinität entwickelt haben, um die Verbindung zwischen „Juden“ und „Israel“ als selbstverständlich gegeben zu akzeptieren.
Was sich indes an der (wie immer ideologisierten) jüdischen Israel-Affinität aus der Perspektive besagter Leiderfahrung als unhinterfragbar ausnehmen mag, erhält in der Israel-Rezeption von Deutschen gemeinhin einen ganz anderen Stellenwert, und zwar besonders dann, wenn Deutsche „Israel“ und „Juden“ in Beziehung zueinander setzen. Denn dass Deutsche die Staatsgründung Israels als eine Art „Wiedergutmachung“ der Geschichte für das von ihnen geschichtlich am jüdischen Volk Verbrochene ansehen, mithin einer grundsätzlichen Israelsolidarität das Wort reden, mag als nur zu natürlich erscheinen. Welches Kollektiv, wenn nicht das deutsche, müsste so „fühlen“?
Ob dabei die offiziellen Staatsabkommen zwischen der alten Bundesrepublik und Israel (wie etwa das Wiedergutmachungsabkommen von 1952 oder die Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen zwischen beiden Staaten im Jahre 1965) diesem „Gefühl“ nachkommen konnten, darf mehr als bezweifelt werden. Zweifellos drückte sich demgegenüber in fortlaufenden Unternehmungen wie „Aktion Sühnezeichen“ ein genuines Bedürfnis aus, etwas von der letztlich unabtragbaren historischen Schuld durch eine fortwährende, zweckgebundene Handlungspraxis zu „sühnen“.
Und doch darf man sich fragen, ob sich an der gängigen deutschen Israel-Rezeption und Israelsolidarität nicht primär jenes Projektionsmuster festmacht, welches der neuralgischen Grundbeziehung zwischen Deutschen und Juden nach der Shoah zwangsläufig zugrunde liegt. Denn nicht nur muss einerseits ein von nichtjüdischen Deutschen deklarativ gefeierter Antizionismus, der in der grundsätzlichen Infragestellung des Existenzrechts Israels kulminiert, auf seine latenten Motivationen hin abgeklopft, mithin der ihm möglicherweise einwohnende antisemitische Impuls entlarvt werden; nicht minder dringlich ist andererseits die Dekodierung einer allzu überschwänglichen deutschen Israelsolidarität angeraten, die bei jedem massiven Militärschlag Israels fröhliche Urständ feiert, ohne sich freilich je die Larmoyanz über die vermeintliche Bedrohung der Existenz Israels vermiesen zu lassen.
Die Vernichtungsfantasie des deutschen Antisemiten ist der Freude an der von Juden praktizierten Gewalt des deutschen Philosemiten aufs Engste verschwistert.
Bezeichnend ist dabei das sich im Topos der „Existenz des Judenstaates“ deutlich niederschlagende projektive Moment. Was der antizionistische Antisemit wunschgedanklich imaginiert, komplementiert der zionismussolidarische Philosemit durch die „besorgte“ Heraufbeschwörung desselben wunschgedanklichen Inhalts.
Gemessen daran, dass Israel schon seit Jahrzehnten nicht in seiner Existenz bedroht ist (und nicht sein kann: jeder Staat im Nahen Osten, der sich anmaßte, es in seiner physischen Existenz zu bedrohen, würde unweigerlich seinen eigenen Untergang mit festschreiben), nimmt sich die permanente Imagination besagter Existenzbedrohung mehr als prekär aus: Was der brachiale antizionistische Antisemit gern „am Juden“ austoben würde, aber nicht austoben darf und daher zur Fantasie der Vernichtung des Judenstaates gerinnen lässt, lebt der israelsolidarische Philosemit an dem aus, was der zionistische Judenstaat gewaltdurchwirkt an anderen austobt und was von anderen an ihm ausgetobt wird. Deutsche Israelfreunde pflegen den Kampf Israels „um seine Existenz“ bis zum letzten israelisch-jüdischen Blutstropfen auszufechten.
Die hier skizzierte Dichotomie trägt freilich idealtypischen Charakter. Der proisraelische Philosemit kann sich gleichwohl durchaus auch als selektiv in seiner „Judenliebe“ erweisen, wie denn der gängige Antisemit gar nicht israelfeindlich zu sein braucht. Denn während Letzterer sich ohne Weiteres alle Juden nach Israel wünschen mag, damit sie aus seiner Lebenswelt verschwinden, kann Ersterer bitterböse werden, wenn er einem israelkritischen Juden oder einem zionismuskritischen Israeli begegnet; zuweilen wird er, der Deutsche, sich nicht entblöden, ihn, den Juden, als Antisemiten zu schmähen – denn nie wird der „wiedergutmachende“ philosemitische Israelfetischist, der seine objektive Zugehörigkeit zum Tätervolk kaum je verwinden kann, dem israelkritischen Juden, der aus Auschwitz nicht die Konsequenz eines militaristisch ideologisierten und gewaltdurchwirkten Israels gezogen hat, diese andere Art des Judeseins verzeihen.
Als im Jahre 1999 deutsche Kampfflugzeuge im Kosovo zum Einsatz kamen, schrieb Frank Schirrmacher von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:
„Dieser Krieg wird in Deutschland, anders als in anderen Ländern, fast ausschließlich mit Auschwitz begründet. Und vielleicht stimmt es ja, und die deutschen Tornados im Himmel über Jugoslawien bombardieren in Wahrheit nicht die Serben, sondern die deutsche Wehrmacht von 1941.“
Was bombardieren in den Augen deutscher Israelanhänger israelische Kampfflugzeuge, wenn sie über palästinensische Ziele fliegen? Etwa auch die deutsche Wehrmacht? Gar Auschwitz? Das Perverse dieser Art der Projektion erweist sich nicht nur an der Widerlichkeit der späten Kompensation dessen, was historisch nicht stattgefunden hat, mithin an der instrumentellen Funktionalisierung der Nachfahren der Opfer für die neurotischen Bedürfnisse der Nachfahren der Täter, sondern auch daran, dass mit der legitimierten Täterwerdung „der Opfer“ sich mutatis mutandis eine Entlastung dessen vollzieht, was immer schon als die pathologische Grundlage der vorgeblichen deutschen Israelsolidarität angesehen werden darf.
Die gängige Variante dazu: der antizionistische Antisemitismus. Auch er speist sich ja aus der historischen Schuld und der psychischen Bemühung um ihren projektiven Abbau. Was allerdings beim Antisemiten in diesem Kontext in Aggression gegen den Juden umschlägt, wird beim Philosemiten auf den aggressiven Juden übertragen – einzig er vermag, den historisch schuldig gewordenen Deutschen kraft selbst aufgeladener Schuld zu entschulden: israelische Sicherheitspolitik als Heilung deutschbefindlicher Neuralgien.
Nun spielt sich aber Israels Sicherheitspolitik in einem bestimmten Kontext ab, nämlich dem einer seit Jahrzehnten betriebenen Okkupation und brutaler Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland und im Gazastreifen. Will man den geschichtlichen Kontext weiter stecken, so kann man auf 1948 zurückgehen, dem Jahr der israelischen Staatsgründung, zugleich aber auch dem der „Nakba“, der großen Katastrophe des palästinensischen Volkes; man mag letztlich auch aufs Ende des 19. Jahrhunderts zurückgreifen, der Entstehungszeit des politischen Zionismus als der nationalen Befreiungsbewegung des jüdischen Volkes, die aber zugleich eine massive Kolonisierungsbewegung in Gang setzte, die das Territorium Palästinas eben nicht, wie es die zionistische Ideologie von Anbeginn weismachen wollte, als „Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ besiedelte, sondern auf ganz bewusste Landnahme eines bereits bevölkerten Territoriums aus war.
Man beurteile den Nahostkonflikt, wie man möchte – an dem von Juden am palästinensischen Volk begangenen historischen Unrecht kommt man schlechterdings nicht vorbei. Und bringt man in Anschlag, dass die zionistische Staatsgründung (oder doch zumindest ihre forcierte Beschleunigung) sich in erheblichem Maß der von Deutschen am jüdischen Volk verbrochenen Vernichtungskatastrophe „verdankte“, so muss auch die Rezeption des Nahostkonflikts durch Deutsche von der schweren Last der deutsch-jüdischen Vergangenheit affiziert werden.
Mehrere Ausrichtungsmuster sind dabei möglich: Manche werden sich von dem Umstand, dass die Palästinenser zu historischen „Opfern der Opfer“ geworden sind, „entlastet“ fühlen und in eine sachlich disproportionale, womöglich durchaus auch antisemitisch durchwirkte Israel- beziehungsweise Zionismuskritik verfallen; andere werden sich in ihrer Israelkritik mit der Begründung zurückhalten, keinem Deutschen stünde es an, einen Juden, mithin Israel als Judenstaat je zu kritisieren; wieder andere werden sich aber in eine umso euphorischere, ihrem Wesen nach fetischistische Solidarität mit „Israel“ hineinstürzen, nicht zuletzt, um somit die letzte Konsequenz aus der verbrecherischen Geschichte ihres Landes gezogen zu haben.
Die hier idealtypisch aufgelisteten Muster weisen allesamt einen projektiven Charakter auf, bei dem Deutschbefindliches, „Juden“ und „Israel“ nur indirekt Angehendes, ausgetragen wird. Heißt das nun, dass Deutsche in der gegenwärtigen Geschichtsphase im Wesentlichen unfähig seien, einen sachgerechten Zugang zu Israel und zu Juden (was im Übrigen mitnichten dasselbe ist) zu entwickeln? Sind sie dazu verurteilt, alles Jüdische von Grund auf neuralgisch zu rezipieren?
Geht man bis auf die tiefenpsychische Matrix der Belastung durch die deutsch-jüdische Geschichte zurück, muss man diese Frage zum gegenwärtigen Zeitpunkt in gewisser Hinsicht bejahen. Beredten Ausdruck verlieh diesem Grundgefühl Karl-Heinz Hansen, Bundestagsmitglied zwischen 1969 und 1983, dem während der „Walser-Debatte“ von 1998/99 in einem Leserbrief an die Süddeutsche Zeitung der Kragen platzte:
„Wenigstens solange noch ein einziges Opfer des deutschen Verbrecherstaates unter uns lebt, sollten Leute wie Walser und Dohnanyi diese nicht beleidigen dürfen und uns nicht mehr mit ihren persönlichen Wehwehchen belästigen. Sie sollten schlicht und einfach die Klappe halten.“
Der in diesen Worten mit Emphase beklagten Instrumentalisierung des Schuldimpulses auf deutscher Seite ist freilich eine nicht minder instrumentalisierten Heteronomisierung des Schuldzusammenhangs auf israelischer Seite eng verschwistert. Nicht von ungefähr sind es unter allen Kollektiven gerade Deutsche und Israelis, die unermüdlich auf „Normalität“ und „Normalisierung“ des eigenen Kollektivs pochen. Nichts vermag das Anormale ihrer pathologischen Grundbeziehung besser zu manifestieren als gerade diese (ideologische) Normalitätssehnsucht.
Nun lässt es sich aber so nicht gut leben. Das gängige Verhältnis des jüdischen Israeli zu Deutschland mag dabei im hier debattierten Zusammenhang unerörtert bleiben. Was bedeutet demgegenüber obiges Verdikt für Deutsche? Sie können ja nicht außerhalb jeglicher Beziehung zu Israel (und Juden) stehen. Die objektive Wirklichkeit des stets entflammbaren Nahen Ostens und der in seinem Kontext besonders gravierenden Besatzungsrealität in Palästina fordert ihnen unweigerlich eine wie immer schwach bewusste und nur partiell bestimmte Positionierung ab. Von selbst versteht sich dabei, dass alles, was den Geruch von Antisemitismus aufkommen lässt, geschweige denn manifester Antisemitismus, kritisch angegangen und rigoros bekämpft werden muss.
Nicht minder kritisch ist freilich die Fetischisierung der Antisemitismusbekämpfung anzuvisieren, die sich in ihrer pseudoemanzipativen, paranoiden Geste immer mehr als kontraproduktiv für das vorgegebene eigene Anliegen erweist. Die Erzählung vom kleinen Kind, welches das eine um das andere Mal „Wolf! Wolf!“ schrie, ohne dass von diesem direkte Gefahr drohte, dem aber dann auch niemand mehr glaubte, als es das erste Mal vor einem wirklichen Wolf zu warnen trachtete, mag da in den Sinn kommen. Was es zu bekämpfen gilt, muss eine Realität haben; die Protagonisten des Antisemitismus-Diskurses müssen sich aber vor allem darum bemühen, diesen Diskurs auf die ihn zunehmend durchwirkenden Elemente befindlichkeitsgeprägter Projektion und damit aufs Engste verschwisterter Abstraktion des „Juden“ reflexiv zu durchforsten.
Und es ist nun in diesem selbst reflektierten Zusammenhang, dass sich die Frage der adäquaten Israelkritik, beziehungsweise der unhinterfragten Israelsolidarität in ihrer umfassenden Komplexität und tendenziellen Ideologielastigkeit stellt. Denn gerade, weil Israel aus einem ganz bestimmten geschichtlichen Kontext entstanden ist, der die Realität eines ideologisch Zusammengeschweißten zwangsläufig zeitigen, mithin die fundamentalen Widersprüche und zentralen Konfliktachsen dieser historisch determinierten Gewachsenheit durch eine fortwährend perpetuierte Einheitsideologie überbrücken musste, stellt sich nicht nur für den Außenstehenden, aber gewiss auch für ihn, die Frage, mit welchem Israel er sich solidarisiere, wenn er einer am wirklichen Leben vorbeiziehenden Abstraktion nicht auf den Leim gehen möchte.
Meint er das säkulare (liberale oder sozialistische) Israel oder das religiöse (halachisch-orthodoxe beziehungsweise nationalreligiöse)?
Das Israel einer aschkenasischen Hegemonie oder das eines in den letzten Jahrzehnten von orientalischen Juden in ganz andere Bahnen des Selbstverständnisses getriebene?
Das „jüdische“ Israel einer seit über siebzig Jahren systematisch betriebenen Diskriminierung und perpetuierten Unterprivilegierung eines Fünftels seiner Bevölkerung, der in Israel noch vor der Staatsgründung lebenden arabisch-palästinensischen Minderheit?
Das Israel einer von Privatisierung und beschleunigt forciertem Sozialabbau gebeutelten Gesellschaft, die sich inzwischen durch eine sich immer bedrohlicher vertiefende sozial-ökonomische Kluft kennzeichnet?
Das Israel der ultrarechten Siedlerbewegung, in der eine expansive Großisrael-Ideologie, ein religiös-fundamentalistischer Messianismus und eine politisch wie militärisch durchwachsene Gewaltbereitschaft zur nahezu autonomen Wirklichkeit eines Staates im Staat geronnen ist?
Das Israel der in den letzten Phasen ihres Untergangs begriffenen Kibbutz-Bewegung? Der gerade von der Arbeitspartei zerschmetterten Gewerkschaften? Des durch die deteriorierte ökonomische Lage ins Wanken geratenen Gesundheits- und Erziehungswesen?
Das durch die in den Neunzigerjahren vom Staat organisierte Masseneinwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion demografisch und kulturell solchermaßen transformierte Israel, dass es mit dem idealisierten „alten Israel“ so gut wie keine Gemeinsamkeit mehr aufweist? Vom Umgang mit den Hunderttausenden Gastarbeitern aus verschiedenen Ländern der Zweiten und Dritten Welt, die ein oft entrechtetes Sklavendasein im ehemals sich sozialistisch gerierenden Israel fristen, soll hier geschwiegen werden.
Immer länger ließe sich die Ausstaffierung der Liste eklatanter Widersprüche und innerer Ungereimtheiten der israelischen Gesellschaft fortsetzen, die aber letztlich allesamt auf eines hinauslaufen: Wer sich abstrakt mit „Israel“ solidarisiert, segnet mutatis mutandis alle diese Widersprüche ab, trägt mithin dazu bei, dass die von diesen strukturellen Antinomien und latenten Konfliktherden innerisraelisch ausgehende Bedrohung der israelischen Gesellschaft erst gar nicht angegangen werden kann – und zwar nicht nur, weil er mit einem pauschalisierenden „Israel“-Begriff alles Heterogene über einen (simplifizierenden) Kamm schert, sondern auch, weil damit der für die schmerzhafte, zugleich aber auch notwendige Auseinandersetzung mit der Zerrissenheit der israelischen Gesellschaft unabdingbare Frieden mit den Nachbarn, vor allem mit den Palästinensern quasi ins Abseits gestellt, gleichsam entsorgt wird.
Wer das Wohl Israels will, kann sich schlechterdings nicht mit einem zur puren Projektionsfläche eigener Befindlichkeiten geronnenen „Israel“ solidarisieren. Wer aber trotz alledem noch immer darauf beharrt, Israelsolidarität wegen von außen drohenden Gefahren bekunden, mithin durch nämliche Solidarität „Juden“ vor Antisemitismus schützen zu sollen, muss sich schon fragen lassen, ob er Israel beziehungsweise Juden meine oder ob ihm „Israel“ und „Juden“ nicht letztlich doch zu dem verkommen sind, was das antisemitische Ressentiment und den israelfeindlichen Impuls mit nicht minderer ideologischer Verve zu bedienen vermöchte.