In den 90er Jahren erhielt Gabriele Freytag die Diagnose Gebärmutterhalskrebs. Sie beschloss, auf die konventionelle Behandlung ganz zu verzichten und im Einklang mit ihrem Beruf ihre Heilung ganzheitlich und möglichst nicht invasiv anzugehen. Gegen den Rat der Ärzte, die sie aufsuchte. Leichtsinnig sei sie, verantwortungslos, sich der Gefahr nicht bewusst. Nach langem Suchen fand sie schließlich eine homöopathisch ausgebildete Ärztin, die sie begleitete. Denn alleine wollte sie diesen Weg nicht gehen.
Psychotherapie wird bei Krebs gelegentlich protokollbegleitend eingesetzt. Sie soll vor allem dabei helfen, die bitteren Pillen leichter zu verdauen und den Kopf über Wasser zu halten. Als alleiniger Heilansatz wird sie jedoch nicht in Anbetracht gezogen. Aus ihrer langjährigen Praxis heraus jedoch wusste Gabriele Freytag um die psychosomatischen Zusammenhänge.
Emotionales und seelisches Ungleichgewicht kann durchaus zu gravierenden körperlichen Störungen führen. Das erfährt jeder, dem eine Situation auf den Magen schlägt oder an die Nieren geht. Erlebtes kann, das wusste Gabriele Freytag, wenn es alleine durchlitten und nicht zum Ausdruck gebracht wird, auch schwere Pathologien auslösen.
Gesundheit ist Gleichgewicht
Wenn uns psychische Störungen auch körperlich krank machen können, dann können wir durch ein wiederhergestelltes emotionales und seelisches Gleichgewicht wieder gesund werden. Gabriele Freytag vertraute ihrem Körper und begleitete ihre Krankheit auf friedliche Weise. Ayurveda, Yoga, Meditation, Trancen, japanisches Heilströmen, grüne Säfte, gute Bücher, lange Spaziergänge, der Kontakt mit der Natur, und immer wieder Reisen in ihr Inneres und das Gespräch mit den außer Rand und Band geratenen Zellen.
Ihre ragazzi nannte die zwischen Hamburg und Italien lebende Autorin ihre Krebszellen. Kecke Burschen, nicht wirklich bösartig, aber verwegen die Schiebermütze im Gesicht. Sehr kommunikationsbereit waren sie, und zeigten ihr bereitwillig, wo sie zu suchen hatte.
Es sind unsere inneren Wunden, diese unbetretenen Gebiete und wilden Orte in uns, an denen der Körper zum Ausdruck bringt, wo etwas Hilfe braucht und gepflegt werden möchte. Im Laufe der Zeit entwickelte Gabriele Freytag ihre ganz eigene Heilmethode, die sie heute die kreative Psychotherapie nennt. Es ist ein mutiger Weg. Nicht nur, weil er abseits des Mainstream verläuft, sondern vor allem, weil sie sich in die eigenen bisher unbeleuchteten Tiefen hineinwagt.
Leben in einer bewegten Welt
Heute, 20 Jahre später, ist Gabriele Freytag gesund. Ihre Erfahrungen hat sie in ihrem Buch Ein wilder Ort auf anschauliche und bewegende Weise beschrieben. Ich habe sie mehrmals getroffen, um mit ihr über ihr Erleben zu sprechen. Bei unserem Austausch geht es nicht nur um Krebs. Es geht auch um die Frage, wie wir in einer so bewegten Zeit wie der unsrigen leben und den Paradigmenwechsel begleiten können. Mich interessierte, was ihr in einer von Zerstörung, Gewalt und Verlust geprägten Welt Kraft gibt.
Hier ihre Antwort, exklusiv für den Rubikon:
Ich lebe ja zwei Mal auf dem Land. Einmal in der Nähe von Hamburg und dann im nördlichen Apennin von Italien. An meinem deutschen Wohnort spüre ich – obwohl in einem Naturschutzgebiet zu Hause – die Veränderung von der Landwirtschaft zur Agrarindustrie. Die Hecken, Feldränder und alten Schuppen verschwinden. Wildkräuter sind viel schwerer zu finden und der Teich vor meiner Haustür kämpft mit den Nitraten von den umliegenden Feldern. Trotzdem gibt es immer noch wunderschöne Strecken zum Spazierengehen, wo wir Reiher beobachten und Schwäne und Kormorane und Rehe und uns in die Wiesen sinken lassen.
In Italien habe ich das Glück, Haus und Grundstück zu besitzen in einer Gegend, um die sich niemand kümmert. Es baut niemand an, düngt, fährt Maschinen auf, zäunt ein oder macht Lärm und Licht.
Es ist, als ob die Wildnis vor meiner Haustür mir Vertrauen schenkt in das große Ausatmen, in dem alles sich regenerieren kann. Wenn es nur in Ruhe gelassen wird.
Als ich das letzte Mal oben an der Straße (der Ort ist autofrei) mein Auto für die Abreise packte, hörte ich die Wölfe heulen. Minutenlang. Das „ululare“, wie man im Italienischen sagt, kam mir vor wie ein vielstimmiges Konzert, gar nichts einsames, sondern ein miteinander Tönen.
Ein wilder Ort – so heißt ja auch mein Buch, das von Krebsheilung handelt. Und auch das macht mich stark und froh, dass es möglich war und ist, gegen allen Widerstand einen eigenen Weg zu gehen und zu heilen. Ich genieße es, aus dem ganz Privaten mehr in die Öffentlichkeit zu gehen, mit Radio, Buch, Webpräsenz. Ich bin ja eher ein schüchterner Mensch, auch wenn man das auf den ersten Blick nicht merkt, und so spät im Leben mich ins Offene zu wagen gibt mir eine Menge Aufschwung.
Andere Kraftquellen sind zum Beispiel meine Katze Angelo und das wunderbare Ensemble vom Hamburger Schauspielhaus mit Karin Beier als Intendantin. Ich habe mal gelesen, dass Menschen sich auf ganz unterschiedliche Weise regenerieren. Ich gehöre bestimmt zu denen, die sich am besten ganz alleine erholen. Trotzdem und gleichzeitig brauche ich die Gesellschaft anderer, gerne sensibler, mutiger und nachdenklicher Menschen, die mich inspirieren und trösten. Ohne das wär alles nichts.
Gabriele Freytag: Ein wilder Ort, Marta Press 2017