Durchbruch zur Freiheit
Respektieren wir das Votum der Bevölkerungsmehrheit, wie wir auch selbst respektiert werden wollen, doch bewahren uns unsere Unabhängigkeit!
Der Ausgang der Bundestagswahl hat die politische Ohnmacht der Impfkritiker offengelegt. In schwieriger Lage sollten wir uns aber nicht auch noch selbst das Leben schwer machen, indem wir dauernd über die „angepassten“ Mitbürger klagen und uns ärgern, weil sie nicht zu verstehen scheinen, was sie unserer Meinung nach verstehen müssten. Die Menschen, auf die wir am ehesten Einfluss haben, das sind wir selbst, und da gibt es genug zu tun. Das bedeutet nicht, dass wir politisch resignieren müssen. Nur: Akzeptieren wir Andersdenkende erst mal so wie sie sind! Genau das bedeutet Freiheit: dass wir unser Denken und Fühlen nicht zu stark von den Entscheidungen anderer bestimmen lassen. Jetzt geht es darum, in der Mehrheitsgesellschaft für Unterstützung zu werben — dafür müssen wir uns selbst von Zwängen und Ängsten frei machen.
Das Recht auf Gedankenfreiheit ist nur so lange von Bedeutung, wie es eigene Gedanken gibt. Erich Fromm hat dies vor 80 Jahren, mitten im Zweiten Weltkrieg, geschrieben. Sein Buch „Die Furcht vor der Freiheit“ war damals gar nicht so sehr vom Faschismus geprägt, als vielmehr von der Erfahrung des modernen Kapitalismus (1).
Dieser hat den einzelnen viele Freiheiten beschert und sie gleichzeitig in eine neue Ohnmacht versetzt und verleitet, nicht die Individualität zu wählen, sondern das zu tun, was die neuen, heimlichen Normen vorgeben: sich zu kleiden, wie es die Mode verlangt, sich zu geben und zu zeigen, wie man gesehen werden soll, und öffentlich nur das zu äußern, was angesagt ist — am Ende sogar, nur das zu fühlen, was gesellschaftlich als angemessen gilt. Die gewaltige Maschine von Markt und Marketing schafft es — so die Sorge des Sozialpsychologen — Bedürfnisse und Normen zu vermischen und die Unterschiede so zu verwischen, dass der Mensch überhaupt nicht mehr weiß, was sein Eigenes ist.
Bereits zehn Jahre zuvor hatte Aldous Huxley, vormals Anhänger des Sozialismus, diesen psychosozialen Mechanismus in romanhafter Form beschrieben. In „Brave New World“ schildert er, wie die normierten Menschen verschiedenster Kategorien immer das Hohelied der Gemeinschaft auf den Lippen haben und ihre eigenen Bedürfnisse gar nicht mehr kennen, nicht weil der wissende Staat Bedürfnisse unterdrückt, sondern so wunderbar „befreit“ und mit Normen kombiniert hat, dass Glück ganz einfach definiert ist: zu machen, was alle machen.
Der oder die Einzelne kennt seine Bedürfnisse nicht und lässt sich daher einfach lenken. Wer auch nur das vage Gefühl hat — Gefühle verraten schließlich, wie es um unsere Bedürfnisse steht —, da stimmt doch etwas nicht, da muss noch mehr sein, der einen Hauch von Individualität erahnt, der wird schnell in die Schäm-Dich-Ecke gestellt, gemobbt und mit Glückspillen medikalisiert: Nimm doch ein, zwei „Soma“, dann gehörst du wieder dazu.
Angesichts der Liberalisierung der Gesellschaft nach 1968 und angesichts vieler Formen und Facetten einer selbstkritischen Reflexion dieses Prozesses und einer anscheinend bis heute weiter gehenden kulturellen Liberalisierung erschienen die Sorgen und Dystopien von Fromm und Huxley vielleicht überzogen. Die von ihnen beschriebenen Mechanismen der Anpassung sind jedoch zweifellos mehr als Fiktion. Allerdings verlassen sich die Herrschenden im Bedarfsfalle — und das hat 2020/21 viele Liberale und solche, die sich dafür hielten, überrascht und kalt erwischt — nicht auf derart subtile Mechanismen allein, sondern sie greifen beherzt zu den Folterwerkzeugen des Obrigkeitsstaates. Die Impfkampagne als Maßnahme zum „Gemeinschaftsschutz“ ist dabei eine Offenbarung eigener Art.
Ob gut gemeint oder nicht: Unsinn bleibt Unsinn
Wenn man beispielsweise die grüne Kultusministerin von Baden-Württemberg darüber reden hört, dass Studentinnen und Studenten demnächst die Tests selbst zahlen „können“, weil ja jeder ein „kostenloses“ Impfangebot erhalten habe, das klingt nicht nach Marketing, sondern nach schwarzer Pädagogik in der Logik: „Und bist Du nicht willig …“ Tatsächlich wird gern hinzugefügt, man habe es nun lange genug „im Guten“ versucht, die Impfunwilligen zu überzeugen.
Nicht viel anders äußert sich ihre sozialdemokratische Amtskollegin in Bremen, die „endlich“ eine berufsspezifische Impfpflicht fordert, zum Beispiel für Lehrer- und Erzieherinnen. In der taz plädiert eine Autorin derweil offen für „Peitsche statt Zuckerbrot“ (2). Soviel zu rotgrünem Liberalismus. Heutzutage nennen das manche „Handlungskompetenz zeigen“. Am Rande sei angemerkt, dass es das andere politische Lager auch gut drauf hat, derartige Handlungskompetenz zu zeigen, der bayrische Ministerpräsident hatte es unübertroffen vorgemacht!
Fehlt noch die FDP: Sofern überhaupt einmal vor der Bundestagswahl ihre Kandidaten nach einer Meinung zum Pandemie-Management und der Impfkampagne gefragt wurden, durften sie unhinterfragt schwammige Allgemeinplätze von sich geben, zum Beispiel ein Impfzwang sei juristisch nicht wasserfest realisierbar — was etwas ganz anderes ist, als wirklich dagegen zu sein und für liberale Werte einzutreten. Genau genommen ist das Mitläufertum. Ganz wie in der Pandemie: Erst einmal schauen viele, wie der Wind steht. Und dieser Wind treibt immer noch die große Mehrheit in Richtung des angeblichen „Gemeinschaftsschutzes“
Das Verbiegen der medizinischen Fakten zugunsten einer solchen Impfkampagne ist Missbrauch politischer Macht und Missbrauch von Wissenschaft — unglaublich, dass das Robert Koch-Institut (RKI) immer noch als „Leitforschungseinrichtung“ bezeichnet wird, „Propagandamaschine“ wäre treffender. Es geht dabei nicht um Pannen, wie jetzt wieder beschönigend geschrieben wird, sondern um Betrug. Der Zweck heiligt die Mittel? Dabei handelt es sich beim Zweck „Durchimpfung“ um nichts weniger als um Anstiftung zu körperlichem und seelischem Missbrauch.
Mir geht es bei diesem Begriff weder um einen wie auch immer passenden Vergleich, noch um Provokation. Sowohl sozialpsychologisch als auch individualtherapeutisch gibt es nur einen angemessenen Begriff für die Verletzung körperlicher Integrität und Selbstbestimmung: Missbrauch, und dafür muss ich nicht einmal auf die drohende Impfung von Kindern hinweisen. Aber vielleicht werden diese, also spätere Generationen, klarer sehen, vielleicht gerade die Generation der Kinder, die demnächst vollkommen sinnfrei geimpft werden sollen. Und vielleicht kommt dann von jenen, die als Ältere „dabei waren“, das übliche Gegenargument: Man habe es damals, also heute (!) nicht besser wissen können. Oder es sei doch zu höherem Zweck geschehen. Beides ist falsch.
Die Story vom höheren Zweck war schon falsch, als noch „im Guten“ — oder was Politiker und Journalisten dafürhielten — mit uns gesprochen wurde. Sie wird nicht richtiger dadurch, dass die große Mehrheit daran glauben gemacht wurde. Seitdem die WHO Herdenimmunität ausschließlich von der Impfung abhängig gemacht hat, haben sich etliche Virologen und Epidemiologen kritisch dazu gemeldet, unter anderem Hendrick Streeck wiederholt und explizit in punkto Corona (3). Abgesehen davon, waren Impfpropagandisten schon immer viel zu großzügig darin, sich die Herdenimmunität schön zu gucken (4). Ab irgendeinem Punkt wird solches Wunschdenken pathologisch und gemeingefährlich.
Geimpfte können sich ebenfalls mit Corona anstecken und sie können auch andere anstecken. Die sogenannten „Impfdurchbrüche“ sind keine Seltenheit, um das zu sehen, kann man zum Beispiel mal Lokalzeitungen statt der großen Leitmedien durchblättern, die sich mit ihrem Qualitätsjournalismus auf das RKI verlassen. Wenn also Corona nach wir vor so gefährlich sein sollte wie zu Beginn der Pandemie, müsste Testpflicht für alle gelten, egal ob geimpft oder nicht. Schon 3G ist erpresserisch und irreführend.
Doch wenn zu den Unannehmlichkeiten des Tests — vom zeitlichen und bürokratischen Aufwand über manche zweifellos übergriffige Handlung der Tester — für Ungeimpfte auch noch kommt, dass der Test auf eigene Rechnung geht, dann gehört die Maßnahme in den „Impfzwang-Katalog“ wie die selektive Abschaffung der Lohnfortzahlung für Ungeimpfte, die 2G-Regel für öffentliche Veranstaltungen oder ein drohender Verlust des Kündigungsschutzes in einigen Branchen. Und bist Du nicht willig …
Politiker und Journalisten, die sonst in Debatten um seelischen und körperlichen Missbrauch sehr sensibel, wachsam und engagiert auftreten, und solche, die bei Fragen der Selbstbestimmung in Bezug auf Gesundheit und den eigenen Körper, von Rauchen über Schwangerschaftsabbruch, Prostitution und Geschlechtsidentität bis zum selbstbestimmten Lebensende, kritische und dezidierte Meinungen vertreten und sensible Texte verfassen, haben offenbar mit dem Impfzwang überwiegend überhaupt kein Problem.
Wie Manipulation funktioniert: Zum Betrug kommt der Selbstbetrug
Mindestens vergleichbar deprimierend finde ich, dass viele gutgläubige Kollegen, private Auftraggeber oder Freunde uns Ungeimpften die ganzen Halbwahrheiten und „Argumente“ an den Kopf werfen, warum wir uns impfen lassen müssten, bis hin zur Unterstellung, man sei als Ungeimpfter ein Trittbrettfahrer oder gar Sozialschmarotzer. Ganz offensichtlich funktioniert die permanente Manipulation. Da muss ich oft an die Gedankenfreiheit bei Fromm und Huxley denken, wenngleich ich mir bewusst bin, dass ich mich damit gewissermaßen über das Gegenüber erhebe.
Der Psychiater Stefan Weinmann hat für sein Fachgebiet gezeigt, wie Täuschung und Manipulation zwingend mit Selbsttäuschung einhergehen, sodass die Manipulatoren selbst restlos von ihrer Botschaft überzeugt sind (5). Als medizinische Disziplin hat die Psychiatrie viele Veröffentlichungen, aber wenig praxisrelevante Evidenz zu bieten, mit einer Geschichte tausendfach wiederholten unfassbaren Missbrauchs an Körper und Seele, eine letztlich pseudomedizinische, weil eben nicht naturwissenschaftliche Disziplin, in der die laufende Bestätigung halbwahrer oder gar falscher biomedizinscher Hypothesen gelegentlich noch mit Nobelpreisen belohnt wurde.
Die Zwangsjacke für Menschen mit abweichendem und störendem Verhalten ist ein Sinnbild der Psychiatrie — und die Zwangsimpfung, bildlich vorgestellt, ein Symbol des demokratisch abgesegneten staatlich angeleiteten Missbrauchs.
Sicher werden auch weiterhin den Impfstoffherstellern und ihren Forschern beeindruckende Ehrungen verliehen. Doch egal wie neuartig und nobelpreisverdächtig die Impfstoffe selbst sein mögen, und mag die Impfkampagne auch noch so sehr in die Zukunft weisen, weil sie nicht die letzte bleiben wird, das gesamte Konzept passt nicht zu einer demokratischen und liberalen Gesellschaft. Es beruht auf Betrug und Selbstbetrug, oder nennen wir es etwas diplomatischer: auf pseudowissenschaftlicher Verblendung.
Der Arzt, Forscher und Pharmakritiker Peter C. Gøtzsche hat immer wieder leidvoll erfahren müssen, wie zum Betrug im großen Stil, fast immer der Selbstbetrug gehört (6). Beispielsweise glauben Pharmavertreter die Märchen, die ihnen das Marketing eingetrichtert hat, selbst dann noch, wenn sie längst für ein ganz anderes Produkt oder eine andere Firma arbeiten. Die Psychologie nennt dies: Vermeiden von „kognitiver Dissonanz“.
Allerdings hilft uns ein derart psychologisches Verständnis jener, die sich teils mit besten Absichten in der Impfkampagne engagieren, wenig — und wahrscheinlich würde eine entsprechende Argumentation sogar kontraproduktiv wirken, weil das Gegenüber sich nicht ernst genommen fühlt. Effektiver erscheint mir, wenn man denen „da oben“, die es ja besser wissen, offensiv Lüge vorwirft: Für ihre Unterdrückungs- und Missbrauchskampagne unter dem Motto „Gemeinschaftsschutz“ braucht es, wie der geimpfte Journalist Norbert Häring in seinem Aufruf für Solidarität mit Ungeimpften Anfang September klargestellt hat, ständige Heuchelei und Lügen (7).
Wir brauchen jetzt viele Norbert Härings. Denn sein Aufruf erschien vor der Bundestagswahl. Deren Ausgang aber bedeutet für Kritiker der Corona-Maßnahmen und Verfechter der Impffreiheit eine drastische Zäsur, da die Betroffenheit von Maßnahmen und Zwängen offenbar an der Wahlurne keinen Ausschlag gegeben hat. Bekennende Ungeimpfte waren und sind in Sachen Bundestag „außen vor“.
Nach der Wahl geht es um Überzeugungsarbeit für Minderheitenschutz
Es wäre verfehlt, allein den Mainstream-Medien wegen der weitgehenden Tabuisierung des Themas Corona im Wahlkampf die Schuld am enttäuschenden Wahlausgang zu geben. Vom mündigen Bürger, zumal vom corona-kritischen, würden wir erwarten, dass er oder sie sich aus anderen Quellen informiert und eine Meinung gebildet hat. Das Wahlergebnis lässt sich nicht anders deuten als so, dass es der großen Mehrheit, sogar einem Großteil jener Menschen, die corona- und impfkritisch sind, nicht wichtig genug war, entsprechend abzustimmen — oder sie fanden die corona-kritischen Wahlalternativen ungeeignet bis abschreckend.
Selbst wenn man den kompletten Stimmenzuwachs der Freien Wähler sowie die knapp 1,5 Prozent für die Partei dieBasis addieren könnte, kämen nur etwa 3 Prozent zusammen. Dazu vielleicht noch eine unbestimmte Anzahl von corona-kritischen Wählern, die das Kreuz meines Erachtens ungerechtfertigt bei der FDP gemacht haben. Für 5 Prozent reicht es jedenfalls nicht.
Sicher kann man, sogar mit Pathos, argumentieren, es gibt noch andere lebens- oder gar überlebenswichtige Themen für die Stimmentscheidung bei einer Bundestagswahl. Gewiss, doch das ändert nichts daran, dass der Kampf für Freiheiten, die in der Corona-Zeit massiv eingeschränkt wurden, auf neue Grundlagen gestellt werden muss.
Nach dieser demokratischen Entscheidung können wir uns nicht länger an die Fiktion klammern, es gäbe ein beträchtliches Potenzial oder gar eine heimliche Mehrheit gegen die Maßnahmen oder als wäre eine beachtliche Masse an Menschen gegen Impfzwang.
Es war ein Kardinalfehler der radikalen linken Splitterparteien nach 1968: Immer wieder und weiter zu behaupten, man vertrete wesentlich mehr als die, die sich offen bekannten. Vielleicht wäre es heute sinnvoller, eine gegenteilige Strategie zu verfolgen und uns die liberale Grundweisheit eines John Stuart Mill (1806 bis 1873) zu eigen machen: Der oder die Einzelne benötigt für die Legitimation seiner individuellen Freiheitsrechte keinerlei Berufung auf eine Masse oder Mehrheit, selbst wenn er sogar der oder die einzige auf der Welt mit dieser Meinung wäre. Mill hätte vermutlich, schwankend zwischen humanistischem Anspruch und skeptischem Menschenbild, hinzugefügt: Menschen mit einer radikal liberalen Haltung sind sowieso immer in der Minderheit.
Wie können wir, in gewisser Weise ohnmächtig und etwas kleinlaut geworden, aber nicht mundtot, dafür kämpfen, dass Minderheitenschutz ernster genommen wird? Es muss nicht zwingend „Betteln gehen“ bedeuten, sondern könnte durchaus juristische Aktivitäten beinhalten, wie sie die „Ärzte für individuelle Impfentscheidung“ vorschlagen, die Individualprozesse bis zum Bundesverfassungsgericht unterstützen wollen. Ihr Motto: „Es reicht!“ Die Organisation macht weiterhin auch mit der Kampagne #2Ggehtgarnicht auf das Anliegen aufmerksam (8).
Die gegenwärtige Entwicklung ist beängstigend und bedrohlich. Es nützt jedoch nichts, umso lauter und wütender „Für die Freiheit!“ zu rufen oder den Weltuntergang anzukündigen. Da die Mehrheit das Problem gar nicht hinreichend erkennt oder es als Randproblem begreift, kann sie nicht verstehen, welche Welt da unterzugehen droht. Wir müssen die Aufgeschlossenen in der Mehrheitsgesellschaft zu überzeugen versuchen, dass eine liberale Gesellschaft Minderheiten nicht mit „Zuckerbrot und Peitsche“ aufzureiben versucht, sondern ihnen Respekt ihres Erlebens und Schutz ihrer Lebensform gewährt, sofern dies nicht dem Wohl der Gesellschaft fundamental entgegensteht. Mein Impfstatus „ungeimpft“ steht dem Wohl der Gesellschaft keinesfalls entgegen! Dafür gibt es mehr wissenschaftliche Evidenz als für die Durchimpfkampagne.
Es geht darum, Menschen — und darunter auch mehr oder weniger einflussreiche — in der Mehrheitsgesellschaft für unseren Standpunkt zu gewinnen. Was können wir dafür tun, dass sich die Norbert Härings dieser Republik mit Solidaritätsaufrufen und kritischen Beiträgen zu Wort melden und auch Gehör finden?
Ein anderer Umgang mit Scham oder was wir von 1968 lernen können
So nützlich und notwendig es ist, sich zusammenzuschließen, so wichtig ist der realistische Blick auf die verbindende Gemeinsamkeit: Ein Zusammenschluss allein auf dieser Basis erscheint politisch nicht länger Erfolg versprechend. Denn es handelt sich tatsächlich um nur ein Thema unter mehreren oder sogar vielen. Es braucht derzeit eher individuellen Mut, der verlogenen Kampagne weiterhin oder erst recht entschieden entgegenzutreten. Daher könnte es lohnenswert sein, die erwünschte „Befreiung“ zunächst einmal vom psychologischen Standpunkt der „Selbstbefreiung“ zu betrachten.
Die Angst vor der Scham ist im Herrschaftssystem jeder Gesellschaft ein wesentliches Mittel, Menschen zur Anpassung zu erziehen und in Anpassung zu halten.
Daran ist noch nichts per se Verwerfliches, denn ganz ohne Scham und Anpassung wäre ein gesellschaftlicher Zusammenhalt nicht möglich (9). Ab wann ihre Handhabung individuell toxisch (10) und gesellschaftlich manipulativ wird, wie bei Huxley beschrieben, ließ sich früher bei der Kirche schlecht auseinanderhalten und lässt sich gegenwärtig auch bei der Impfkampagne nicht einfach trennen. Jene, die uns in die Schäm-Dich-Ecke stellen oder selbst jene, die uns am liebsten gleich in Handschellen impfen lassen wollten, handeln zum Teil in gutem Glauben an das höhere Wohl — auch wenn ich schon einwenden möchte, dass alle aufgeklärten Menschen es besser wissen können, als es die Gemeinschaftsschutz-Kampagne propagiert.
Die sexuelle Befreiung von 1968 wirkte wie eine Revolution, weil sie bildlich-symbolhaft die Angst überwand, nackt zu sein und so gesehen und bewertet zu werden: Da wurden schonmal öffentlichkeitswirksam alle Hüllen fallen gelassen. Damit war zwar die Scham noch nicht vorbei, wie manche damals hofften, glücklicherweise, denn wir brauchen sie wie die Verantwortung der einzelnen im Umgang mit ihrer Freiheit. Doch der demonstrative „Sündenfall“ der 1968er zeigte, wie nah große Ängste und große Sehnsüchte beieinanderliegen, und dass das Eintreten für unsere Bedürfnisse nicht aus dem Paradies hinaus-, sondern eher hineinführt.
Allerdings bezieht sich die Angst vor Scham bei weitem nicht nur auf Sexualität im engeren Sinn, wenngleich die Psychoanalyse dort ihren Ursprung verortet. Manch einer fühlt sich schon richtig nackt ohne Krawatte, manch eine genauso nackt, wenn sie ungeschminkt das Haus verlässt. Wie viel größer ist erst die Angst, gegen moralische Normen zu verstoßen!
Da scheint das Corona-Regime doch sehr nah an der Dystopie von Fromm und Huxley: Zu sagen, was man denkt, fühlt, braucht und sich wünscht, wenn es ziemlich deutlich von dem abweicht, was von der Mehrheitsgesellschaft als wissenschaftlich wahr und moralisch für richtig gehalten wird, das erzeugt massive Angst vor Scham — nackt dazustehen unter all den Angezogenen, also Angepassten, oder aktiv von Faktenfüchsen entblößt zu werden: „Schäm Dich Du Verschwörungstheoretiker!“ Es ist, psychologisch gesehen, sicher mehr als Zufall, wie häufig in diesem Kontext die vielsagende Frage gestellt wurde: „Mit wem steckst Du unter einer Decke?“
Es kann Angst machen, auf die eigene innere Stimme zu hören, weil wir, zumindest die meisten von uns, irgendwie gerne dazugehören möchten. Ich verstehe heute einen Teil der Wut, die mir als Kritiker der Corona-Maßnahmen wahrhaft entgegenschlug, dass ich es kaum fassen konnte, ich verstehe auch einen Teil der aggressiven Abwertung von Andersdenkenden zu Querdenkern und Verschwörungstheoretikern als einen Ausdruck von Angst auf der anderen Seite. Am Anfang dachte ich, es sei vor allem die Angst vor Corona. Aber es war und ist vermutlich genauso oft die Angst, in die Nähe von Menschen mit abweichenden Meinungen zu kommen. Hoffentlich übertreibe ich, aber es hat mich an spießbürgerliche Exzesse erinnert, wie sie Heinrich Mann in „Der Untertan“ beschreibt.
Für mich selbst und gegen eine übergriffige Gesellschaft eintreten
Wie lässt sich der von der Meinungsindustrie erzeugte Konformismus aufbrechen? Die, die es sich leisten können, und es können sich nicht alle leisten, die müssen standhaft bleiben und sich im privaten und im öffentlichen Raum artikulieren. 68 lässt grüßen, nur sind die Vorzeichen weniger günstig.
Auf die eigene Stimme hören und sie auch artikulieren — wie geht das? Mich hat die hart erarbeitete Erkenntnis von Geneen Roth sehr berührt und zu einer persönlichen Analogie ermutigt. Roth, seit Kindertagen essgestört, hat sich viel damit beschäftigt, wie Betroffene sich von der zwanghaften Essstörung befreien können. Ihre Botschaft klingt zunächst unglaublich:
„Erstens, iss nur, wenn Du hungrig bist. Zweitens, dann iss, worauf Du Lust hast. Drittens, höre auf Deine innere Stimme“ (11).
Selbstverständlich zweifelt bei diesen Worten mein innerer Gesundheitsapostel, und zwar lautstark. Interessant ist, dass sich auch Fromm in seinem Freiheitsbuch mit der Frage, was ist eigentlich gesund und wer legt das fest, befasst hat. Gesund ist eben angepasst. Von der Theorie zur Praxis könnte man mit Blick auf Roth sagen: In ihren „Breaking-Free-Workshops“ hat sie gezeigt und gelehrt, wie wir uns von falschen gesellschaftlichen Anpassungsidealen lösen können und müssen — mit der wiederholten bitteren Erkenntnis: Leider geht das nicht ein für alle Mal, sondern muss immer wieder neu erarbeitet werden.
Breaking Free, das habe ich mir analog so übersetzt: „Erstens, sag Nein, wenn Du Nein meinst. Zweitens, stehe für Deine Gedanken, Bedürfnisse und Wünsche ein. Drittens, Du darfst Deiner inneren Stimme vertrauen.“
Die Forderung nach wahrerer Selbstliebe, nach Authentizität in Beziehungen, Familien und Gesellschaften, die so viel „unter den Teppich“ kehrten, hat um 1968 herum nicht zuletzt auch die Psychotherapie und das Verständnis einer Kunst des Lebens revolutioniert. Die große Familientherapeutin Virginia Satir stellte ins Zentrum ihrer Schrift „Mein Weg zu Dir“ die Lehre von den fünf Freiheiten: dass wir zu dem stehen, was wir wirklich fühlen, denken und brauchen, statt zu sagen, was andere vermeintlich hören wollen, und, gewissermaßen als Krönung, dass wir „in eigener Verantwortung Risiken eingehen“ (12). Das ist maximal liberal — und doch maximal sozial gemeint: Wenn ich meine Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse ernst nehme und vertrete, werden mir auch deine in gewissem Sinn „heilig“. Wenn ich sensibel gegen Übergriffigkeit bei mir bin, werde ich auch Dich verstehen, wenn Du Deine Grenzen wahren willst.
Es bedeutet für mich noch nicht Breaking Free, wenn ich mit dem Finger auf die gegenwärtige Kampagne der Herrschenden zeige und sage: „Eigentlich sind die doch nackt!“ Da ich zu einer offenbar randständigen Minderheit bekennender Ungeimpfter zähle, finde ich es authentischer und auch vielversprechender zu sagen:
„Es stimmt nicht, was von oben erzählt wird und was wir tun sollen, und ich mache da nicht mit, auch wenn ich nackt erscheine.“
Die Scham ist damit nicht vorbei, aber ich identifiziere mich auch nicht mit ihr. Ich respektiere das Votum der Mehrheit an der Wahlurne, im Impfzentrum oder wo auch immer, ich respektiere die Gefühle und Bedürfnisse derer, die vor Corona oder auch vor Normabweichung Angst haben, auch derer, die sich gutgläubig für die Impfkampagne engagieren. Und ich werde weiter jene, die diese Ängste und guten Absichten instrumentalisieren, Lügner und Täter — und den Missbrauch beim Namen — nennen.
Befreiung beginnt, wenn wir zu uns stehen oder es zumindest versuchen, das können wir von 1968 lernen. Solche Befreiung ist kein Weg in den Egoismus! „Egoismus ist nicht identisch mit Selbstliebe, sondern ist das Gegenteil davon“, schrieb Erich Fromm. Wahre Selbstliebe und wahrer Individualismus überwinden den Zwang zur Anpassung durch Spontaneität und gelebtes Interesse am Andern und an der Menschheit, mit einem Wort: durch Liebe (13). Vielleicht haben auch wir noch einen höheren Zweck als „nur“ die Freiheit der Impfentscheidung zu verteidigen: etwas beizutragen gegen eine übergriffige Gesellschaft.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Erich Fromm, The Fear of Freedom (1942), Routledge Classics, Abingdon 2001, hier unter anderem S. 208. Das Buch gibt es natürlich auch auf Deutsch: Die Frucht vor der Freiheit, verschiedene Ausgaben.
(2) Susanne Knaul, Peitsche statt Zuckerbrot: Noch immer sind 30 Prozent der Erwachsenen nicht gegen Covid-19 geimpft. Dabei könnten wir längst viel weiter sein. Wo Aufklärung ins Leere läuft, braucht es Druck, taz, 3. September 2021: https://taz.de/Stagnierende-Impfquote-in-Deutschland/!5794355/
(3) Es wird keine Herdenimmunität geben, Interview mit Virologe Hendrick Streeck, Main-Post, 1. Oktober 2021. Streeck bezeichnet sich in diesem Interview als „Impffan“ und schätzt, dass bei den über 18-Jährigen nur noch 20 Prozent ungeimpft seien, und es sich davon sogar zur Hälfte um Genesene handelt. Da die Impfung vor allem Eigenschutz bedeute, sollte sich die weitere Impfkampagne auf die noch nicht geimpften über 60-Jährigen konzentrieren.
(4) Ich empfehle das aktuelle Video von Dr. Steffen Rabe zum Mythos der Herdenimmunität: https://impf-info.de/82-coronoia/314-coronoia.html
(5) Stefan Weinmann, Die Vermessung der Psychiatrie. Täuschung und Selbsttäuschung eines Fachgebiets, Psychiatrie-Verlag, Köln 2019. Den Begriff „Missbrauch“ verwendet Weinmann m.W. selbst nicht, möglicherweise um die Diskussion rationaler zu gestalten.
(6) Peter C. Gøtzsche, Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität. Wie die Pharmaindustrie das Gesundheitswesen korrumpiert, riva, 2. Aufl. München 2020
(7) Norbert Häring, Solidaritätsaufruf: Wozu haben wir uns impfen lassen, wenn wir weiter Angst vor Ungeimpften haben sollen? Nachdenkseiten, 9. September 2021, https://www.nachdenkseiten.de/?p=75884
(8) https://www.individuelle-impfentscheidung.de/
(9) Daniel Hell, Lob der Scham. Nur wer sich achtet, kann sich schämen, Herder, Freiburg 2019
(10) Siehe kritisch zu Scham und Manipulation sowie zur Befreiung davon: Brené Brown, Die Gaben der Unvollkommenheit. Las los, was Du glaubst, sein zu müssen und umarme, was Du bist, jkamphausen, Bielefeld 2015
(11) Geneen Roth, Essen als Ersatz. Wie man den Teufelskreis durchbricht (1984), Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2005. Hinweis: Es handelt sich hier nicht um ein wörtliches Zitat, obwohl es ähnliche Sätze im Buch gibt, sondern um eine Zusammenziehung der Kernbotschaften.
(12) Virginia Satir, Mein Weg zu Dir. Kontakt finden und vertrauen gewinnen (1976), Kösel, München 2019, hier S. 27: „Die fünf Freiheiten“.
(13) a.a.O., S.222ff