Trotz aller modernen Errungenschaften sind viele Menschen, auch in Industriestaaten wie Deutschland, noch immer auf der Suche nach Frieden: Lebensratgeber, die „inneren Frieden“ und ein glückliches, friedlich-selbstbestimmtes Leben versprechen, erfreuen sich enormer Beliebtheit. Doch wie kann das sein, wo doch mittlerweile jedem von uns so viele Freiräume in der privaten Lebensgestaltung und Möglichkeiten der Selbstentfaltung offen stehen?
Stimmt die Aussage zu den Freiräumen und zur Selbstentfaltung denn wirklich so? Sind wir so frei, wie wir glauben? Dürfen wir uns tatsächlich frei entfalten!? Beim Zweifel an dieser (so leicht zu unterschreibenden) These setzt die Gesprächsrunde um Moderator Jens Lehrich, Traumatherapeutin Birgit Assel, Philosoph Bertrand Stern und Lehrerin L. Göcking an.
Wer darf „nein“ sagen?
Was ist, wenn ein Mensch „nein!“ sagt zu Schule, sich mit Händen und Füßen wehrt, weinend vor der Tür steht und nicht hinein möchte ins Klassenzimmer — aus welchen Gründen auch immer? So wie junge Menschen verpflichtet sind zur Teilnahme am Unterricht, so sind Lehrerinnen und Lehrer verpflichtet, den „Abtrünnigen“ irgendwie zum Schulbesuch zu bewegen.
Das heißt, vor allem jungen Menschen in unserer Gesellschaft steht offenbar nicht die Freiheit zu, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es möchten.
Strukturelle Zwänge
Dass tatsächlich die meisten Menschen diesen Zwang als etwas Gutes, Nützliches, ja sogar Förderliches ansehen, gehört dazu, wenn wir von struktureller Gewalt reden: Den Betroffenen ist ihre Gegenwart nicht bewusst, da sie als „Norm der Normalität“, so Stern, in den Köpfen fest verankert ist.
Und dann sei es eben auch normal, die Schulpflicht als gut, richtig und unabdingbar zu betrachten — auch wenn sie Zwang ist; auch wenn sie einige junge Menschen schwer belastet. Solange keine Alternative verfügbar ist, hat Widerstand wenig Sinn.
Angefangen bei U-Untersuchungen und Kita-Entwicklungsberichten bis hin zu zeitlich und räumlich vorgegebenem Schulunterricht: Wir haben kaum eine Wahl, mitmachen ist Pflicht. Und so kann es sein, dass Empfänger struktureller Gewalt tief in sich ein Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit spüren.
Die Mittel, die zur Verfügung stünden, sich zu wehren, werden kriminalisiert oder als unangebracht, unangemessen oder sogar „krank“ erklärt, sodass ein Ausweg schwer bis unmöglich erscheint. Tatsächlich wollen diesen Ausstieg aber auch die wenigsten, allein der Gedanke daran macht ihnen Angst.
Angst versus Vertrauen
Da ist zum Beispiel die Angst der Eltern, deren Kinder „nein“ zu Schule sagen — wie soll das gehen? Das geht doch nicht! „Die eigene Angst nicht zu übertragen auf die Kinder“, empfiehlt Birgit Assel. Denn Kinder wissen häufig noch recht klar, was sie wollen und was nicht — im Gegensatz zu uns Erwachsenen, die wir mitunter schon in unser Willensfähigkeit eingeschränkt wurden.
„Ich muss mich fügen, der Ausübende hat sicher Recht — nicht ich“, sind tief verinnerlichte Sätze. Hinzu kommt der überzeugte Glaube derjenigen, die die Gewalt ausüben: „Ich meine es ja nur gut mit dir, ich will doch nur dein Bestes!“
Doch warum wird strukturelle Gewalt einfach so hingenommen? Meist sind sich weder diejenigen, die daran beteiligt sind, sie auszuüben, noch diejenigen, die sie erleiden, ihrer bewusst.
Die Art der Einschränkung ist subtil und anonym — keiner kann dafür verantwortlich gemacht werden — die Zusammenhänge sind so komplex, dass kaum jemand sie durchblickt oder in Frage stellt. Strukturelle Gewalt umgibt uns, und sie funktioniert.
Was jedoch bei all dem auf der Strecke bleibt: Vertrauen in uns Menschen als Subjekte. Echter Frieden.
Kranke Menschen oder krankes System?
Die Einwirkung von Gewalt — gerade über einen längeren Zeitraum — schadet uns und unserer Psyche nachhaltig. „Sie traumatisiert uns“, so Birgit Assel.
Wenn unser eigenes Urteil und Gefühl immer wieder kollidiert mit den Anforderungen der Umgebung, dann entwickeln wir Symptome. Doch erst wenn kein Arzt und kein Psychiater mehr helfen könne, kämen die Menschen auf die Idee, dass vielleicht gar nicht sie selbst krank sind, sondern das System, in dem sie leben oder aufgewachsen sind.
„Alle machen das so, dann muss das so sein, das ist die Norm. Ich muss funktionieren.“ Und gerade bei jungen Menschen verwebt sich der Wunsch, „normal“ zu funktionieren, mit dem, dazu gehören zu wollen. Doch was, wenn die Diagnose „Schulangst“ oder „Schulphobie“ das „Normalsein“ verhindert?
Als besonders perfide zeigt sich hier: Ein aufgeklärt-demokratischer Staat, in dem Menschen das Ausüben von Gewalt untersagt ist, der jedoch selbst verdeckte, nicht greifbare Gewalt ausübt. Und jungen Menschen wird das Recht abgesprochen, sich gegen diese Gewalt — den Zugriff des Staates auf sie selbst — zur Wehr zu setzen, so Stern.
Konkret gefragt
Würden viele SuS durchs Raster fallen, wenn die Schulpflicht gelockert würde? Fakt ist, dass schon heute sehr viele junge Menschen unbemerkt durchs „Raster“ fallen, doch (noch) gibt es öffentliche Stellen, die sie auffangen und alternativ beschulen — wie in Hamburg einige sogenannte Bildungs- und Beratungszentren.
„Die, die nein sagen, sind ganz besonders menschlich und gesund“, sagt Bertrand Stern.
Warum dürfen Beamte eigentlich nicht „nein“ sagen und als Zeichen ihres Protestes streiken? Warum wird es Schülerinnen und Schülern negativ im Zeugnis vermerkt, wenn sie „nein“ sagen zum Unterricht und stattdessen für besseren Umweltschutz auf die Straße gehen?
Um diese Fragen dreht sich die konstruktiv lebendige Gesprächsrunde, moderiert von Jens Lehrich, in der offenbar wird, wie die strukturelle Gewalt das Leben vieler Menschen unsichtbar dominiert und in welchen Facetten sie unsere Gesellschaft im Zaum hält.