Als angehender Student der Politikwissenschaft, der sich täglich tiefgehend (tiefgehender als Headlines und Berichte über das Tagesgeschehen) mit der Politik auseinandersetzt, fühlt man sich dieser Tage wie ein eingefleischter Fußball-Fan zu WM-Zeiten. So wie zu Zeiten der Fanmeilen mit der einhergehenden Omnipräsenz des Fußballs, sind plötzlich sämtliche Menschen, die sonst bereits beim Anflug einer politischen Diskussion die Augen verdrehen, über Nacht zu politisierten Bürgern geworden, wie Fußballmuffel zu Fußballfans. Leute, die man vor Kurzem noch mit politischen Diskursen davonjagen konnte, wurden in den Wochen vor der Bundestagswahl nicht müde, jedem einzubleuen, man müsse unbedingt zur Wahl gehen, seine „demokratische Pflicht“ erfüllen und ein jeder, der das nicht tue, sei ein Feind der Demokratie und würde die Rechten damit unterstützen. Ein häufig verwendetes Zitat:
„Wählen gehen ist wie Zähneputzen. Wenn man es nicht macht, wird’s braun.“
Was beinahe niemand bedenkt: die Keime liegen bereits auf der Zahnbürste. Doch wie kommt es, dass ein Großteil der Bevölkerung, ob jung oder alt, der Illusion erliegt, alleine die Wahlen könnten „die Rechten“ stoppen? Neben vielen gleichgeschalteten Medien (Fernsehen, Zeitung, YouTuber) hat die historische Kurzsichtigkeit und das damit einhergehende Unvermögen, vergangene Ereignisse mit aktuellen zu vergleichen, einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet.
Wer von denen, die das „Wählen gehen“ in den Himmel loben, weiß denn noch, wie viel Prozent die AfD bei der Bundestagswahl 2013 eingefahren hat? Erinnert sich noch jemand an das überraschte Gemurmel in den Medien, als es diese zunächst doch recht harmlose Partei, deren Fokus in ihrem Geburtsjahr 2013 überwiegend auf der Abschaffung des Euros lag, beinahe von 0 auf 5 Prozent in den Bundestag geschafft hätte? Vermutlich nicht. Und vermutlich erinnert auch niemand von jenen Personen, dass – trotz des Wahlsieges der etablierten Parteien CDU/CSU mit der SPD – die AfD in der vergangenen Legislaturperiode einen Gewinn von 7,9 Prozent einfahren konnte (1).
Dieses Wählen hat ja sehr viel gebracht! Dabei haben wir doch alles richtig gemacht, oder? Abgesehen von der FDP, der wir uns Gott sei dank entledigen konnten, hatten wir zwischen 2013 und 2017 eine Stammbelegschaft altbekannter Parteien im Bundestag sitzen. Den Verfechtern der Plattitüde „Hauptsache (ahnungslos) wählen, um rechts zu verhindern“ nach, bräuchten wir nur erneut eine solche Konstellation und die Rechten würden einfach vor der Tür des Bundestags erfrieren. Doch so funktioniert das nicht.
Jeder, der noch nicht dem Orwell‘schen Doppeldenk verfallen ist und zwei und zwei zusammenzählen kann, ohne dass dabei 5 rauskommt, müsste doch erkennen, dass die AfD eine Reaktion auf die Politik der letzten vier Jahre und darüber hinaus ist. Wobei von einer Reaktion zu sprechen eine milde Untertreibung ist. Die AfD und die Politik der etablierten Parteien sind direkt miteinander verbunden!
Wählen sei wie Zähne putzen. Wenn man es nicht mache, würden die Zähne braun.
Aber die Zähne werden noch brauner, wenn auf der Zahnbürste, wie bereits erwähnt, die Keime liegen und die vermeintlich sozialdemokratischen Borsten eine neoliberale Politik in den Mundraum bringen, mit der sie das Zahnfleisch verletzen, anstatt es zu schützen. Der französische Soziologe Didier Eribon verkündete im Zuge der Präsidentschaftswahl in Frankreich: „Wer Macron wählt, wählte Le Pen“ und begründete diese für viele als provokant erscheinende Aussage damit, dass die Sozialdemokraten ihren Grundwerten den Rücken gekehrt und sich dem Diktat des Neoliberalismus unterworfen hätten – und das europaweit (2). Und wir sehen ganz klar, wie seit dem Thatcherismus die neoliberale Politik und der damit verbundene Sozialabbau in ganz Europa Einzug erhält und den Boden für rechtes Gedankengut düngt. Die Aussage Eribons lässt sich somit auch auf Deutschland anwenden:
Wer die Union oder SPD wählt, wählt die AfD.
Mal rein hypothetisch angenommen, man hätte es durch die Mobilisierung eines großen Teiles der 23,8 Prozent Nichtwähler geschafft, die AfD an ihrem Einzug in den Bundestag zu hindern oder ihren Prozentsatz stark zu dezimieren. Ein paar Stimmen wären an die alte GroKo gegangen, ein paar weitere an die Oppositionsparteien und ein noch größerer Anteil an die außerparlamentarischen Parteien wie die FDP (die durch eine bemerkenswerte Imagekampagne wieder aus der Versenkung erschienen sind) sowie an Die Partei, die Freien Wähler und die Tierschutzpartei, sodass diese gerade noch mit den Fingerspitzen die Kante der Fünf-Prozenthürde zu fassen bekommen hätten und mit Ach und Krach in den Bundestag eingezogen wären. Die SPD sähe sich nicht mehr gezwungen, in die Opposition zu gehen, um eine AfD als stärkste Oppositionspartei zu verhindern, und es wäre erneut zu einer GroKo und damit zu einem totalen „Weiter so“ für die nächsten vier Jahre gekommen.
Dies wäre der Akt gewesen, der das Katapult noch weiter zurückgedehnt hätte, um dann die AfD mit noch mehr Fahrtwind, mit noch mehr Rückhalt in der Bevölkerung und mit noch mehr Donner und Gebrüll 2021 in den Bundestag zu katapultieren.
Was also nun tun? Warten, bis wir wieder dazu aufgerufen werden, politisch zu werden? Bis wir uns wieder paradoxerweise ausgerechnet vom FACK JU GÖTHE-Cast anhören dürfen, wir seien „Vollidioten“, wenn wir unser Land nicht alle 1460 Tage mit zwei Kreuzen „mitgestalteten“ (3)?
Leider sind die meisten lediglich auf die Sensationen und die Skandale gepolt, wie es Rapper Samy Deluxe in einem Facebook-Livestream sehr gut beschrieben hat. Und da sind wir wieder bei der oben bereits erwähnten Kurzsicht. Wir würdigen den Vulkan nur dann eines Blickes, wenn dieser eruptiert. Ein Vulkanforscher beobachtet den Vulkan auch in seinen Ruhephasen und bemisst die Strömungen und Kräfte unter diesen Berg, auch wenn dieser dem Anschein nach schlummert. Er kennt die Anzeichen kurz vor dem Ausbruch. So gesehen war das Wahlergebnis für mich auch keine Überraschung oder ein dunkler Tag für Deutschland.
Die braunen Aschewolken der Bundestagswahl, als die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre schlicht in Zahlen ausgedrückt wurden, waren ganz einfach das Resultat dessen, was außerhalb von Berlin-Mitte und anderen Yuppie-Vierteln brodelte und sich zu einer braunen Suppe zusammenbraute. Es war doch zu beobachten, wie der Ton selbst in der gesellschaftlichen Mitte immer rauer und fremdenfeindliche Äußerungen salonfähig wurden. Bei Klassentreffen durfte ich mir von alten Klassenkameraden, von denen ich solche Äußerungen nie erwartet hätte, erklären lassen, dass alle Afrikaner sexwütige Bestien seien und all unsere Frauen vergewaltigen würden. Viele andere Menschen aus meinem Bekanntenkreis offenbarten das Ausmaß ihrer blauäugigen Hörigkeit gegenüber gutbürgerlich getarnten Parteien und entpuppten sich als die Menschen, die der Obrigkeit willig aus der Hand fressen, wenn sie von dieser nur gut genug auf Linie gebracht werden.
Die Hysterie vor, während und nach der Bundestagswahl rührt daher, dass diejenigen, die bisher immer nur bis zum Knöchel im politischen Wasser standen, plötzlich in dessen eiskalte Abgründe geworfen wurden und infolgedessen einen Schock erlitten. Jemanden hingegen, der sich jeden Tag in diesem Wasser aufhält, der akklimatisiert ist, haut eine solche Meldung nicht vom Hocker. Wer sich täglich mit den unmenschlichen, faschistischen Umtrieben des Neoliberalismus, des Finanzkapitalismus und der ungezügelten Märkte befasst, sieht in solch einem Wahlausgang lediglich eine logische Abfolge.
Was uns fehlt, ist eine stetige Beziehung zur Politik. Aktuell führen wir eine Art Fernbeziehung zur Demokratie, sofern man von dem demokratischen Rinnsal eines ehemals breiteren und gesünderen Meinungsflusses überhaupt noch als Demokratie sprechen mag. In etwa schreiben wir alle vier Jahre unserem politischen Partner eine SMS: „Hallo Schatz, wie geht’s dir?“, ohne dass wir uns tatsächlich eine Antwort erhoffen oder diese uns wirklich interessiert.
Alle vier Jahre ins Wahllokal. Zwei Kreuze setzen. Zack. Fertig. Demokratie gerettet.
So wird das nichts. Um auf die Frage zurückzukommen, was denn nun zu tun ist: Die Hysterie in Konstruktives umwandeln. Und das ist meist nicht so spektakulär, wie lauthals zu schreien, wie blöd die AfD doch sei und wie schuld alle Nichtwähler an dem Ganzen sind, aber allemal spektakulärer als seinen Profilbildrahmen zu ändern, damit auch jeder die eigene politische Gesinnung erfährt.
Nein, „konstruktiv“ bedeutet zu erkennen, dass man jeden Tag die Wahl hat, politisch zu leben oder nicht. Leider versäumen wir dies über weite Teile der Legislaturperioden, und da nehme ich mich selber gar nicht aus. Viel zu oft habe ich mich von der zum Passivismus verleitenden Schlummertaste meines eigentlich ja zum Aktivismus rufenden Weckers verführen lassen. Dabei fängt Aktivismus schon im Kleinen an. Jeder Geldschein ist im Grunde genommen ein Wahlzettel. Ich kann jeden Tag wählen. Ich muss mir jeden Tag Gedanken machen, ob und wie ethisch ich handle. Das fängt beim Konsum an und endet bei selbstgemachter Außenpolitik und Völkerverständigung von unten (4).
„Wählen gehen ist wie Zähne putzen. Wenn man es nicht macht, wird’s braun.“
Was meine Krankenkasse und mein Zahnarzt wohl dazu sagen würden, wenn ich meine Zähne nur alle vier Jahre putzte?
Quellen:
(1) https://bundestagswahl-2017.com/ergebnis/
(2) http://www.sueddeutsche.de/politik/praesidentschaftswahl-in-frankreich-didier-eribon-wer-macron-waehlt-waehlt-le-pen-1.3470851
(3) https://www.youtube.com/watch?v=ecwzhYrAwOw
(4) https://druschba.info/